Ein Gespräch mit Leonhard Hieronymi
von Kay Wolfinger
schauinsblau: Wie würdest Du die Entwicklung Deines bisherigen literarischen Werkes und Deines Werdegangs beschreiben?
Hieronymi: Ich will mich gedanklich meist nicht lange mit einem abgeschlossenen Text aufhalten. Deshalb fällt es mir schwer, einen Überblick zu behalten, geschweige denn eine Entwicklung zu sehen. Ich habe neulich über 30 Exemplare meines Romans In zwangloser Gesellschaft bei Medimops gekauft, damit man sie dort, wenn demnächst das Taschenbuch für 12€ erscheint, nicht für 3,98€ gebraucht kaufen kann. Und jetzt habe ich sie hier liegen und werde wahnsinnig, weil ich das Cover und mein Gesicht hinten im Buch nicht mehr sehen kann! Deshalb höhle ich sie mit einem Teppichmesser aus, baue den Text zu einem Geheimfach um und lege Substanzen hinein und schicke das Freunden als BüWa. (Das ständige AUSWEICHEN, wie man bei der Beantwortung dieser Frage sieht, zieht sich allerdings auch durch meine Texte. Aufgreifen JA, aber nicht fortführen. Es ist alles sehr sprunghaft und muss schnell geschehen. Geschwindigkeit ist ein weiteres Stichwort.)
Trotz der Wiederholung der Themen Geschwindigkeit, Ekstase, Science-Fiction und so weiter, kann ich keine Poetik formulieren. Und vielleicht ist das auch vermessen, wenn man es selbst macht. Obwohl mein „Werdegang” auch aus dem Akademischen heraus zu sehen ist. Ich habe Komparatistik und Theaterwissenschaft in Mainz studiert und an der Humboldt-Universität Deutsche Literatur. Ich brauche noch immer Zeit, um den akademischen Ton abzulegen, was wichtig ist, wenn man wenigstens ein paar Bücher verkaufen möchte. Ich war lange so etwas wie ein Uni-Prosaist, schätze ich.
schauinsblau: Wie bist Du auf die Idee der Ultraromantik gekommen? Wie würdest Du die bisherige Rezeption des Buches beschreiben? Es gab ja damals schon einige Aufmerksamkeit im Feuilleton…
Hieronymi: Die Ultraromantik hatten niemals die Faschisten oder Ernst Jünger oder Byung-Chul Han im Sinn, sondern hat sich vor allem (neben der Akzeleration) an der Minnesota Declaration (Truth and fact in documentary cinema) von Werner Herzog orientiert. Sie ist quasi eine Fort- und Umschreibung oder literarische Umdeutung dieses Herzog-Textes und will ja eine noch zu schreibende deutschsprachige Literatur initiieren. Lieblingsprodukt der Ultraromantiker ist jedenfalls eher Speed Racer als In Stahlgewittern. Eigentlich ziemlich logisch.
Wie ich auf die Idee kam, die Mischung aus dem Romantischen mit der Science-Fiction als Regel zu definieren, kann ich nicht mehr genau sagen. Ich habe das Buch in Berlin geschrieben, kurz nach meinem Master-Abschluss bei Ernst Osterkamp über Eckhard Henscheid, einer Arbeit wie ein „Kamikazeflug“ (Osterkamp). Ich musste unbedingt etwas veröffentlichen und habe das Manifest der Ultraromantik unter dem Pseudonym Jakob Fries an die Redaktion der Zeitschrift Metamorphosen geschickt. Als sie es nehmen wollten, habe ich schnell gesagt, dass ich mir mit Jakob Fries einen Scherz erlaubt habe, schließlich war das eine meiner ersten Veröffentlichungen.
schauinsblau: Hast Du den Eindruck, dass die Gegenwartsliteratur national oder international eine Tendenz hat, auf neue Art und Weise unheimlich oder “weird” zu werden? Arbeiten Autor*innen bewusst daran, Interpretation zu verdunkeln oder undeutbar und mysteriös zu werden?
Hieronymi: So etwas würde ich niemandem unterstellen. Andere zu verwirren ist leicht. Und wenn jemand bewusst versucht, Interpretationen zu verdunkeln oder den Text undeutbar oder mysteriös zu machen, dann kann es sich bei dem zu interpretierenden Produkt meiner Meinung nach um kein bedeutendes/lustiges/schönes/wahres handeln, dann ist es nur etwas, das da ist, ohne Attribute. Dass ich jetzt ein Buch darüber geschrieben habe, wie ich mit einem Freund 91 Pinocchio-Eisbecher in 9 Tagen in allen sechzehn Bundesländern gegessen habe, das mag der Kritik nach meinen Versuchen eine neue literarische Form zu finden (und dem anschließenden Friedhofsroman) undeutbar und verwirrend erscheinen, aber letztlich mache ich Bücher über Themen, die mich interessieren.
Dass aber Literatur damit beginnt (unfreiwillig und nicht berechnend) düster, komisch, mysteriös und undeutbar zu werden, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Ich sehe gerade die Sehnsucht nach seltsamer oder unheimlicher Literatur, vielleicht sogar nach UTOPIEN, aber weniger den Mut der Verlage, so etwas zu veröffentlichen. Meine letzten zwei Romane wurden von Verlagen abgelehnt. Eben mit der Begründung, sie seien zu weird. Es geht darin um Männerunterhosensammlungen, Geister von Baseballspielern und Edward Gorey. Und viele scheint ähnliches zu interessieren. Solche Texte kommen ja nicht von ungefähr.
schauinsblau: Dein erster veröffentlichter Roman heißt In zwangloser Gesellschaft. Kannst Du uns zu seiner Entstehung etwas sagen? Dieses Erzählprojekt würde sich auch anbieten, fortgesetzt zu werden, multimedial mit Photos und Videos.
Hieronymi: Ich wollte für den Korbinian Verlag einen Band darüber machen, wie ich einhundert Schriftsteller*innengräber in ganz Europa besuche. Es sollten erst literarische Reportagen werden oder literarische Sachtexte. Aber dann hat Hoffmann und Campe den Text gekauft und gemeinsam haben wir uns dazu entschieden, dass die Bezeichnung ‚Roman‘ darunter stehen sollte. Nicht um zu verwirren, sondern aus vertriebstechnischen Gründen. Nicht jedes Wort in diesem Buch ist wahr, aber die Dinge, die man nicht glaubt (zum Beispiel, wie mir Hermann Hesses Enkel zulächelt, während sich neben uns zwei Hunde paaren und ein Esel versucht, Salat vom angrenzenden Buffet zu klauen), solche Dinge sind wirklich passiert. Und ich habe wirklich schon an eine Fortsetzung gedacht. Dasselbe vielleicht mit Grabstätten von Rappern in Nordamerika. Am Cover jedenfalls, das an das Cover der Ultraromantik angelehnt ist, sieht man, dass ich versucht habe, das Konzept der Ultraromantik zwar nicht 1:1 zu dekonstruieren, aber einen Spielraum zu eröffnen.
schauinsblau: Gibt es die Rich Kids of Literature noch? Was ist ihre Aufgabe und was waren ihre bisherigen Projekte.
Hieronymi: Nein, wir haben uns als Gruppe während der Pandemie aufgelöst. Im Prinzip hat es sich bei RKOL nur um einen Namen gehandelt, den wir in der Öffentlichkeit benutzt haben. Seltsamerweise steckt dahinter eigentlich NICHTS. Wir haben Lesungen in Berlin veranstaltet, aber nur ein Dutzend. Und 177 Bilder bei Instagram hochgeladen. Für so etwas sind wir ins Fernsehen gekommen! (Im Fernsehen waren wir ziemlich dämlich.) Jedenfalls ist es falsch, dass der Korbinian Verlag oder die Zeitschrift Das Wetter oder das Buch Ultraromantik aus dem Kollektiv hervorgegangen sind. Es war nämlich genau umgekehrt, Schreiben und Verlegen gab es schon vor dem Zusammenschluss der Gruppe. Die Gruppe war nicht wichtig, und hat doch am meisten verwirrt. Was bedeutet es, dass ein Name so gewichtig erscheint, obwohl nichts dahintersteckt? Ich weiß es nicht.
schauinsblau: Was sind Deine primären Einflüsse und literarischen “Hausgötter”, wie man so unpassend sagt?
Hieronymi: Ich kann nicht viel mit der Art und Weise anfangen, wie Houellebecq mit seinen Figuren umgeht. Ironie ist für mich keine große Gefahr, Zynismus und Aufgeben schon. Ich sehe zwar auch nicht sonderlich viel Hoffnung für unsere Spezies, ich verachte sie bisweilen, aber mich widert konstruierte Kälte ihr gegenüber in der Literatur an. Und was mich im Gegensatz dazu besonders fasziniert ist deshalb Wärme. Aktuell oder noch immer sind meine Lieblingsbücher- und Autor*innen: Der geteilte Visconte (Italo Calvino); The Water Method Man (John Irving); Meine Reise mit Charley (John Steinbeck); die Geschichten von Tove Janson; die Bilderbücher von Edward Gorey; die Tennis-Essays von David Foster Wallace; Der Herr der Ringe; Cat’s Craddle von Vonnegut; Das Buch der Lieder (Heine); ich bin noch nicht soweit, aber ich glaube: Die Geschichte vom Prinzen Genji von Murasaki Shikibus; Romane aus der Kokainphase von Stephen King; Pinocchiovon Carlo Collodi; Der Leopard; Moby Dick; Die Glasglocke; Die Verschwörung der Idioten; die Romane von Dorothee Elmiger; Winesburg, Ohio (Sherwood Anderson); Reise im Mondlicht (Antal Szerb); alles von F. K Waechter.
schauinsblau: Woran arbeitest Du gerade oder kannst Du verraten, was für die Zukunft geplant ist?
Hieronymi: Gerade habe ich mit meinem alten Schulfreund Christian Metzler das Buch MOSTRO – Pinocchio-Eis in Deutschland beendet. Wir sind Ende Juni bis Anfang Juli neun Tage lang durch alle sechzehn Bundesländer gefahren, wir waren in 130 Eisdielen und haben 91 Pinocchio-Eisbecher gegessen. (Diese eigentlich für Kinder gedachte Formation aus Eiskugeln, Smarties und Schokoladensoße, die an Pinocchio denken lassen soll). Daraus ist jetzt ein Bildband geworden. Und warum wir das unbedingt machen mussten und was dabei passierte, das erklären diverse Texte im Buch.
Für das nächste Jahr plane ich ein Buch über Amokläufe, Techno (im Speziellen Trance) in Frankfurt und das Sterben des Nadelwalds. Außerdem beginne ich mit einem Roman, in dem alles ohne Wertung und Moral passiert, mehr weiß ich selbst nicht. Nur so viel, dass es um handwerkliche Arbeit gehen wird.
schauinsblau: Ist die Entscheidung, sein Leben mit Literatur zu verbringen, ein Glück oder in Wahrheit ein Verhängnis?
Hieronymi: Es kommt wahrscheinlich darauf an, wie man sie mit Literatur verbringt. Ich finde alle Extreme schwierig: also das Schreiben, Forschen und Kritisieren. Einzig und allein das Lesen (ohne dabei an Arbeit (schreiben, forschen, kritisieren) denken zu müssen) ist angenehm.
Leonhard Hieronymi ist Schriftsteller und war Mitglied des Literaturkollektivs Rich Kids of Literature. Bekannt wurde er mit seinem Manifest Ultraromantik (2017) und seinem Roman In zwangsloser Gesellschaft (2020); er nahm 2020 am Ingeborg-Bachmann-Preis teil.