#2 The Overstory von Richard Powers

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Eine Leseempfehlung von Hubert Zapf

 

Der Roman von Powers ist ein hoch­gra­dig expe­ri­men­tel­ler Text, der zugleich emi­nent les­bar ist. Er ver­bin­det sprach­lich-ästhe­ti­sche Vir­tuo­si­tät mit umwelt­po­li­ti­schem Enga­ge­ment. Aus mul­ti­plen Per­spek­ti­ven erzählt er über ver­schie­de­ne Gene­ra­tio­nen hin­weg die Geschich­te der Bezie­hung von Men­schen und Bäu­men als Geschich­te einer über­le­bens­wich­ti­gen Mensch-Natur-Sym­bio­se, die durch die Ent­wick­lun­gen des Anthro­po­zäns radi­kal aus dem Lot gebracht ist. Per­sön­li­che, fami­liä­re, gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Erfah­run­gen wer­den eng mit dem zeit­ge­nös­si­schen Umwelt­dis­kurs ver­wo­ben. Dabei wird der neu­es­te Stand natur­wis­sen­schaft­li­chen Umwelt­wis­sens mit Fra­gen der Phi­lo­so­phie, Reli­gi­on, Kul­tur­ge­schich­te, Ethik und Ästhe­tik, aber auch mit der durch­grei­fen­den Digi­ta­li­sie­rung der Gesell­schaft unauf­lös­lich verknüpft. 

     In höchst ein­dring­li­cher Form wird die fort­schrei­ten­de Abhol­zung der noch vor­han­de­nen Res­te ursprüng­li­cher Bewal­dung am Bei­spiel der Red­wood Trees im ame­ri­ka­ni­schen Wes­ten nach­voll­zieh­bar gemacht. Zwi­schen All­tags­exis­tenz und Außen­sei­ter­da­sein, wis­sen­schaft­li­cher Ana­ly­se und bis zur Gewalt gehen­dem Umwelt­ak­ti­vis­mus, per­sön­li­chen Bezie­hun­gen der Men­schen und totem­ar­ti­gen Alter-Ego-Bezie­hun­gen zu Bäu­men bewe­gen sich die neun ver­schie­de­nen Ein­zel­ge­schich­ten, die sich unter der über­grei­fen­den over­sto­ry, wört­lich dem (Blät­ter- oder Nadel-)”Dach” der Erzäh­lung zusam­men­schlie­ßen. Die Struk­tur ist stark dezen­triert und durch zeit­lich-räum­li­che Sprün­ge gekenn­zeich­net, gleich­zei­tig folgt sie aber einem kon­nek­ti­ven Prin­zip, das sich nach dem Mus­ter pflanz­li­cher Auto­poe­sis stän­dig wei­ter ver­zweigt. Das Buch setzt sein The­ma auch ästhe­tisch um, indem der Plot um den sich zusam­men­fin­den­den Wider­stand gegen die kom­mer­zi­el­le Zer­stö­rungs­ma­schi­ne­rie der Wäl­der sei­ner­seits ana­log zum Wachs­tum eines Baums struk­tu­riert ist. Die Buch­ka­pi­tel füh­ren von den Roots (den Wur­zeln) über den Trunk (den Stamm) zur Crown (der Kro­ne) und enden schließ­lich mit den Seeds, den Samen, die das Ein­zel­we­sen – und den Ein­zel­text – in das grö­ße­re Öko­sys­tem der Natur bzw. der Lite­ra­tur zurück­be­zie­hen.  So deu­tet der Roman trotz der eska­lie­ren­den Umwelt­kri­se, die er höchst ein­dring­lich ver­mit­telt, ein rege­ne­ra­ti­ves Poten­ti­al für die Zukunft an, auch wenn es eher eine uto­pi­sche Visi­on bleibt. 

The Over­sto­ry bie­tet damit nicht nur eine groß­ar­ti­ge Lese­er­fah­rung, son­dern ein unge­mein aus­sa­ge­kräf­ti­ges und viel­ge­stal­ti­ges Anschau­ungs­bei­spiel für eine öko­lo­gi­sche Poe­tik der Lite­ra­tur und für die neue, inter­dis­zi­pli­nä­re For­schungs­rich­tung der Envi­ron­men­tal Humanities.