Eine Leseempfehlung von Hubert Zapf
Der Roman von Powers ist ein hochgradig experimenteller Text, der zugleich eminent lesbar ist. Er verbindet sprachlich-ästhetische Virtuosität mit umweltpolitischem Engagement. Aus multiplen Perspektiven erzählt er über verschiedene Generationen hinweg die Geschichte der Beziehung von Menschen und Bäumen als Geschichte einer überlebenswichtigen Mensch-Natur-Symbiose, die durch die Entwicklungen des Anthropozäns radikal aus dem Lot gebracht ist. Persönliche, familiäre, gesellschaftliche und politische Erfahrungen werden eng mit dem zeitgenössischen Umweltdiskurs verwoben. Dabei wird der neueste Stand naturwissenschaftlichen Umweltwissens mit Fragen der Philosophie, Religion, Kulturgeschichte, Ethik und Ästhetik, aber auch mit der durchgreifenden Digitalisierung der Gesellschaft unauflöslich verknüpft.
In höchst eindringlicher Form wird die fortschreitende Abholzung der noch vorhandenen Reste ursprünglicher Bewaldung am Beispiel der Redwood Trees im amerikanischen Westen nachvollziehbar gemacht. Zwischen Alltagsexistenz und Außenseiterdasein, wissenschaftlicher Analyse und bis zur Gewalt gehendem Umweltaktivismus, persönlichen Beziehungen der Menschen und totemartigen Alter-Ego-Beziehungen zu Bäumen bewegen sich die neun verschiedenen Einzelgeschichten, die sich unter der übergreifenden overstory, wörtlich dem (Blätter- oder Nadel-)”Dach” der Erzählung zusammenschließen. Die Struktur ist stark dezentriert und durch zeitlich-räumliche Sprünge gekennzeichnet, gleichzeitig folgt sie aber einem konnektiven Prinzip, das sich nach dem Muster pflanzlicher Autopoesis ständig weiter verzweigt. Das Buch setzt sein Thema auch ästhetisch um, indem der Plot um den sich zusammenfindenden Widerstand gegen die kommerzielle Zerstörungsmaschinerie der Wälder seinerseits analog zum Wachstum eines Baums strukturiert ist. Die Buchkapitel führen von den Roots (den Wurzeln) über den Trunk (den Stamm) zur Crown (der Krone) und enden schließlich mit den Seeds, den Samen, die das Einzelwesen – und den Einzeltext – in das größere Ökosystem der Natur bzw. der Literatur zurückbeziehen. So deutet der Roman trotz der eskalierenden Umweltkrise, die er höchst eindringlich vermittelt, ein regeneratives Potential für die Zukunft an, auch wenn es eher eine utopische Vision bleibt.
The Overstory bietet damit nicht nur eine großartige Leseerfahrung, sondern ein ungemein aussagekräftiges und vielgestaltiges Anschauungsbeispiel für eine ökologische Poetik der Literatur und für die neue, interdisziplinäre Forschungsrichtung der Environmental Humanities.