essay von thomas köck
GEGENWART, f. praesentia, ein vielfach merkwürdiges wort
Grimm’sches Wörterbuch
jetzt haben wir uns schon wieder in so einer zeit verlaufen, von der wir doch eigentlich dachten, dass sie hinter uns liegt, oder nicht? so eine zeit der krisen, der erschöpfung, der ernüchterung, verdammt, das war es doch, dieses himmelhochjauchzende reich der ewigkeit, verdammt, das wir uns ausgedacht hatten, verdammt, für alle zeit. einmal der geschichte entkommen, ihren zwängen, ihren blockstaatlichen diskussionen darüber wie man also so ein zusammenleben gestalten könnte, wie also leben, was also tun?
aber nein, wir befinden uns leider immer noch nach der orgie, einige sind schon länger am aufräumen, andere wollen nur weg, einige wissen nicht mehr, wohin mit ihnen, andere sind verschwunden und irgendwo dahinten wird noch munter debattiert. dabei sah es doch eigentlich mal richtig gut aus da draußen, also für ein paar hier, also für die historischen gewinnersubjekte, denen am ende der blockstaatenlösung plötzlich neue, frische, am boden liegende und frei zur verfügung stehende märkte präsentiert wurden, die krise konnte vertagt werden, verschoben, zehn jahre später dann kam die ernüchterung aber auch nicht so richtig, man wollte einfach weitermachen, das zeug strecken, das irgendwer mitgebracht hatte, so lange wie möglich strecken, damit diese gegenwart, damit dieser rausch einfach kein ende findet, es geht immer noch was, auch wenn die ersten sich übergeben und nach hause torkeln wollen, die nächsten schon paranoid in der ecke sitzen und jede diskussion verweigern, da geht doch immer noch was in dieser gegenwart, die wir jetzt seit geraumer zeit aushalten, diese endlose, erschütternde gegenwart, von der wir gelernt haben, dass sie als einzige daseinsberechtigung sich selbst hat, was braucht so eine zeit sonst auch anderes als sich selbst?
früher da hieß gegenwart vielleicht einmal modernismus oder innovation um eine gesellschaft oder eine kunstform nach vorne zu bringen, zumindest erzählt man sich das so, um einen neuen menschen zu formen, um das alte zu kritisieren, um zu zeigen, wie man es überwinden kann und zu welchem zweck. heute, ein begriff, der sehr schwammig ist, zugegeben, ist die pure innovation um ihrer selbst willen schon die innovation, was interessiert uns noch geschichte, was interessiert uns noch eine andere party, ein neues system, wenn wir gelernt haben, ganz gut hier zu leben, wenn der einzige historische horizont den wir noch haben, ein endloses plateau der ewigen gegenwart ist, in dem der fortschritt nicht mehr gesellschaftlich stattfindet, sondern individuell, first come, first serve, wer zutritt zur party hat kann eben mitfeiern, wer nicht, hat forever pech forever.
was ist wenn die gegenwart alles ist was wir heute haben und was passiert, wenn diese gegenwart sich als hölle präsentiert, die wir selbst ohne historischen fluchtpunkt geschaffen haben? scheiße, was? wir waren das? was ist, wenn diese gegenwart, dieses ding mit den explodierenden mieten, mit den wiederkehrenden nazis, mit den staaten, die man hat scheitern lassen, um die rohstoffe zu bekommen, mit den waldbränden, mit dieser neuen gattung der billionäre, die ganze staaten aufkaufen könnten oder die weltwirtschaft, wenn sie wollten in eine talfahrt sondergleichen schicken könnten — sind wir froh, dass sie aktuell nur raketen bauen und noch keine armeen. was ist wenn diese gegenwart nur mehr noch wachsen soll und darf, sonst nichts? keine veränderung, kein riss, kein bruch, keine zäsur, nur wachstum, friedlich in aller ewigkeit, endloses wachstum, wie das doch auch in der natur so ist, wo alles wächst und gedeiht, endlos wächst aber eigentlich nur der tumor, nur der krebs wächst wie das bruttopartyprodukt exponentiell endlos grenzenlos in alle gegenwart bis er die party sprengt.
man darf aber nicht nur schwarz sehen, auch nicht wenns heute ziemlich verregnet ist nach dieser orgie. man muss sortieren, erstmal fragen: wer hat diese orgie überhaupt gefeiert und wer hat jetzt einen kater? wer ist das subjekt der orgie und wer ist das subjekt mit kater? wer sagt wir und lamentiert vom fehlen einer anderen zeit? die institutionen wurden gestürmt, die kolonialisten wurden vertrieben, und die repräsentationen infrage gestellt. aber es fühlt sich an, als hätte man genau die party schon mal gefeiert, vielleicht kommt das kopfweh auch davon, dass man irgendwie das gefühl hat, die parties klingen doch alle gleich, die plakate sehen alle gleich aus, die leute auf den parties auch und wie immer reden alle vom gleichen hot shit — bevor sie hauptsächlich von sich erzählen, auch eine art hot shit, allerdings nur auf körpertemperatur und die ist jetzt nicht so wahnsinnig hot — zumindest wenn man nüchtern ist, egal.
sind es überhaupt die, die gefeiert haben, die jetzt einen kater haben? man hat ja das gefühl, hier kommen schon alle mit einem kater an, obwohl die doch viel zu jung waren für die party, und jetzt viel zu spät zur tür reinkommen hier und mitmachen wollen, sure, die strengen sich schon sehr an, aber desto länger die party, desto größer die anstrengungen natürlich, um das niveau zu halten. kein wunder, dass schädelweh. da kommen ein paar neue reingeschneit und werden gleich mal zeugen von einer prügelei, aber hey, es ist auch schon spät und es war ziemlich geil hier, vor ein paar jahrzehnten, das hat sich rumgesprochen, das wird auch wieder, big fuckin promise, zumindest sagen sich das einige hier, die aber nicht mehr so genau wissen, woher sie das wissen, also jemand hat das gesagt, dass das eine tolle party gewesen sein muss, irgendwann mal, wem auch immer die wohnung mittlerweile hier gehört, wer auch immer jetzt hier wohnt, wohnt hier eigentlich noch wer oder sind die alle nurmehr noch unterwegs zwischen projekten, mit denen sie ja vor allem sich selbst vorantreiben sonst eher niemanden, gegenwart, seltsamer begriff, eigenartige party, geht da noch was?
irgendwer hat den garten angezündet oder brennt der schon länger, ein paar stehen unten und diskutieren jetzt darüber, ein paar von ihnen lauter, einige andere überlegen, wie sie den brand ins interieur integrieren und ob das sich nicht irgendwie ganz schick macht auch, und ein paar andere stellen in frage, ob das überhaupt flammen sind, also richtige flammen, solche wie früher, wer weiß, nach so einer elendslangen party in dieser endlosen ewigkeit sieht man ja alles mögliche, brennende dornenbüsche, in flammen stehende landschaften oder überhitzte soziale räume und verwechselt das alles schnell mal mit einem grillanzünder und schmeißt noch einen funken rein, während man lässig von der seite zwitschert und sich den nächsten tweet anzündet.
ach die gegenwart, seltsame party, irgendwo zwischen früher und morgen ist da was verloren gegangen, eine richtung vielleicht, wer weiß, vielleicht lags an dem seltsamen zeug, dass da frühmorgens mal gebracht wurde, aber vielleicht gabs das auch einfach nie, dieses morgen, vielleicht kommt das gar nicht mehr, vielleicht sucht das auch niemand mehr, zugegeben es ist auch schwer, wo findet man denn das, so ein morgen, wo soll man denn suchen, wo soll denn das gestern auch sein, das kann ja überall sein, jeder kann davon sprechen, von so einem damals oder einem früher oder einem bald oder einem morgen dann, und einige andere parties gestern waren dann doch ziemlich beschissen und es gibt genug hier, mit denen wir morgen keine fête mehr schmeißen wollen würden.
wahrscheinlich wird das hier noch eine ganze weile so weitergehen, was auch sonst. die gegenwart dauert eben länger heute, sie weiß was sie will, sich selbst, sonst nichts, die will sich verzehren und nicht mehr nach hause gehen, von ihrer eigenen party, und es müssen einfach ständig neue dazu kommen, damit es weiter geht hier, endlos, ein paar haben wieder neue geschichten, die haben sie sich aus den alten gebastelt, die haben sie gestern auch schon so ähnlich aber doch ein bißchen anders erzählt aber ja im prinzip sinds die gleichen geschichten und einer dreht die musik lauter, das geht dann doch, so in der ewigkeit, dass man zumindest den lärm so laut aufdreht, dass man das geschrei nicht mehr hört.
Thomas Köck wurde 1986 in Steyr, Oberösterreich geboren. Er ist durch Musik sozialisiert und studierte Philosophie und Literaturtheorie in Wien und an der Freien Universität Berlin, sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Er arbeitete beim theatercombinat wien, war mit einem Dokumentarfilmprojekt über Beirut zur Berlinale Talents eingeladen, war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, bloggt mit Kolleg*innen auf nazisundgoldmund.net gegen rechts und entwickelt mit Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance konzertante readymades. Für seine Theatertexte wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2018 und 2019 uA mit dem Mülheimer Dramatikerpreis sowie 2021 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden.