von Dorothea Kaiser
Ich weiß, du existierst nicht. Zumindest sagt der Test, dass du nicht existierst. Überzeugt bin ich nicht. Ich wollte dich nicht. Ich habe dich nie gewollt. Und ich will dich auch jetzt nicht. Wie oft habe ich mich sagen hören, wenn ich einmal schwanger werden sollte, dann muss es ein Versehen gewesen sein. Ein Unfall. Du wärest mein Unfall-Baby. Du bist mein Unfall-Baby. An dich zu denken, macht dich real. Selbst wenn du nicht existieren solltest, schwebst du wie ein Beil tagtäglich über meinem Kopf. Wie eine dunkle Wolke. Ein schlechtes Omen. Und du lauerst. Du wartest ab, geduldig, perfide. Du wartest auf deinen Moment, den Moment, in dem du aus meinem Leben dein Leben machst. Wenn mein Atem nicht nur mehr meine, sondern auch deine Existenzgrundlage bildet. Wenn die Erde sich nicht mehr im Takt meines Herzschlags dreht, sondern die Welt ausschließlich verzückt dem Flattern deiner Miniatur-Pumpe lauscht. Ich bin egozentrisch. Das ertrage ich nicht. Dich ertrage ich nicht. Es ist mein Platz in der Welt, um den es hier geht. Ich habe ihn mir hart erkämpft, ich kämpfe jeden Tag dafür – ich kann ihn nicht teilen. Versteh mich nicht falsch. Ich habe Geschwister. Ich weiß, wie man teilt. Aber ich will nicht. Es ist eine Sache, meinen Körper zu teilen. Temporär. Für eine Weile. Für neun Monate. Oder für eine Nacht. Aber verlange nicht von mir, mein Leben zu teilen. Es ist das einzige, was ich wirklich besitze, das einzige von Wert. Ich müsste dankbarer sein. Hätte meine Mutter eben dieses Opfer nicht auf sich gebracht, wäre ich heute nicht hier. Aber das war ihre Entscheidung. Nicht meine. Es ist nicht deine Schuld. Dass es mir schwer fällt, meine Gedanken zu ordnen. Dass ich über dich spotte. Dass ich dich verurteile. Du warst ein Schatten, ein Gedankenkonstrukt, aber jetzt bist du hier, und du machst mir Angst. Ich will dich nicht. Du bist ein Teil von mir. Ob du jetzt bist oder nicht, du gehörst zu mir. Du gehörst mir. Aber ich kann dich nicht kontrollieren. Ich kann nicht einmal die Idee von dir kontrollieren. Du rinnst mir durch die Finger wie Sand. Versuche ich dich abzuschütteln, bleibst du an meinen verschwitzten Händen kleben, versuche ich dich zu greifen, entgleitest und verformst du dich unentwegt. Alles ist anders. Oder bin ich anders? Ich kann sie nicht mehr sehen. Diese Blicke. Du wirst auch nicht mehr jünger. Solltest du nicht langsam über Kinder nachdenken? Du willst doch sicher eine Familie gründen. Wieso meinen alle immer besser zu wissen, was ich will? Das ist doch nur ein mäßig verschleierter Versuch, mir vorzuschreiben, was ich zu wollen habe. Wieso ist euch das so wichtig? Wieso interessiert euch das? Bin ich ein verwundetes Tier, dessen langsam herunter tropfendes Blut die Hyänen anlockt? Die sich auf mich stürzen mit ihren Lebensvorstellungen, ihren Versicherungen und Bausparverträgen? Mit der Kinderkleidung irgendwelcher Großverwandten, deren Namen ich mir nicht einmal merken könnte, wenn ich so tun würde, als würden sie mich interessieren? Sie spüren es. Sie riechen es. Dieses Gefühl der Unbestimmtheit, das mich befallen hat wie eine parasitäre Lebensform. Die schleichende, nagende Gewissheit, dass ich selbst nicht weiß, was ich will. Ich will meine Ruhe. Ich will Selbstbestimmung. Ich will Erfolg. Ich will dich nicht. Ich wollte deinen Vater. Es widerstrebt mir, dieses Wort zu benutzen. Ich weiß ja nicht mal, ob du existierst. Aber allein bei dem Gedanken, den Ausdruck »Erzeuger« zu verwenden, wird mir schlecht. So war es nicht. Wir waren nicht darauf bedacht, bewusst etwas zu erschaffen. Du schwebtest nicht in unseren Köpfen wie eine Idee, die wir unbedingt aus dem Reich der Phantasie in die Realität verfrachten wollten. Wir haben nicht an dich gedacht. Du warst einfach nicht da. Es hat dich nicht gegeben. Da war er. Da war ich. Da war kein Platz für dich. Kein Millimeter. Nicht einmal der Ansatz eines Hauches von Platz. Und wenn, dann hätte ich ihn für mich beansprucht. Den Platz und den Mann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es ist, jemanden zu finden, den du mögen kannst, der dir das Gefühl gibt, er würde dich auch mögen. Ein bisschen zumindest. Ich spreche nicht von Vertrauen. Vertrauen und Sympathie sind zwei völlig verschiedene Sachen. Du bist mir nicht unsympathisch. Seien wir ehrlich, ich kenne dich ja noch nicht einmal, und so oberflächlich bin ich auch nicht, dass ich von vorneherein sagen könnte oder würde, »ich mag dich nicht«. Vielleicht mag ich dich ja. Du bist ein Teil von mir, und es hat ein paar Jahre gedauert, aber schließlich habe ich es doch geschafft, mit mir selbst zu leben, mit mir selbst auszukommen, mich selbst zu respektieren. Die meiste Zeit jedenfalls. Vielleicht könnte ich es sogar schaffen, mit dir zu leben, mit dir auszukommen, dich zu respektieren. Aber ich will nicht. Ich setze mein Vertrauen nicht in eine tickende Zeitbombe. Nein, Zeitbombe ist der falsche Ausdruck. Eher Zeitfresser. Ein manischer Zeitfresser, der darauf aus ist, sich von dem undurchsichtigen Kontingent, das mir an Zeit auf diesem Planeten gegeben ist, zu ernähren. Ich habe so viel vor. Ich habe Träume, Ziele, Wünsche. Die kann ich dir nicht anvertrauen. Du würdest sie zerquetschen, mit deinen kleinen, wabbeligen Fingerchen. Du würdest sie zerquetschen und es nicht einmal bemerken. Vielleicht mag ich dich. Vielleicht mag ich dich sogar sehr. Aber vertrauen tue ich dir nicht. Ich weiß, ja, ich weiß, wenn ich dir einen Finger anbiete, wirst du mein ganzes ICH beanspruchen. Es liegt in deiner Natur. Es ist ein einprogrammiertes Wissen, sorgfältig in den Genen verpackt, mit denen ich dich ausstatten würde. Du kannst mir nichts vormachen. Ich spüre deinen vorwurfsvollen Blick. Du verurteilst mich. So wie mich die ganze Menschheit für meine Gedanken verurteilen würde. Manchmal weiß ich nicht, ob mein Schädel dazu da ist, mich vor den Gedanken meiner Mitmenschen zu beschützen, oder eher andersherum. Ich fühle mich sicher in meinem Kopf. Mein Bewusstsein ist meine Spielwiese. Natürlich, in meinem Unterbewusstsein traue nicht einmal ich mich ohne Taschenlampe herumzuspazieren, aber trotzdem gehört es mir. Und was auch immer für schauerliche Gestalten, Ideen und Abgründe dort in den zwielichtigen Schatten darauf warten, dass mein Bewusstsein müde wird, weiß ich letztendlich doch, dass sie mir nichts tun werden. Ich bin ihre Mutter… Die Ironie an dieser Stelle entgeht mir nicht. Und dir sicher auch nicht. Du bist nicht dumm. Im Gegenteil. Du hast mich durchschaut. Du lässt mich im Zweifel darüber, ob du dich in meinem Körper eingenistet hast. Du hast abgewartet, bis meine Gedanken zerstreut waren, überall in meinem Körper verteilt, wie eine kopflose Armee kleiner Zinnsoldaten, die ohne den richtigen Befehl, ohne irgendeinen Befehl, nur verwirrt umherirren kann. Sie rauschen durch meine Venen, sie rasseln in meinem Atem, aber sie finden den Weg zurück in ihr Hoheitsgebiet nicht. Du hast gewartet, bis mein Schutzschild heruntergefahren war. Und dann hast du dich in meinen Kopf geschlichen. Hier bist du. Wir stehen uns gegenüber. Wir sind ebenbürtig. Und ich kann dich nicht dafür hassen, denn du bist hier. Du bist in meinem Kopf. Und ich kann dich nicht hassen, denn du bist Teil meines Kopfes, du bist in meinem Kopf entstanden. Wenn ich anfange, einen Teil meiner Gedanken zu hassen, wo höre ich auf? Du bist klug. Du bist so viel klüger als ich. Du hast mich in deiner Gewalt. Und du weißt es. Du kannst dir das Schweigen erlauben, du brauchst keine Worte. Ich spreche für uns beide. Oder spreche ich nur für dich? Wo höre ich auf, wo fängst du an? Habe ich überhaupt eine Wahl? Existierst du, weil ich existiere? Unabhängig davon, ob in mir zwei Herzen schlagen, oder ob wir uns eines teilen? Du bist brillant. Du lässt mich zweifeln, wo der Zweifel am gefährlichsten ist. Wo ist die Einfachheit hin? Alles ist anders. Nein. Ich bin anders. Du veränderst mich. Du sitzt in meinem Kopf. Auf einem dunkelblauen Teppichboden. Um dich herum stapeln sich metallene Aktenschränke in schwindelnde Höhen. Du reckst den Kopf nach oben, aber du kannst die Decke nicht ausmachen. Da ist eine große, wabernde Wolke. Sie ist dunkel, fast schon bedrohlich, aber manchmal züngelt der ein oder andere Gedankenblitz durch die dicken Schwaden und lässt ein Meer aus Schatten durch den Raum tanzen. Es ist schön. Es ist besonders. Es ist meins. Etwas explodiert über deinem Kopf, und bunter Staub rieselt herab. Er funkelt und er kitzelt in deiner Nase. Die Wolke macht Geräusche. Sie singt oder sie summt. Sie spricht. Sie denkt. Sie pulsiert. Wenn ich traurig bin, weint sie. Dicke Tränen tropfen aus dem unförmigen Gebilde, kullern bedächtig an den metallenen Aktenschränken herab. Eine kleine Ewigkeit lang. Wir beobachten ihren Weg. Du und ich. Sie folgen einem vorgezeichneten Pfad, einem Pfad der sich in die Schränke hineingebrannt hat. Dem Pfad ihrer Vorgänger. Die Tränen versickern im dunkelblauen Teppichboden. Sie wimmern und verschwinden. Und plötzlich wird dir klar, warum der Teppich blau ist. Es waren blaue Tränen, die ihn gefärbt haben. Mit deiner kleinen Hand fährst du über den Boden. Aber er ist trocken. Fast schon warm. Ich spüre deine Skepsis. Es ist mir egal, ob es dir hier gefällt oder nicht. Es ist mein Kopf. Du magst dich hineingeschlichen haben, aber er gehört immer noch mir. Ich werde ja auch nicht an der Einrichtung deines Kopfes herummeckern. Also spar dir deine nonverbalen Kommentare. Ich würde ja auch nicht an der Einrichtung deines Kopfes herummeckern. Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du ja gehen. Aber du bleibst. Du machst es dir gemütlich. In deinen Augen sehe ich, dass du dir bereits einen Schrank ausgesucht hast. Könntest du schreiben, du hättest deine Akte längst verfasst. Ich blicke in deine Augen und ich sehe meine Augen. Ich habe Angst. Ich bitte dich zu gehen. Aber es gibt keinen Ausgang. Keinen Ausweg. Das weiß ich, das weißt du. Ich wage es nicht, dich in mein Unterbewusstsein zu verbannen. Zu all den schauerlichen Gestalten, Ideen und Abgründen, die dort in den zwielichtigen Schatten lauern. Ich kann dich nicht mit ihnen alleine lassen. Du würdest ihnen Angst machen. So wie du mir Angst machst. Wo bin ich? Du verbrauchst so viel Platz, so viel Energie, so viel Kapazität. Und du bist nur ein Gedanke von vielen. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann mich nicht aufgeben. Warum zwingst du mich? Warum versuchst du, mich zu zwingen? Diese Welt ist nicht, was du denkst. Es ist nicht deine Welt, es ist eine Welt. Eine Welt, die dich hin und her schubst, an dir zerrt, dich Dinge glauben macht, dich Dinge hoffen lässt, nur um Hoffnung und Glauben im nächsten Moment zu zerschmettern. Willst du das? Ist es dir das wert? Ich liebe das Leben. Ich liebe mein Leben. Jetzt. Ich könnte dich lieben. Ich habe deinen Vater, nein, ich habe diesen Mann gemocht. Aber dich könnte ich lieben. Aber mein Leben? Wenn ich dich liebe, kann ich dann mein Leben noch lieben? Kann ich dann mich noch lieben? Das Herz ist kleiner, als wir es uns einreden. Und dass Multitasking rein logisch betrachtet nicht funktionieren kann, sollte mittlerweile jedem klar sein. Du bist hier. Du bist immer noch hier. Du hältst dich fest, du klammerst dich fest. Und du buhlst nicht um meine Zuneigung. Du bist erstaunlich. Du bist hartnäckig. Du bist ich und irgendwie nicht. Du bist anders. Du bist ein Unfall. Und ich weiß immer noch nicht, ob du überhaupt existierst. Ich will dich nicht. Ich will, dass ich dich nicht will. Ich will Veränderung, ich brauche Veränderung, ich lebe durch Veränderung, aber ich will diese nicht. Ich weiß nicht, ob ich mit dieser leben kann. Ob ich mit dir leben kann. Ob du mit mir leben kannst. Was ist, wenn du mich nicht magst? Wenn du nicht mit mir auskommst? Wenn du mich nicht respektierst? Ich mache mir Angst. Wo bin ich? Das bin nicht ich. Hast du mich verdrängt? Oder verändert? Und wenn ja, warum? Ich war glücklich. Ich konnte glücklich sein. Ich kann glücklich sein. Etwas explodiert. Du machst mir Angst. Man sagt, Kinder seien die Hoffnung. Warum machst du mir Angst? Woher kommst du? Du bist ich. Bin ich die Angst? Du warst immer da, aber jetzt bist du hier. Wir sind anders. Wir sind ein wir. Und du bleibst. Ob in meinem Kopf oder in meinem Körper. Du bleibst. Und ich drehe die Kassette um und drücke auf play.
Dorothea Kaiser, 1991 in dem weitestgehend unbekannten Städtchen Minden geboren, studiert Theater- und Medienwissenschaften und Amerikanistik in Erlangen, arbeitet nebenher als Maßschneiderin in Nürnberg und als freiberufliche Kostümbildnerin deutschlandweit. Als Ausgleich zu wissenschaftlichen Texten und Näharbeiten widmet sie sich in ihren freien Minuten dem Schauspiel und dem literarischen Schreiben, dabei versucht sie sich an Kurzgeschichten, Gedichten, Theaterstücken und Songtexten. Ihr Schreiben bezeichnet sie als experimentell, rhythmisch und subtil selbstironisch.