SCHAU INS BLAU: Sie haben immer wieder Ihre ‚Herkunft’ aus der Konkreten Kunst deutlich gemacht. Wann begegneten Sie ihr das erste Mal?
EUGEN GOMRINGER: Ich habe im Jahr 1944, also wa?hrend des Krieges, als Student in meinem Wohnquartier in Zu?rich plo?tzlich in einer neuen Galerie Bilder entdeckt, die vo?llig anders waren als alles, was ich gewohnt war. Das waren Werke der Zu?rcher Konkreten, also von Max Bill, dessen Sekreta?r ich spa?ter an der Hochschule von Ulm wurde, von Richard Paul Lohse, von Verena Loewensberg und von Camille Graeser. Ich habe sehr gestaunt u?ber die Bilder, auf denen nicht viel zu sehen war. Es waren Bilder mit einigen scho?n geschwungenen Linien, wie Augenbrauen. Beim zweiten Blick hat man erkannt, dass eine bestimmte Absicht dahinter steckte. Die Linien waren ganz genau in Proportion und Lage koordiniert.
Der Galerist bat mich schließlich, daru?ber zu schreiben, aber das war mir damals u?berhaupt nicht mo?glich. Mit meiner literarischen Vorbildung war ich noch nicht so weit, denn es gab keine ‘Schreibe’, keinen Handgriff, um u?ber so etwas zu schreiben. Ich konnte nicht vergessen, was ich gesehen hatte, aber ich brauchte noch zwei Jahre, musste vorher noch nach Rom, um den ro?mischen Idealismus zu erleben. Erst nach dieser Inkubationszeit konnte ich im Jahr 1951 frei sagen:
Das war meine erste Antwort auf Konkrete Kunst.
SCHAU INS BLAU: Sie hatten zuvor auch schon geschrieben. Wie wu?rden Sie ihre fru?hen Texte beschreiben?
EUGEN GOMRINGER: Vor meinem ersten Konkreten Gedicht schrieb ich Sonette. Hermann Hesse, dem ich ein paar geschickt hatte, hat mir damals geschrieben: „Da lebt etwas weiter, das von weit her kommt“. Und der bekannte Schweizer Komponist Othmar Schoeck hat mir geschrieben: „Ihre Gedichte sind von Uhlandscher Scho?nheit“ – so viel nur, um zu zeigen, womit ich angetreten bin, um etwas Neues zu machen.
SCHAU INS BLAU: Was genau war das Neue, das Sie in der Konkreten Kunst fanden?
EUGEN GOMRINGER: Das wird an einem Beispiel am besten deutlich. Nehmen Sie diese Skulptur von Max Bill aus dem Jahr 1942. Sie tra?gt den Titel „Ringkonstruktion“ (schwarzer Diorit, 40 x 40 x 50 cm) und ist nichts anderes als ein Kreis, der zerschnitten wurde und dessen beide Ha?lften um 90 Grad gedreht und dann wieder aufeinander gestellt worden sind. Es wirkt zuerst sehr einfach, doch wenn man es la?nger betrachtet, hat man den Eindruck, da sei mehr als nur ein zerschnittener Kreis beziehungsweise zwei rechtwinklig u?bereinander gelegte Ha?lften. Wenn Sie eine Kreisscheibe in zwei Teile zerschneiden und so aufeinander bauen, dann bleibt der eine Teil am Boden, saugt sich sozusagen am Boden fest, und der andere sitzt wie ein Artist da oben, streckt sich nach oben. Was mich an den beiden Kreisha?lften interessiert, ist die Beziehung zwischen unten und oben. Mit wenigen Handgriffen wurde hier aus einer geometrischen Vorlage etwas gestaltet, ohne dass Symbolik ins Spiel kommt, und doch merkt man, dass hieretwas geschehen ist, das irgendwie bedeutsam ist. Es ist etwas Neues gemacht worden.
SCHAU INS BLAU: Wie reagierten Sie als Poet auf solche Neuerungen?
EUGEN GOMRINGER: Die Werke warfen fu?r mich eigentlich immer ein und dieselbe Frage auf: Was macht ein Dichter – oder jemand, der schreibt, um es vorsichtig zu formulieren –, wenn er so etwas sieht? Wenn er zum Beispiel dieses Bild „Konstruktion mit 10 Vierecken“ von Max Bill aus dem Jahr 1940/43 (O?l auf Leinwand, 90 x 75 cm) sieht? Es zeigt neun Quadrate in verschiedenen Farben in einem zehnten Quadrat, dem Gesamtbild. Natu?rlich sind die Fla?chen in ihren Proportionen aufeinander abgestimmt. Sie sind miteinander verbunden durch die schwarzen Balken, die auch Bildelemente sind. Da geht einem durch den Kopf: hier sind also Elemente in verschiedenen Farben, miteinander verbunden, in verschiedenen Gro?ßen, abha?ngig voneinander.
SCHAU INS BLAU: Kann man aus Worten A?quivalente zu solch elementaren Bildern schaffen?
EUGEN GOMRINGER: Ja, man kann versuchen, a?hnliche Strukturen herzustellen, aber Farben sind etwas anderes als Wo?rter. Das geht nie ganz zusammen, das muss man gleich am Anfang klar sagen, auch denen, die meinen, Jazz und Lyrik wu?rden so wunderbar zueinander passen – meiner Ansicht geht das nicht immer so wunderbar.
SCHAU INS BLAU: Wie kann man sich diesen Versuch, Bildstrukturen zu versprachlichen, vorstellen?
EUGEN GOMRINGER: Nehmen wir wieder ein Bild von Max Bill aus derselben Zeit (1942) als Beispiel: „Progression in fu?nf Quadraten“ (O?l auf Leinwand, 200 x 40 cm). Man hat hier mehrere Gruppen mit bis zu fu?nf Elementen, wobei Gelb, Blau und Rot in der Anordnung mehrfach vertauscht sind. Die Komposition ist also extrem einfach und fast vorhersehbar. So etwas ko?nnte man schon fast in Worte fassen, das Prinzip ‘eins bis fu?nf’ kann man auch in der Poesie herstellen: von fu?nf bis vier, von vier bis drei, von drei bis zwei, von zwei bis eins, von eins bis fu?nf.
SCHAU INS BLAU: Gibt es in Ihrem Œuvre Konstellationen, die auf solche Struktur- und Prinzipa?quivalenzen zu bestimmten Werken der Konkreten Kunst zuru?ckgefu?hrt werden ko?nnen?
EUGEN GOMRINGER: Ja, ich bin sehr oft von einem Spezialfall der Konkreten Kunst, der sich benennen ließe, zu einer Konstellation gelangt. Diese habe ich spa?ter dann allerdings fast immer ‚anonymisiert’, denn es sind Texte, die autonom fu?r sich allein stehen ko?nnen.
SCHAU INS BLAU: Ko?nnten Sie das an einem Beispiel erla?utern?
EUGEN GOMRINGER: Mein wichtigster Mentor in der Kunst neben Max Bill war Josef Albers, der Bauhausmeister, der 1953 als großer Gastprofessor an die Hochschule fu?r Gestaltung nach Ulm kam. Aus Amerika, wohin er 1933 wegen seiner ju?dischen Frau geflohen war und wo er am Black Mountain College gelehrt hatte, brachte er drei große Serien mit – und die Glasbilder, die er schon am Bauhaus entwickelt hatte. Bei dem Glasbild „Aufwa?rts“ von 1926 (Glas opak, sandgestrahlt, 43,2 x 29,8 cm) arbeitete Albers mit U?berfangglas (das Blaue); das Weiße ist das ‚Fleisch’, das herausgearbeitet wurde, und das Schwarze
wurde darauf gemalt. So entstanden diese fu?r die Arbeit mit Glas sehr typischen, konstruktiven Strukturen, die man waagrecht und senkrecht lesen kann, wobei man immer wieder gesto?rt wird: Wenn man sie senkrecht liest, sto?ren waagrechte Schu?be, denen man nachgehen muss und umgekehrt. Man fragt sich wieder: Kann der Konkrete Poet auf ein solch dichtes, enges strukturales Gefu?ge antworten?
Eine mo?gliche Antwort bilden diese zwei Jahreszeitengedichte, die man mit Max Bense ‚Fla?chentexte’ nennen ko?nnte. Ich meine damit Texte, die man u?berall beginnen kann, in die man u?berall eintreten kann. Das muss nicht links oben sein. Vielleicht fa?llt der Blick beim ersten Gedicht ja zuerst sogar in die Mitte.
Das zweite Gedicht entha?lt gewissermaßen Wertungen der verschiedenen Wo?rter, wie
bei einem Thermometer. Das wa?re also so eine Art Thermometer-Stil, der wieder die Senkrechte und Waagerechte vereint. Hier lassen sich also durchaus U?bereinstimmungen mit dem Werk von Josef Albers erkennen, oder allgemeiner: von konkreter Kunst und Konkreter Poesie. Nicht direkte U?bereinstimmungen natu?rlich, es sind keine Abbildungen! Konkrete Poesie ist unfa?hig, Abbildungen herzustellen. Das ginge gar nicht, wir sind da zu elementar eingestellt. Aber man la?sst sich beeindrucken von sog. Strukturereignissen.
SCHAU INS BLAU: Wer von den Konkreten Ku?nstlern hat Sie in diesem Sinne noch beeindruckt?
EUGEN GOMRINGER: Zum Beispiel Josef Neuhaus – ein strenger Mann. Er hat mir beigebracht, was man mit ganz wenigen Elementen tun kann. Nur durch das stille und wiederholte Anschauen dieses „Reliefs“ ergibt sich etwas in uns, das uns konzentriert auf dieses Gebilde, das nichts anderes sein will als dieser Aufruf, das Gebilde anzuschauen. In diesem Sinn verstehe ich auch die Konkrete Poesie: das sind ‚Sehtexte’.
SCHAU INS BLAU: Aber warum sollte man solche Werke so lange ansehen? Was kann man in ihnen sehen, was von ihnen lernen?
EUGEN GOMRINGER: Man kann regelma?ßig etwas Neues entdecken. Zum Beispiel bei Camille Graeser. Er kommt aus Genf, ging dann nach Stuttgart, das damals in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Hochburg der fru?hen Entwicklung des Konkreten bzw. Abstrakten war, kehrte dann aber 1933 in die Schweiz zuru?ck. Vergleicht man dieses Bild („Farbstudie fu?r eine nicht ausgefu?hrte Serigraphie“ von 1971, Deckfarbe und Bleistift auf weißem Zeichenpapier, 24,5 cm x 17 cm) mit den Werken Bills und Albers, zeigt sich, wie unterschiedlich Konkrete Kunst ist – und das gilt entsprechend auch fu?r die Konkrete Poesie. Das Bild zeigt im oberen Teil eine Reihe von Quadraten, aus der sich ein blaues herausgelo?st hat. Es la?sst sich sozusagen herunterfallen und ha?ngt nur noch an einer Ecke dort oben. Jeder weiß: es sollte zuru?ck an seinen Platz, damit man oben wieder eine Reihe und unten eine große gelbe Fla?che ha?tte. Dadurch, dass sich das blaue Quadrat nun aber aus der Reihe gelo?st hat, sieht man erst, dass im Grunde alles auf einer gelben Fla?che liegt. Das Gelb ist also die Farbe oder Grundlage des Bildes. Damit passiert in diesem Bild etwas, was nach dem Manifest von Theo van Doesburg von 1930 nicht ha?tte passieren du?rfen: Durch einen einfachen Kniff entstehen ein Vordergrund und ein Hintergrund, das heißt Plastizita?t in einem planen Bild. Wenn man sehr konkret denkt, wu?rde man sagen: Quadratisches ist plan. Wer Dreidimensionales will, muss eine Skulptur herstellen. Camille Graeser zeigt allerdings – und das ist schon irgendwie revolutiona?r –, dass man das auch so machen kann.
SCHAU INS BLAU: Es ist also immer auch die Konzentration auf die Wahrnehmung, die Sie an der Konkreten Kunst herausfordert?
EUGEN GOMRINGER: Ja, es geht in der Konkreten Kunst immer wieder um Wahrnehmung. Dieses Bild etwa von Andreas Brandt mit dem Titel „gelb-grau“ von 1977 (O?l auf Leinwand, 120 x 200 cm) hat mich nie in Ruhe gelassen. Es ist fu?r mich vor allem ein Wahrnehmungsbild. Jedes Mal, wenn der Blick darauf fa?llt, sieht man es anders, genauer: das Nachbild von den gelben Streifen am Rand, die natu?rlich im Nachbild violett werden, la?sst die Streifen nach innen gehen, und die anderen Linien springen immer so durcheinander, in scheinbarer Bewegung, wie ein Vorhang.
Oder die Holzskulptur von Max Bill, die als Symbol vor meinem Institut in Rehau steht. Man muss unweigerlich an ihr vorbei, wenn man uns besucht. Diese Skulptur geho?rt zu dem Konkretesten, was ich mir in der Kunst u?berhaupt vorstellen kann. Es ist ein Kubus aus zwo?lf Balken mit einer bestimmten Winkelsumme. Ein ho?chst interessantes Objekt, denn es zeigt, dass ein Kubus eben gar kein Kubus ist. Ein Quadrat ist nur solange eines, bis man einen Schritt daneben macht und es dadurch zum Parallelogramm wird. Die Wahrnehmung macht eine neue Figur daraus, mit Perspektive und Schattenwirkung. Das Werk kann sehr lange Schatten werfen und gibt dadurch noch mehr her: als Wahrnehmungssymbol fu?r Konkrete Kunst.
SCHAU INS BLAU: Gibt es in Ihrem Werk Konstellationen, die fu?r wichtige Prinzipien der Konkreten Poesie stehen ko?nnten, so wie Bills Skulptur fu?r die Konkrete Kunst?
EUGEN GOMRINGER: Mir scheint, die Konkrete Poesie unterscheidet sich von traditioneller Poesie vor allem durch ihre hohe Dialogizita?t. Konkrete Poesie stellt immer Dialoge her, allein schon von der Struktur her – erst ku?rzlich habe ich in einem Artikel noch einmal darauf hingewiesen. Dieser Dialogcharakter steckt in vielen meiner Konstellationen, zum Beispiel in:
Die Farben in diesem Gedicht habe ich vielleicht von den Ku?nstlern u?bernommen. Neu hinzugekommen ist aber das „du“ mit dem Zeigefinger. Das Wort ‚ich’ kommt in der Konkreten Poesie nicht vor, aber ‚du’ sagt man sehr gerne, denn darin steckt schon das Prinzip des Dialogs.
SCHAU INS BLAU: Sie nannten bereits die Skulptur von Max Bill, die vor Ihrem Haus in Rehau steht – Sie haben also auch selbst Konkrete Kunst gesammelt?
EUGEN GOMRINGER: Ja, ich habe Bilder gesammelt, die mich erga?nzt haben – das war meine Art zu sammeln. 1992 habe ich dann meine Sammlung nach Ingolstadt gegeben. So entstand das erste Museum fu?r Konkrete Kunst in Deutschland.
SCHAU INS BLAU: Inzwischen finden sich auch Ihre Werke in Museen, denn Sie haben in den letzten Jahren Ihre Konstellationen auf Leinen aufziehen und als Bild an die Wand ha?ngen lassen. Wechseln Sie jetzt die Seiten?
EUGEN GOMRINGER: Ich bleibe natu?rlich bei der Sprache. Aber wenn man es genau nimmt, war und ist das Gedichtbuch nicht wirklich unser Medium. Daher habe ich in den letzten Jahren auch immer mehr von Papier und Buch weggedacht. Auch mein „stundenbuch“ hat u?brigens inzwischen aus der Buchform herausgefunden. Es wurde 2004 auf 14 Stelen rund um den Weißensta?dter See eingemeißelt und la?dt nun jeden Spazierga?nger zur Meditation und zum Dialog ein.
SCHAU INS BLAU: Wir danken Ihnen fu?r das Gespra?ch.
Das Gespra?ch mit Eugen Gomringer fu?hrten Evi Zemanek und Annette Gilbert.