Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Jens Petersen
von Ulrike Jochum
Anlässlich des 29. Erlanger Poetenfests 2009 sprach Schau ins Blau mit dem diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preisträger Jens Petersen über seine Auszeichnung, den noch unvollendeten Roman „Bis dass der Tod”, die Lage der deutschen Gegenwartsliteratur und eine Art der Kommunikation, die alles andere als „normal” ist.
SCHAU INS BLAU: Sie haben in diesem Jahr mit „Bis dass der Tod” den „33. Ingeborg Bachmann-Preis” gewonnen, der mit 25.000 Euro dotiert ist. Wie erlebten Sie die Teilnahme an dem berühmten Klagenfurter Wettbewerb?
JENS PETERSEN: Ich habe mir immer schon gewünscht, mal daran teilnehmen zu dürfen. Ich habe schon als Schüler geschrieben und den Wettbewerb mitverfolgt. Unsere Deutschlehrer waren engagiert, die haben uns Exzerpte gegeben. Ich habe auch die Übertragungen im Fernsehen gesehen und war da immer ziemlich begeistert davon. Habe mir immer gedacht, dass allein die Chance, da antreten zu dürfen, schon etwas Großartiges sei. So wie vielleicht andere Jungs davon träumen, beim Fußball ein bedeutendes Tor zu schießen… So war das wirklich für mich. Als ich dann die Möglichkeit bekam, hinzufahren, habe ich natürlich auch von Kollegen gehört, die da nicht gut behandelt wurden und die zum Teil psychischen Schaden genommen haben — ich bin also sehr davor gewarnt worden. Der Juror, Burkhard Spinnen, war sehr neutral und indifferent. Der sagte, es könne so oder so ausgehen. Insofern wusste ich gar nicht, was mich da erwarten würde. Mein Motto war: Hauptsache nicht absaufen. Dass es so gut werden würde, hätte ich nicht gedacht. Das ist dann natürlich auch eine gewisse Belastung. Es ist nicht so, dass man ein anderer Mensch wird, wenn man so einen Preis gewonnen hat. Man hat aber mehr zu tun und eine größere Verantwortung. Das ist es, was davon bleibt, würde ich sagen.
SCHAU INS BLAU: Die Jury des Klagenfurter Wettbewerbs ist dafür bekannt, die geladenen Autoren zuweilen gehörig auseinander zu nehmen. Zwar waren die Meinungen zu Ihrem Text fast durchweg positiv, doch fielen auch ein paar Kritikpunkte wie „Prärie-Romantik” oder „Kitschverdacht”. Wie geht man in so einem Moment damit um?
JENS PETERSEN: Wenn man da sitzt, ist es natürlich nicht einfach, so etwas zu hören, zumal die Diskussion mit dem Stichwort „Prärie-Romantik” losging. Das war der erste Beitrag, der da kam. Ich dachte, das geht jetzt voll in die Hose. Dann merkt man aber an kleinen Signalen, dass das Ganze vielleicht doch einen anderen Geschmack bekommt. Als die Jury-Diskussion vorbei war, war mir klar, dass es ganz gut gelaufen ist, auch wenn ich nicht dachte, dass ich gewinnen würde. Ich habe mir dann auch noch einmal überlegt, was Kritik sein kann — nämlich konstruktiv, auch wenn sie negativ ist, so wie die von Paul Jandl, der sich gefragt hat, ob das Kunst oder Kitsch sei. Das ist eine Beobachtung, die richtig ist, denn mein Text arbeitet mit Kolportage-Elementen, das ist so beabsichtigt. Ob das gelingt oder nicht, das kann man selbst als Autor nicht immer entscheiden. Insofern ist das eine Form von konstruktiver negativer Kritik, die er am nächsten Tag auch zurückgenommen hat. Aber wenn jemand sagt: „Ich kann das schon verstehen, dass ein Arzt auch mal von seinen Erfahrungen schreiben muss”, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Ich habe ja kein Tagebuch geschrieben, und das muss ein Kritiker auch erkennen.
SCHAU INS BLAU: Sie haben vorhin davon gesprochen, als Preisträger nun mehr Verantwortung zu besitzen. Wie äußert sich das?
JENS PETERSEN: Man ist mehr unterwegs und muss jetzt ein Buch schreiben. Man hat eine Stimme, die eher gefragt ist zu Themen, mit denen man sich vielleicht auskennen könnte. Ich bin viel zu Sterbehilfe gefragt worden in den letzten Wochen. Überhaupt zum Tod. Da kann man nicht wie vor vier Jahren, als das erste Buch erschienen ist, oder vor sechs, als noch niemand einen kannte, irgendeinen Unsinn erzählen, oder ein bisschen witzig sein. Man muss da nun einen Standpunkt haben, der auch theoretisch fundiert ist und der den Menschen, über die man spricht oder die da zuhören, auch gerecht wird. Das sind ja nicht irgendwelche Spezialisten-Themen, sondern Themen, die auch eine gesellschaftspolitische Relevanz haben.
SCHAU INS BLAU: „Bis dass der Tod” — der noch im Entstehen begriffene Roman, mit dessen Schlusskapitel Sie die Jury von sich überzeugen konnten — kombiniert eine Liebesgeschichte mit einem traurigen Fall von Sterbehilfe. Alex erschießt seine schwerkranke Freundin Nana und bringt es anschließend nicht über sich, sich auch selbst zu töten. Hat diese Auseinandersetzung mit den Themen Krankheit und Tod etwas mit Ihrem Arztberuf zu tun?
JENS PETERSEN: Das ist eigentlich eine Liebesgeschichte. Das funktioniert nicht so deduktiv, dass man sich an irgendeiner Theorie abarbeitet oder eine These im Kopf hat, die dann zu einem Prosastück wird. Ich glaube vielmehr, dass einem der Keim so eines Textes irgendwie zufällt. Ich habe relativ lange gearbeitet, bis ich zu diesem Thema gekommen bin. Es hat sich irgendwie gefunden, ohne eine bewusste Entscheidung zu sein. In den letzten vier Jahren habe ich viel geschrieben, und davon war auch vieles Mist. Da waren Dinge dabei, die einfach nicht funktioniert haben.
Was den Zusammenhang zwischen meinem Dasein als Mediziner und als Schriftsteller angeht, so glaube ich, dass man im Arztberuf die Beobachtungsgabe schult. Im wissenschaftlichen Arbeiten geht es viel um Präzision und das Setzen von Begriffen, die nicht nur für sich genommen, sondern auch im Kontext angemessen sind, und ich glaube, dass es da schon Überschneidungen gibt. Natürlich sieht man auch viel Leid, und man sieht es recht ungefiltert. Es ist sogar anders als bei einem Gespräch mit einem Freund oder Bekannten, denn man erfährt Dinge, die vielleicht ein Mensch, der krank ist oder leidet, seinen Bekannten gar nicht aufbürden würde. Insofern ist das schon recht nahe am Leben, glaube ich. Jetzt ist nicht jeder Arzt ein Schriftsteller, insofern bedingt das Arzt-Sein nicht, dass man schreibt. Aber wenn man dieses Talent hat, oder wenn man es als Notwendigkeit empfindet, zu schreiben, dann ist das, glaube ich, eine Tätigkeit, die noch zusätzlich zu Präzision verhilft, die Beobachtungsgabe schult und einem auch eine Menge an — das klingt vielleicht salopp, aber letztlich muss man es so abgeschmackt sagen — literarischem Mehrwert bietet.
SCHAU INS BLAU: Die Medizin und ihr Gegenstand, der Körper, sind etwas sehr Materielles, wohingegen das Schreiben auf Gedankenwelten beruht. Hat die Sprache für Sie auch etwas Materielles oder betrachten Sie beide Bereiche als voneinander getrennte Dinge?
JENS PETERSEN: Sie sind ziemlich getrennt voneinander. Der Arztberuf ist auf gewisse Weise sehr unkreativ. Ich glaube, dass man mit Sprache Abstraktionen matieralisieren kann. Das ist aber eine müßige Diskussion, denn letzten Endes ist ein Text immer in hohem Maße artifiziell. Gerade Texte, die vordergründig sehr realistisch wirken, sind für einen Autor wie mich, der relativ viel arbeiten muss, bis er mal etwas soweit hat, dass er damit zufrieden sein kann, im Grunde hochartifiziell. Es handelt sich dabei nur um eine Reproduktion von Realität, das verwechselt man, glaube ich, manchmal.
Dann ist da die Sache mit der Neugier. Literatur ist ja, wenn sie dialogisch oder sonst wie den Alltag einfängt, langweilig, so wie der Alltag langweilig ist. Insofern muss man sich immer irgendwie neben der Spur bewegen. Vorgestern war ich in einer Talkshow in der Schweiz. Mit dabei war Pipilotti Rist, die bedeutendste Schweizer Gegenwartskünstlerin. Die sagte, sie finde es so interessant, dass die Menschen alle verschieden sind. Sie haben zwar alle eine Nase und einen Mund und zwei Augen und einen bestimmten Geruch, aber es ist trotzdem alles total verschieden. Darauf habe ich dann gesagt: Aber wenn man morgens um vier in eine Notaufnahme kommt, dann sieht der, der da liegt, genauso aus wie der, der vorher dalag. Ich glaube, sie spricht als Künstlerin und der Arzt kann es so sehen, wie ich es gesagt habe. Da kann man vieles übertragen.
SCHAU INS BLAU: Ist mit dem Thema des Buches ein ethisches Anliegen verbunden? Kann man den Text — verkürzt formuliert — als Stellungnahme pro oder contra Sterbehilfe lesen?
JENS PETERSEN: Es ist natürlich ein bewusster Akt, so etwas zu schreiben, und im besten Fall überschaut der Autor auch den moralischen Impetus so eines Textes. Alles andere wäre fatal, dann kann er ja nicht dafür einstehen. Dennoch glaube ich nicht, dass der Text bewusst moralisierend oder moralisch gedacht ist. Was dabei herauskommt, hat dann jedoch einen Geschmack, und den muss man in eine Richtung entwickeln, mit der man leben kann und die das aussagt, was man selbst darüber denkt. Wenn nun eine Figur die Meinung des Autors bricht oder nicht teilt, dann muss das so dargestellt sein, dass man es dem Text anmerkt. Ich glaube insofern, dass jeder Text ein moralisches Statement ist und Rückschluss auf den Autor zulässt. Was bedeutet das jetzt? Das ist ein Thema, über das ich mir viele Gedanken gemacht habe, weil ich von der ZEIT gebeten wurde, einen Artikel über Sterbehilfe zu schreiben. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass man bei einer essayistischen Form und einer Argumentation in Thesen die Zweifel, die mit diesem Thema verbunden sind, nicht gut fassen kann. Bei jedem Versuch, zu abstrahieren, ob in der Jurisdiktion oder wo auch immer, kommt das Individuum zu kurz. Und dieser Zweifel, der bleibt, den kann man mit Literatur am besten ausdrücken, glaube ich.
SCHAU INS BLAU: Kann man denn dieses moralische Statement, das mitschwingt, im konkreten Fall auf einen Nenner bringen?
JENS PETERSEN: Das kann man nicht, denn es ist zu ambivalent. Zu organisierter Sterbehilfe, wie es sie in der Schweiz gibt, habe ich natürlich eine klare Meinung, nämlich dass sie unnötig ist, dass man keine Organisation braucht, um Menschen, die — aus welchen Gründen auch immer — aus dem Leben scheiden wollen, dabei zu helfen. Es geht auch anders. Wenn ich sachlich darüber argumentieren sollte, dann wäre mein Angriffspunkt diese organisierten Formen von Sterbehilfe. Beziehungsweise die Tatsache, dass das Thema in Deutschland überhaupt nicht angegangen wird, wahrscheinlich aus Angst vor der nationalsozialistischen Vergangenheit, oder weil man Holland vor Augen hat, wo aktive Sterbehilfe Anreiz zu Missbrauch gegeben hat. Aber die Substanz dieses Textes sind Zweifel und keine These, die in eine bestimmte Richtung zielt.
SCHAU INS BLAU: Liegt darin auch der Grund für die Wahl der „nahen” Erzählperspektive? In Rezensionen wird immer wieder von „beklemmend nah” oder von „klaustrophobisch” (FAZ) gesprochen. Der Text ist ja auch im Präsens erzählt.
JENS PETERSEN: Es handelt sich um eine Liebesgeschichte, deren Kern die Beziehung dieser beiden Menschen vor dem Tableau einer Landschaft ist, wie es sie in einer städtischen Hamburger Peripherie vielleicht einmal in 30 Jahren geben könnte. Der Hintergrund von dem, was da bei dieser Jurydiskussion „postapokalyptisch” genannt wurde, ist der, dass es mich immer frustriert, wenn ich aus der Schweiz nach Deutschland komme und die Innenstadt sehe, in der ich groß geworden bin, in der es nur noch Ramschläden und eine wahnsinnig hohe Alkoholiker- und Arbeitslosenquote gibt, in der alles ziemlich auf den Hund kommt. Meine Landschaft im Text ist der Versuch, das irgendwie auf 20 oder 30 Jahre Entwicklung zu extrapolieren. Im Gemeinderat sitzen irgendwelche Saufköpfe, Kommunalpolitiker verdienen kein Geld mehr, das ist unattraktiv geworden und deswegen will das keiner mehr machen, so kommt eine Stadt langsam auf den Hund. Ich versuche, das in Bilder zu fassen.
Was allerdings mit „nah” gemeint ist, verstehe ich nicht ganz. Ich glaube, das ist ein Trugschluss, vielleicht auch einer, den es in dieser Jury gab. Der Text ist sehr distanziert geschrieben, und der Eindruck der Nähe entsteht nicht dadurch, dass das Innere der Figuren ausgeleuchtet würde. Die kommunizieren miteinander und verhalten sich irgendwie, aber deren Gedanken werden nicht ausgeführt. Was die Geschichte so klaustrophobisch macht, ist wahrscheinlich die Tatsache, dass sich die Stimmung dieser Charaktere in der Landschaft wiederfindet und auch, dass da Themen angesprochen werden, die für mich nicht tabuisiert sind. Mich haben diese Reaktionen selbst erstaunt. Wenn ich das lese, dann ist das für mich nichts, mich rührt das nicht so an. Vielleicht ist das ein Erfahrungshorizont, der nur für jemanden ungewöhnlich ist, der nicht jeden Tag mit Körperlichkeit konfrontiert wird.
SCHAU INS BLAU: Viele der Autoren, die am diesjährigen Klagenfurter Wettbewerb teilgenommen haben, wurden in den Videoclips, mit denen sie sich vorgestellt haben, als zurückgezogene „Mönche und Pilger” inszeniert, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Was halten Sie von einer derartigen Darstellung, ist sie überhaupt vereinbar mit einem Schreiben, das ein ethisches Anliegen verfolgt? Und wie stehen Sie — genereller noch — dazu, als Autor selbst in den Mittelpunkt gerückt und medial vermarktet zu werden?
JENS PETERSEN: Es ist ein Teil unserer Mediengesellschaft, dass der Autor als Person inszeniert wird, und ich finde, dass das in den meisten Fällen den Text schwächt, in wenigen schindet es ihn. Dass eine Person relevant wird, das kann man bei Biographien wie der von Thomas Mann nachvollziehen. Bei den meisten Autoren, die im Rahmen eines Festivals ins Licht gerückt werden, wundert man sich darüber. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Seltsam ist auch die Art, wie die Biographie instrumentalisiert, wie sie verfremdet wird, wie bestimmte Versatzstücke plötzlich eine Bedeutung kriegen… Man läuft etwa durch eine Wüste, findet das stinklangweilig, und zwei Jahre später sagen alle „Wow, der ist durch die Wüste gelaufen.” Das ist ein medialer Mechanismus. Ich will auch nicht sagen, dass es verwerflich ist, aber es kommen dadurch Missverständnisse auf, die es für einen Autor in zweifacher Hinsicht schwierig machen. Auf der einen Seite wird da eine Biographie verkürzt und verfälscht wiedergegeben, und auf der anderen Seite wird man als Autor dann immer wieder mit diesen Dingen konfrontiert. Etwas wird aufgeblasen und zu einem Selbstläufer.
Beim Wettbewerb wurden die Autoren vielfach in sakralen Gebäuden gezeigt, wie zum Beispiel in einer Kirche in Berlin oder in kargen, minimalistisch eingerichteten Büros mit einem „Apple“-Laptop, der keine Kabel hat. Dass das Autor-Sein keine soziale Tätigkeit ist, ist ja im Grunde völlig banal. Ich finde, dass es in der deutschen Gegenwartsliteratur im Gegensatz zu dem, was vor fünf oder zehn Jahren geschrieben wurde, dennoch wieder eine zeitgeschichtliche Relevanz gibt, dass man da Strömungen erkennen kann — seien das Tellkamp, Juli Zeh oder Jakob Hein. Ich will mich da gar nicht ausnehmen, mein Text behandelt auch ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema. Das ist es gerade in der Schweiz, wo ich im Moment wohne, und das ist gut. Es gab eine Zeit, da haben sich die Autoren nur um ihre Turnschuhe gekümmert. Das darf man nicht unterschätzen, und ich will das auch nicht abwerten, denn es hat dazu geführt, dass überhaupt wieder junge deutsche Autoren gelesen werden. Gut ist jedoch, dass es jetzt eine Entwicklung hin zu Themen gibt, die in einer Gesellschaft, in der es in den einzelnen Berufsgruppen ein immer höheres Maß an Spezialisierung gibt, nicht nur von Spezialdisziplinen verhandelt werden dürfen, weil dann viele Aspekte verloren gehen.
SCHAU INS BLAU: In diesem Zusammenhang spricht man ja gerne vom sogenannten „Ethical turn”. Können Sie sich damit identifizieren und vielleicht auch andere literarische Tendenzen der gegenwärtigen Zeit ausmachen?
JENS PETERSEN: Ich glaube nicht, dass es in der Literatur noch Neues geben kann. Die Moderne hat mit ihrer Reduktion auf Takt und Rhythmus die maximale ästhetische Neuerung gebracht. Alles andere ist Variation von Altem. Was man heute von der deutschen Literatur erwarten muss, ist ein Umgang mit einem Land in der Krise. Das hat sie lange Zeit verschlafen. Das Land ist wahrscheinlich schon seit den späten 70er-Jahren in der Krise, und da muss es einen gesellschaftlichen Wandel geben, der sich auch gegen die vielen Zerrbilder wie Jugendwahn und diese Dinge richtet. Ich glaube, die junge deutsche Literatur sollte das gerade in einem Land, das jetzt in der Krise ist, sehr bewusst aufnehmen.
Bei mir aber funktioniert das anders, bei mir entstehen Geschichten immer aus zwischenmenschlichen Konflikten heraus. Ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel Juli Zeh jeweils bewusst ein Thema hat, über das sie dann schreibt. Bei mir aber könnte das nie so sein. Bei mir ist es im Sinne von Max Frisch Zufall.
SCHAU INS BLAU: Kommen wir nun zu Ihrem ersten Roman „Die Haushälterin”, der 2005 erschien. Was war denn da der „Funke”, der zur Geschichte geführt hat?
JENS PETERSEN: Da spielen zum guten Teil autobiographische Motive mit hinein. Ich hatte in der Pubertät kein gutes Verhältnis zu meinem Vater und war oft unglücklich verliebt. Die Keimszene dieses Romans ist eine Konstellation, in der Vater und Sohn sich beim Essen gegenübersitzen und nichts zu sagen haben. Da ist irgendwie ein Miteinander, in dem man sich aber nicht austauschen kann. Das reicht nun nicht, um 200 Seiten zu füllen. Es braucht ein dramaturgisches Korsett, dessen Vorbild Turgenjews Novelle „Erste Liebe” war. Mein Buch ist auch der Versuch, eine zeitgenössische Version zur ersten Liebe zu schreiben.
SCHAU INS BLAU: Das Thema dieser Ausgabe heißt „Fremdheit” — ein Aspekt, der auch in der „Haushälterin” vorkommt. Ada, die „Haushälterin”, ist eine Polin, die in Deutschland lebt. Fremdheit besteht aber auch zwischen Vater und Sohn, ebenso zwischen den Geschlechtern. Die Figuren finden alle nicht richtig zueinander.
JENS PETERSEN: Dazu fällt mir ein, dass es zwischen Menschen eine ganz komische Art der Kommunikation gibt, die oft neurotisch ist. Man darf Dinge nicht sagen, die man gerne möchte; man sagt Dinge, die man will, und bekommt das Gegenteil; dann kommt man wieder in eine bestimmte Position, in der man sehr klar sagen kann, was man will, und das dann bekommt. Es kann auch sein, dass man etwas sagt und einen Geldschein hinterher schiebt, dann bekommt man, was man will. Es ist völlig seltsam und hat mit der Art, wie man sich vorstellt, dass Sprache und Interaktion funktionieren, wenn man jung ist, nichts zu tun. Man ahnt es zwar in der Familie, aber denkt im Grunde monokausal und hat von Kommunikationsmodellen eine völlig andere Vorstellung als jene. Es gibt diese Kinderkultur, die möglicherweise auch viele psychische Erkrankungen bedingt, weil sich bei manchen Menschen das Erwachsenenleben dann sehr stark damit bricht. Obwohl das Kind mit lauter Zeug umgeben ist, das eine heile Welt symbolisiert, und obwohl man immer sagt ‘du sollst möglichst keine Gemetzelfilme anschauen’, Altersfreigabe und so weiter, erlebt es trotzdem diese pathologische Kommunikation in der Familie. Es gibt, glaube ich, Menschen, die nie lernen, diese Klaviatur zu spielen. Die Pubertät ist der Schritt dahin, ist ein Entwicklungsstadium, das oft belächelt und unterschätzt wird. Dabei ist es ganz wichtig, und das Leid, das da hervorgerufen wird, wenn sich diese Problematik nicht auflöst oder irgendwie Bahn brechen kann, kann ein ganzes Leben versauen.
SCHAU INS BLAU: Spielt es bei dieser zwischenmenschlichen Distanziertheit symbolisch eine Rolle, dass Ada aus dem Ausland kommt?
JENS PETERSEN: Ja, sie ist eine Frau und sie ist schwach. Die Ambivalenz ist, dass sie einen schmalen Grad wandert zwischen einer Prostituierten und einer Geliebten. Sie kann sowohl das eine als auch das andere sein. Sie entscheidet sich dann letzten Endes zu fliehen. Ihre Geschichte bricht oder befleckt vielleicht auch die Vorstellung dieses Jugendlichen. Mit einer deutschen Frau wäre das in diesem Kontext schwer darstellbar gewesen. Das hat aber auch einen Hintergrund. Ich hatte einen Onkel, der eine Haushälterin hatte. Der Onkel war schwer krank und die hatten so was wie — mittlerweile ist er gestorben, deswegen kann man das jetzt sagen — ein Liebesverhältnis, aber er hat ihr auch Geld gegeben. Er war in einer Weise körperlich behindert, dass er allein gewesen wäre, wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätte. Sie war in einer Weise mittellos, dass sie vor die Hunde gegangen wäre, wenn sie von ihm kein Geld bekommen hätte. Das führt unheimlich weit. Ich habe neulich in Paraguay ein paar Schweizer besucht. Die haben sich dort ein bisschen Land abgesteckt und ein paar Villen gebaut. Neureiche im Grunde, die sich jetzt da Frauen kaufen und dazu sagen ‚Ja wir kaufen die und die können dafür studieren.’ Das ist natürlich viel zu kurz gegriffen, die verstehen das als eine Art Entwicklungshilfe. Im Grunde wäre es das beste gewesen, wenn sie da weggeblieben wären. Aber jetzt wo sie da sind — hat das nicht auch etwas Gutes? Das sind wahnsinnig schwierige Fragen, finde ich. Und es kommt dabei sehr auf Fingerspitzengefühl und die Moral der Agierenden an.
SCHAU INS BLAU: In der „Haushälterin” übernimmt der Sohn den „moralischen” Part, weil er Ada Geld in den Rucksack steckt, damit sie fliehen kann. Das Ende jedoch ist eigentlich offen. Kann man es denn als positiven Ausblick lesen?
JENS PETERSEN: Also ich glaube nicht, dass Ada zurückkommt, aber ich weiß es auch nicht genau. Die logische Konsequenz dieser Entwicklung wäre, dass sie nicht zurückkommt, weil dann die gleichen Probleme noch mal auftauchen würden, das wäre dramaturgisch ungeschickt. Aber nachdem ja das Buch da zu Ende ist… Ich weiß es nicht.
Der Sohn ist einfach anders als sein Vater, und vielleicht hat der Vater, als er so alt war wie der Sohn, die gleichen Probleme gehabt. Der Sohn ist der Sympathieträger in dieser Geschichte, das bedingt allein schon die Perspektive. Auch für den jungen Autor, der dieses Buch geschrieben hat, ist der Sohn die Figur, mit der er sich in erster Linie identifizieren konnte, deren Lebensstadium er selbst schon durchlaufen hatte, mit der er deswegen am meisten Mitleid hat. Das spricht natürlich aus dem Buch. Der Vater ist die Reibungsfläche und kommt schlechter weg. Das ist der Versuch, Leben abzubilden, ich weiß gar nicht, ob das soviel mit Moral zu tun hat.
Jens Petersen, geboren am 20. März 1976 in Pinneberg / D, lebt in Zürich. Er hat in München, Lima, New York und Buenos Aires Medizin studiert und sich mit einer Arbeit über die Genetik erblicher Muskelerkrankungen promoviert. Derzeit Ausbildung zum Facharzt für Neurologie an der Universitätsklinik Zürich. Zahlreiche journalistische Publikationen, u.a. im Pinneberger Tageblatt, der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT. Diverse Veröffentlichungen in Kinder- und Jugendbuchanthologien. Für seine Arbeit erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis des Deutschen Literaturfonds 2005. Sein Roman „Die Haushälterin“ (DVA) wurde u.a. mit dem Aspekte-Literaturpreis 2005, dem Bayerischen Kulturförderpreis für Literatur 2005, dem Evangelischen Buchpreis 2007 und einem Stipendium des Kulturreferates der Stadt München 2003 ausgezeichnet. 2009 erhielt Jens Petersen für einen Auszug aus seinem Romanprojekt „Bis dass der Tod“ den Ingeborg-Bachmann-Preis.