von Jasmin Wieland
Weil wir wie Tiere sind…
Monkey see, monkey do (I don’t know why)
Rather be dead than cool (I don’t know why)
Every line ends in rhyme (I don’t know why)
Less is more, love is blind (I don’t know why)
Stay
Stay away
Stay away
Stay away
…
(Nirvana: Stay Away)
Ausrufezeichen. Schießt es mir da durch den Kopf. Wie ich es gehasst habe, als meine Mutter immer von unten nach oben geschrien hat. „Timo, das Essen ist fertig!“ Gebrüllt hat sie. Wie ein Gorilla. Hässlich! Grässlich! Nervtötend! Nicht, dass sie auch nur einmal auf den Gedanken gekommen wäre, mal hochzukommen, oder sich wenigstens ein paar Meter mehr in Richtung Treppe zu bewegen, sodass der Schall in etwas gedämpfter Lautstärke die Chance gehabt hätte, um die Ecke zu biegen und hoch in den ersten Stock zu tönen. Aber nein, von der Küche aus musste es sein, dem weit entferntesten Ort im ganzen Haus, von meinem Zimmer aus, meiner Höhle. Und was habe ich da gemacht? Natürlich bin ich nicht mucksmäuschenstill vor dem PC gesessen. Also, still dagesessen schon, nur meine Welt war nicht still. Denn normalerweise hörte ich immer Musik, mit Kopfhörer versteht sich. Das war für mich der Startschuss. Kopfhörer auf und eintauchen, in meine Welt, wo meine Regeln herrschen, wo ich ich bin und nicht Marionettenfigur der sich als im Reifegrad überlegen betrachtenden Geschöpfe namens Eltern. Mein eigener Soundtrack, mein Raum.
Doch dann, irgendwann, so kurz vor 13 Uhr schlich sich für gewöhnlich ein latentes Geräusch in meine Ohren, das definitiv nicht zu meinem Track passte und bei dessen Erklingen es mir jedes Mal in die Glieder fuhr, ich sozusagen in eine Art Schockstarre verfiel. Was hätte es um diese Uhrzeit auch anders sein können als die Rufe meiner Mutter? Aber ich, erstmal bewusst ignorierend, schenkte dem Geräusch keine Aufmerksamkeit. Warum auch? Ich hatte noch keinen Hunger. Später aufgestanden, später gefrühstückt und so… doch zu dem Zeitpunkt war mir natürlich schon klar, dass Ignorieren die Sache nicht besser machte. Dann nochmal das Geräusch, jetzt schon etwas deutlicher zu hören. Was soll’s. Bevor meine Mutter gleich hochgetrampelt kam, um mir an die Gurgel zu springen, also zumindest hatte es immer den Anschein, als wäre sie jeden Moment dazu bereit gewesen, das zu tun, nahm ich die Kopfhörer ab und brüllte zurück: „Jaa, ich komme gleich.“ Was natürlich die falsche Antwort war. „Nicht gleich! Sofort!“, schallte es mir da entgegen. „Jaa, sofoort“, nörgelte ich zurück.
Jedenfalls, irgendwann hatte das Gebrüll dann ein Ende. Das war 2010. Ziemlich genau im Sommer 2010, zur Fußballweltmeis-terschaft in Südafrika. Da gab‘s dann nämlich überall diese Vuvuzelas. Und für uns als eingefleischte Fußballfans war klar: So ein Ding brauchen wir auch! Naja, und dann wurde getrötet. Und das war ‘ne Erlösung! Wie die Elefanten. Trö trö trötrötrö trötrötrötrö trötrö. Getrötet. Und das musste genau so sein. In dem Rhythmus. Denn so haben das alle gemacht. In den Stadien. Bei den Public Viewings. In Südafrika. In Deutschland. An der Copa Cabana. In Cape Town. Im Ruhrpott. In der Sahara. Und so mussten wir das dann natürlich auch machen. Nur, blöderweise, war das gar nicht so einfach. Ganz schön gedauert hat das, bis wir überhaupt mal ‘nen Ton aus diesem Ding rausbekommen haben. Am Anfang hat das mehr nach Reizdarm geklungen. Immer mehr ausgetüftelt haben wir das dann, bis der perfekte Tröt-Sound entstand. Trö trö trötrötrö trötrötrötrö trötrö. Und dann, als wir es gerade geschafft hatten, den Sound im Das-Essen-ist-fertig-Hungerslang zu etablieren, fliegen die einfach raus! 0:1. Gegen Spanien. Und das Trauma wiederholt sich. Zum Kotzen. Doch viel schlimmer: Nach der ganzen Tröt-Euphorie kam die Bequemlichkeit zurück und damit auch das Gebrüll. Ganze zwei Jahre hat das gedauert. Bis 2012. Und dann wieder zwei Jahre bis 2014. Was war das für ein grandioser Sommer. Abi in der Tasche, zum ersten Mal so richtig verliebt und dann werden wir noch Weltmeister. Euphoriewelle der Superlative. Siebter Himmel. Vierter Stern. Dauerglücksgefühle. Was für ‘ne grandiose Nacht. Was haben wir da unten gejubelt. Im Gewölbekeller. Café Faust. Schweißgebadet. Nassgeschwitzt. Erst noch gezittert, wie die Verrückten. Hochspannung war das. 0:0 nach 90 Minuten. Verlängerung. Und dann, wann war das nochmal? 113. Da haut der das Ding einfach rein. Der Mario. Affengeil! Brüllen hätte ich können. Nein, gebrüllt haben wir. Und getanzt und gestampft wie eine ganze galoppierende Zebraherde in der Savanne. Und dann ging‘s raus, auf die Straßen, als der Rest Sauerstoff im Raum gefühlt nur noch einen Zentimeter unter der Decke hing. Da hat keiner mehr wirklich Luft bekommen. Und Giraffen waren wir nicht, um mit unseren Hälsen an die oberste Sauerstoffschicht zu gelangen. Und wachsen konnten wir nicht mehr. Ausgewachsen allesamt. Doch innerlich wuchsen wir. Ab der 113. Wuchs die Spannung und die Stärke und das Ego. Da unten. Und gleichzeitig hat alles gebebt. Reicht das? Retten die das rüber? Bis zur 120.? Und dann noch die Nachspielzeit! Und der Sauerstoff wurde weniger und weniger. Und dann drängte der rein und die rein. Und ich wuchs immer höher und höher, um überhaupt noch irgendwas zu sehen von der Leinwand. Gezittert auf Zehenspitzen. Und die Sekunden verronnen. Pfeiff doch ab. Pfeiff doch endlich ab. Schiriii! Pfiff. Pfiff. Pfiiiff. Und dann war‘s aus. Und Geschrei. Aber dieses Mal von Tom Bartels. Dem Gott unter den Kommentatoren. „Jetzt ist es vollbracht! Ja, ja und nochmal ja! Deutschland ist zurück im Fußballhimmel! Weltmeister!“. Und dann sind wir uns in den Armen gelegen, die ganze Gorillatruppe. Gekannt oder nicht. Egal. Ganz egal. Und dann gab‘s kein Halten mehr und wir sind rausgestürmt. Haben uns aufgetürmt. Hinaufgekrakselt und uns an den Ampeln entlanggehangelt wie die Affen. Und unter uns die Massen. Mitten auf der Theo im Stuttgarter Kessel. Die Partymeile. Ein Meilenstein war das. Und runter sind wir auf die Knie. Um wieder aufzustehen. Und zu tanzen. Wir singen Humba, Humba, Humba, Täterä, Täterä, Täteräää!! Gebt mir ein H. H! Gebt mir ein U. U!… Man war das geil. Ich glaube, das war der geilste Sommer meines Lebens.
Und heute? Gegessen wird immer noch um 13 Uhr. Also bei mir nicht, bei meinen Eltern schon. Getrötet wird nicht mehr. Und brüllen muss meine Mutter auch nicht mehr, weil man Vater um kurz vor 13 Uhr schon unauffällig, zumindest aus seiner Perspektive, ums Haus herumschleicht, Alibi: Gartenarbeit, um den Moment abzupassen, in dem meine Mutter zum Brüllen ansetzt. Weil es ihm immer unglaublich peinlich ist, wenn unsere Nachbarn meine Mutter schreien hören. Doch eigentlich, so ist mittlerweile meine Theorie, schleicht er nur so ums Haus, weil er im Prinzip schon seit halb eins vor Hunger mit den Hufen scharrt und nur darauf wartet, bis es endlich Essen gibt. Jaja, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Die Vuvuzela steht übrigens immer noch in der Ecke im Wohnzimmer. Inzwischen ist sie zu einem idealen Rückzugsort für lebende oder auch nicht mehr lebende Insekten und Spinnentiere geworden. Als ich vor kurzem bei meinen Eltern zu Besuch war, dachte ich, ich probier’s mal wieder aus mit dem Tröten, nach vorheriger, penibler Reinigung versteht sich. Kam natürlich nur Reizdarm dabei raus. Mein Vater und ich haben uns trotzdem köstlich amüsiert. Das war schon ‘ne geile Zeit damals… Also, falls das jemand mal ausprobieren will, das mit dem Affengebrüll durch Elefantengetröte zu ersetzen, meine ich. Wir hätten da noch eine abzugeben.
Jasmin Wieland, geboren 1995 in Waiblingen, zog es nach dem Abitur für ein Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik nach Bamberg. Aktuell absolviert sie dort ihren Master der Neueren deutschen Literatur. Neben dem eigenen kreativen Schreiben, vor allem Lyrik und Kurzprosa, ist sie auch literaturkritisch tätig. Einige ihrer Gedichte veröffentlichte sie zuletzt in der Bamberger Anthologie fortississimo, ihre Rezensionen erscheinen in der Bamberger Zeitschrift für Literaturkritik Rezensöhnchen sowie im Signaturen-Magazin. Der Prosatext Weil wir wie Tiere sind entstand im Rahmen des studentischen Schreibseminars der Bayerischen Akademie des Schreibens.