Eine westliche Einschätzung Russlands
Russland könne man nur verlassen, konstatiert Ingo Schulze 1995 in seinem Erzählband 33 Augenblicke des Glücks. Ein verrücktes Land, dieses Riesenreich im Osten. Zwar gäbe es Glücksmomente, doch brauche es großes Glück, damit sie einem widerfahren. Natürlich ist das literarische Übertreibung, wie jene Horrorgeschichten von der Russenmafia, von Behördendespotismus oder dem russischen Winter, in dem monatelang offene Gefriertruhen am Himmel hängen. Die Realität sieht anders aus. Schulzes lakonische Einschätzung hat aber auch etwas für sich. Reist man als westlich Umsorgter erstmals nach Russland und landet im dortigen Alltag, will man schnell wieder weg. Ist man dann weg, will man wieder hin. Eigenartig ist das. Als ob außerhalb Russlands etwas fehlt, nur was?
DDR-Endzeitstimmung in Russland
In Russland herrscht so etwas wie grimmiger Frieden. Zwar wird nicht geschossen, dafür permanent gekämpft, auf der Straße, im Universitätsgebäude und am Einkaufsschalter. Wo man geht und steht, ständig ist Vorsicht geboten, vor den ungeduldigen Autofahrern, den drängelnden Mitmenschen oder dem streunenden Getier. Hinzu kommen Miasmen, die vielerorts in der Luft hängen. Das Tagesgerangel ist unerbittlich, die beschworene russische Seele sucht man vergebens, zumindest im öffentlichen Raum. Die sture Entschlossenheit der Menschen ist das eine, die Verwahrlosung des nur leicht Abseitigen und des Hinterlands das andere. Wenn man allerdings meint, ein großer Teil der vielfach marode scheinenden Infrastruktur sei längst abgeschrieben, wird man schnell eines besseren belehrt: Das Kaputte, Rostige und Zerschundene steht, fährt und funktioniert auf ganz wunderbare Weise. Die täglich spielenden Theater und Opernhäuser, in denen sich die Menschen freundlich zunicken, oder die Kunstzirkel im Haus der Armee mit den Kriegsmaschinen im Hinterhof, lassen staunen. Es arbeiten die Kindergärten und Schulen, Magazine und Verkehrsbetriebe gewissenhaft, während die Post bis in die letzten Winkel des Landes zustellt. Die Vögel singen genau wie bei uns, man kann in den Parks spazieren und am Wochenende ins Grüne fahren. Mit Rubeln mietet man eine Wohnung und kauft, was man braucht: solides Roggenbrot, einen Stör und Piroggen, natürlich auch Glühbirnen. Alles ist ganz normal. Aber die russische Normalität hat für den Westler zugleich etwas von Ernstfall. Vielleicht ist das der Grund, warum man das Land so schrecklich liebt. Russland hat den Charme einer DDR-Endzeit, hier hat sich die Anspannung einer Umbruchszeit nicht aufgelöst. Für Russland gilt das alte Lied, dass der zuletzt lacht, der die größte Ausdauer hat. Die größte Ausdauer scheinen die zu haben, die entsprechend konditioniert wurden.
Frauen regeln den russischen Alltag
Sobald man in dieses Land kommt, sieht man Frauen in Uniformen. Täglich steht man ihnen gegenüber. Sie erwarten einen bei der Passkontrolle, sie sind als Milizionärinnen im Einsatz und sie begegnen einem als Zugbegleiterinnen. Fast der gesamte Nahverkehr bewegt sich unter ihnen. Vom Omnibus, der Straßenbahn und dem Fahrgastschiff bis zum Schneeräumer, überall sind Frauen am Steuer und auf der Kommandobrücke. Weiblich ist auch der Wegedienst, der in Wattejacke Metropolen freiräumt. Selten lächeln sie einen an, kein überflüssiges Gerede lassen sie hören, sie bewahren unterkühlte Sachlichkeit. Ob als beflissene Beamtin oder als aparte Verkäuferin in der Konfektionsabteilung, immer sind sie Herrinnen der Lage. Unmögliches gibt es für sie nicht, sie meistern alle Aufgaben, auch wenn diese Zeit und Geduld, technisches Geschick und Kraft verlangen. Ihre Nerven gleichen Stahlseilen, wenn sie hinter ungebremsten Türen die Eingangsbereiche von Gebäuden bewachen. Unbeirrt stellen sie sich einem in den Weg und verlangen den Ausweis, sie stemmen Postpakete auf Regale und klettern selbstverständlich bei minus 26° Grad auf die Trolleybusdächer, um die Stromabnehmer in die Leitungen zu hängen. Dabei ist ihre Unterkühltheit nie Kälte, vielmehr verschlägt ihre Eleganz nicht selten den Atem. Frisches Make-up ist Standard und über die Jahrzehnte haben sie aus ihrer Dienstuniform haute couture gemacht. Wer je dachte, es gäbe noch Männerdomänen – in Russland wird man eines besseren belehrt. Zwar bewachen die Männer Geldinstitute und marschieren mit angesteckten Orden auf den Prospekten, die Frauen hingegen regeln das Leben. Ob es die Sperrbezirke sind, in die keine Reise führt, oder die Gewohnheit, jedes Papier abzustempeln, ob es der Wehrertüchtigungstag für Hochschulabsolventen ist oder der tarnfarbene Güterverkehr: Für den westlichen Blick wirkt der russische Alltag wie der Langzeiteffekt einer Generalmobilmachung, die 1917 ausgerufen und seitdem nicht aufgehoben wurde. Tschernobyl, havarierte Atom U‑Boote und Tschetschenienkrieg, all das gehört hier zum Leben. Ganz zweifellos sind das auch in Russland ernste Vorkommnisse, wozu sich darüber aber unnötig aufregen?
Russland lässt einen nicht mehr los. Im Sommer wie im Winter tanzen in den Neubauparks Paare auf den betonierten Freiflächen argentinischen Tango. Das ist so normal wie der Knoblauch im Essen. Und es lebt jene Tradition für die Jungvermählten weiter, am Tag der Hochzeit die Kriegsdenkmäler in der Stadt anzusteuern. Ein eindrucksvolles steht in Jekaterinburg, dem früheren Sverdlovsk. Zum dortigen Denkmal für die Teilnehmer und Gefallenen im Afghanistankrieg begibt sich dann der Tross der Feiernden und lässt sich vor dem resignierten Kämpfer ablichten. Wie ernst gemeint dieses Ritual sein mag, entschlüsselt sich dem fremden Blick zwar nicht, doch beeindruckt es ungemein.
ein russischer Wahnsinn
Der Wahnsinn der Zaren sei die einzige Kultur, die Russland habe, resümiert Schulze in einer seiner ‚Augenblicksgeschichten‘. Was genau damit gemeint ist, bleibt unklar, zunächst aber klingt es äußerst hart. Doch auch dieser Einschätzung lässt sich etwas abgewinnen. So geben etwa die fragilen Glühbirnen zu denken, die selbst an Laternen in den abgelegensten Winkeln des Landes leuchten. Man möchte nach der ökonomischen Verhältnismäßigkeit fragen. Die aber scheint kein Kriterium, ebenso wenig wie die ökologische Lage. Hier das Land des Brachialen, da das eines ästhetischen Feingefühls, dessen vielfältige materielle Konkretionen im hektischen Alltag allzu leicht untergehen. Wenn im Russischen tatsächlich eine Art von ‚Wahnsinn‘ beheimatet ist, dann vielleicht, dass in Russland strenge Reglementierung mit großzügiger Sorglosigkeit einhergeht. Wo die bestgeheizten Wohnungen weiterhin über die Fenster reguliert werden, ist jeder für sich ein kleiner Zar. Das ist der Wahnsinn.
Jörn Münkner
Jahrgang 1970. Studium der Amerikanistik/Anglistik, germ. Mediävistik und Deutsch als Fremdsprache. Tätigkeit als Robert Bosch Lektor an Hochschulen in Polen und Russland. 2008 Promotion im Fach Ältere deutsche Literatur, anschließend Beginn der Programmkoordination des Promotionskollegs “PhD-Net: Das Wissen der Literatur” an der Humboldt-Universität zu Berlin