von Carolin Hensler
Das vermeintliche Gleichgewicht unserer Welt basiert auf einem komplizierten Gefüge aus Kontrollmechanismen. In Listen halten wir die Bevölkerungszahlen unseres Landes fest, speichern wir die Kontaktdaten unserer Lieben oder dokumentieren die Ebbe in unseren Kühlschränken. Kein Gebäude wird ohne Strukturplan, keine Straße ohne Eintrag ins bundesweite Verkehrsverzeichnis erbaut. Diagramme verdeutlichen uns die jährlichen Niederschlagsraten und veranschaulichen die Sitzverteilung im Bundestag. Kein strukturiertes Leben ohne diese Listen, Diagramme und Karten.
Wir sind davon überzeugt, diese strikte Form von Kontrolle zu brauchen, sie grenzt uns ein, verleiht unseren Leben Schranken, innerhalb derer wir uns in Sicherheit fühlen. Doch was, wenn diese Schranken durchbrochen würden? Drohte uns dann der völlige Orientierungsverlust, das Verschwinden in der schwarzen Unendlichkeit des Raum-Zeit-Gefüges? Oder gewönnen wir sogar etwas aus solch einer Grenzerfahrung? Der amerikanische Jungschriftsteller Reif Larsen geht dieser Frage in seinem Debütroman nach und zeichnet mit Die Karte meiner Träume ein warmherziges Portrait über einen mutigen kleinen Mann, der auszieht, seine eigenen Schranken zu überwinden und das Verstehen zu lernen.
Nach dem Tod seines Bruders Layton wächst der 12-jährige T.S. gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern, einem Rancher und einer Wissenschaftlerin, auf einer kleinen Farm in den Rocky Mountains auf. Vom Vater wegen seines wenig robusten Körperbaus und seines ausgeprägten Hangs zum wissenschaftlichen Denken für die Farmarbeit als unbrauchbar gebrandmarkt, verbringt T.S. seine Kindheit mit dem Zeichnen von Illustrationen und Karten. In ihnen hält er in wissenschaftlicher Akribie jede Begebenheit des Alltags auf der Coppertop Ranch fest, befasst sich mit der Kartographie von Landstrichen oder dokumentiert die Arbeit seiner Mutter, einer erfolglosen Käferkundlerin. Als Dr. Yorn, ein Bekannter von T.S.´ Mutter und ebenfalls Wissenschaftler, die Illustrationen bei einem Wissenschaftspreis des Smithsonian-Instituts einreicht und T.S. als Preisträger nach Washington eingeladen wird, trifft der Junge eine folgenschwere Entscheidung: er beschließt, auf einem Güterwagen der Union Pacific von Montana quer durch die Vereinigten Staaten nach Washington zu reisen — allein und ohne das Wissen seiner Eltern und Dr. Yorns. Die Reise wird für T.S. das zugleich größte und gefährlichste Abenteuer seines jungen Lebens, doch dieses fordert beinahe einen hohen Preis.
Mit Die Karte meiner Träume entwirft der erst 29-jährige Reif Larsen das Portrait einer traumatisierten Familie. Geschickt lässt er dem jüngsten und vermeintlich schwächsten Familienmitglied die Aufgabe zukommen, diesen Schockzustand zu durchbrechen und seine Angehörigen aus der Starre zu befreien, in die sie nach dem Tod von T.S.´ jüngerem Bruder Layton verfallen ist. T.S.´s Andersartigkeit, sein Talent zum Festhalten der feinsten Begebenheiten auf Papier, prädestinieren ihn von Beginn der Geschichte an für die Sonderrolle des ungewöhnlichen Helden. T.S. hat seinen Platz in der Familie noch nicht gefunden, er steht zwischen den Eltern, die ihn beide auf unterschiedliche Weisen ignorieren. Für den Jungen gibt es keine familiäre Stabilität, keine Geborgenheit durch die Eltern oder gar die Anerkennung in einem Freundeskreis. Die einzige Konstante in T.S.´s Leben sind seine Karten. Für den Jungen bedeutet das Festhalten nahezu jeder Begebenheit auf der Farm, und sei es die Regelmäßigkeit des väterlichen Whiskeykonsums, Kontrolle. Reif Larsen verwendet dieses Motiv als Hauptgegenstand der Handlung: seit dem tragischen Tod Laytons Stille auf die Coppertop Ranch eingekehrt. Das Schweigen der Familienmitglieder über den Hergang des Unglücks hat ihren Ursprung im Zweck der Verdrängung — Schweigen als Schutzfunktion, als Mittel, sich nicht auseinandersetzen, eine mögliche Schuld an den Geschehnissen einräumen zu müssen. Auf seiner Reise nach Washington bricht dieser Schutzwall für T.S. entzwei. Zum ersten Mal ist er gezwungen, Einsamkeit und Trauer zu spüren — und Schuld, denn T.S. war anwesend, als sich Layton beim Spielen mit einem Gewehr eine Kugel in den Kopf jagte. Auf sich allein gestellt und den Interessen des Instituts ausgeliefert, begibt sich T.S in Washington auf die Suche nach seiner ganz eigenen Erfahrung von Sicherheit. Und diese macht er ausgerechnet im Aufeinandertreffen mit seinem Vater und einem unerwarteten Eingeständnis. „Der Weg, den wir gingen, stand auf keiner Landkarte”, befindet der junge T.S. gegen Ende seiner Geschichte und nimmt, obwohl weit weg von zuhause, endlich seinen Platz in der Familie ein.
Reif Larsens Debütroman ist ein Geniestreich, eine liebevolle Ansammlung winziger und vermeintlich unbedeutender Aspekte, die ein bedeutendes Ganzes bilden. Dokumentiert durch die Augen seines jungen Protagonisten, liefert der Jungautor einen Reisebericht der anderen Art: Familientragödie und Abenteuerroman verbinden sich mit den Elementen unterhaltender und zum Schmunzeln anregender Jugendliteratur. Larsen Sprache regt zum Staunen an, an Leichtigkeit kaum zu überbieten, verpackt sie auch schwerwiegende Handlungsstränge mit viel Charme. Kein Motiv misst seine Begründung, wie Schutzengel begleiten die „kleinen Begebenheiten” den jungen Protagonisten auf seiner wichtigen Reise nicht nur durch die USA, sondern durch die Geschichte einer Familie.
Reif Larsen: Die Karte meiner Träume
S. Fischer Verlag, September 2009
435 Seiten