Haiti erkämpfte sich in den Folgejahren der Französischen Revolution als erste karibische Nation den Weg in die Freiheit und deklarierte am 1.1.1804 seine Unabhängigkeit. Dies war ein historischer Moment, hatte das Land doch nicht nur den Sieg gegenüber einer europäischen Kolonialmacht davongetragen, sondern sich zudem selbst aus der Sklaverei befreit und somit den Grundstein der ersten “schwarzen Republik” gegründet (vgl. Gewecke 1996: 24f). Im Sinne der Doktrin der
île une et indivisible und gestützt von Teilen der Bevölkerung Santo Domingos wurde der Ostteil der Insel 1822 an Haiti angegliedert und stand bis 1844 unter haitianischer Verwaltung.
1 Auf diesen aus dominikanischer Sicht als Besatzung bezeichneten Zeitraum folgten Jahrzehnte der Spannungen zwischen beiden Staaten. Michiel Baud (1999: 155) betont die weit reichenden Folgen, wenn er hervorhebt, die Tatsache, dass die Dominikanische Republik ihre Unabhängigkeit von einer ehemaligen Kolonie und nicht von einer Kolonialmacht erkämpfen musste, habe seit jeher den dominikanischen Nationalismus stark geprägt (vgl. auch NCHR 1996: 6). Der dominikanische Historiker und Soziologe Franco Pichardo (2003: 114) unterstreicht ebenfalls, dass sich die Anfänge des Antihaitianismus in der Dominikanischen Republik auf dieses Faktum zurückführen lassen, welches am Ursprung zahlreicher rassistischer Stereotypen steht.
Im Folgenden soll deshalb in einem ersten Teil untersucht werden, wie sich der dominikanische Identitätsbildungsprozess in Opposition zur Definition einer haitianischen Alterität vollzogen hat und welche Auswirkungen diese historische Ausgangslage für die aktuelle Situation haitianischer Immigranten in der Dominikanischen Republik hat. In einem zweiten Teil soll schließlich beleuchtet werden, wie in dem Roman
La Avalancha (2006) des dominikanischen Autors Manuel Matos Moquete das Konzept einer relativen (dominikanischen) Identität literarisch umgesetzt wird und zugleich die antihaitianische Rhetorik im Text auf sublime Weise demontiert wird.
1. Dominikanische Identität und haitianische Alterität
Aus der oben beschriebenen historischen Ausgangslage heraus entstand die höchst interessante Situation, in der die dominikanische Nation die eigene Identität über den Umweg der haitianischen Alterität schuf. Gewecke (1996: 50) zufolge war der Antihaitianismus in der Zeit nach der Unabhängigkeit weniger ethnisch als vielmehr sozio-politisch motiviert. 2 Während die von der Vernachlässigung durch Spanien herrührende Enttäuschung eher zügig überwunden wurde, so blieb das Misstrauen gegenüber dem geographischen Nachbarn dauerhaft bestehen. Trotz einer gewissen Annäherung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Opposition zwischen beiden Staaten als Fundament für die Definition einer dominicanidad herangezogen. Auch wenn die Identifikation mit einer ethnisch-kulturellen Kultur, auf deren Spaniertum sich insbesondere die weiße Elite berief, sich für die farbigen Bevölkerungsgruppen als problematisch erwies (vgl. Gewecke 1996: 69ff), so konnte sich der Topos der Hispanizität der kulturellen Ursprünge der dominikanischen Nation doch beharrlich halten. Angesichts der Vernachlässigung durch das europäische Zentrum in der Vergangenheit einerseits und der Ablehnung afrikanischer Wurzeln aufgrund der negativen Erfahrung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Einfluss europäischer Rassenlehren andererseits wandte sich auch die Dominikanische Republik — ähnlich wie zahlreiche andere lateinamerikanische Nationen — dem Indio als “Opfer und Held der Conquista” (Gewecke 1996: 87) und somit als Identifikationsfigur für ein dauerhaftes Nationalbewusstsein zu, welches die Berufung auf eine reine Hispanizität ablöste. Die Selbstbezeichnung negro fiel damit für die farbige Bevölkerung der Dominikanischen Republik weg, bezog sie sich doch zunehmend ausschließlich auf Haitianer, und wurde durch Begriffskonstruktionen wie indio canela oder indio lavado ersetzt (vgl. Gewecke 1996:74). Anders als andere lateinamerikanische Nationen, bei denen der Gegensatz “Zivilisation ‑Barbarei” im eigenen Land aufgebaut wurde, projizierten die Dominikaner den “barbarischen” Gegenpart zur eigenen Nation damit aber über die eigenen territorialen Grenzen hinweg und entwarfen sich in Opposition zum Nachbarstaat Haiti (vgl. u.a. Baud 1999: 156, Gewecke 1996: 87). Trotz der großen ethnischen Varianz der eigenen Bevölkerung hielt die dominikanische Elite, welche den Nachbarstaat auch weiterhin als Bedrohung der eigenen Souveränität empfand, somit daran fest, die eigene Identität entgegengesetzt zur haitianischen Alterität zu definieren. Betrachtete man die Dominikaner als Nation mit hispanischen Ursprüngen und katholischer Tradition, war man überzeugt, die haitianische Bevölkerung zeichne sich durch afrikanische Wurzeln und Gepflogenheiten sowie einen Mangeln an Zivilisation aus. Dieser españolismo symbolisierte laut Baud (1999: 156) den Wunsch einer geschwächten und verunsicherten dominikanischen Elite, sich an den europäischen Wurzeln festzuhalten und weiterhin Teil der “zivilisierten Welt” zu sein. Gleichzeitig negierte man die eigenen afrikanischen Wurzeln. Matibag (2003: 163f) zufolge, der auf einen Essay von Valerio-Holguín Bezug nimmt, 3 haben die dominikanischen Tropen der haitianischen Primitivität eine ganze Reihe von Oppositionen geschaffen wie civilizado vs. salvaje, cultural vs. natural, catolicismo vs. vudú bzw. hispano vs. africano. Eine solch radikale Gegenüberstellung ist jedoch äußerst problematisch, so weist unter anderem der Soziologe Dore Cabral (1995: 238) darauf hin, dass beide Nationen europäische und afrikanische Wurzeln haben. Die Verfremdung des Ursprungs der dominikanischen Nation und die Ablehnung alles Afrikanischen bringt Franco Pichardo zu folgendem zynischen Kommentar:Somos el único país del mundo donde el negro no es negro. Ni mucho menos, ¡Dios nos libre!, tiene vinculación con África. El hombre de color dominicano es “indio” […]. El negro dominicano, no es negro, lo repito, ni puede serlo, porque para nosotros los negros vienen de Haití y los haitianos vienen del África, y el pueblo dominicano, habitante de este “paraíso racial” donde la discriminación ni existió, ni existe, ni asomó nunca, el negro nuestro, vino del cielo. (Franco Pichardo 2003: 113) 4Zum Ende des 19. Jahrhunderts verschob sich der Fokus graduell und die alte Angst vor dem militärisch übermächtigen Nachbarn machte der Geringschätzung und Verachtung gegenüber einer Nation Platz, die zunehmend mit wachsenden politischen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Da diese Entwicklung auch die Immigration von Haitianern gen Osten massiv ansteigen ließ, legte der antihaitianische Diskurs im Folgenden vermehrt Wert auf ethnische und rassische Faktoren und ließ ein Überlegenheitsgefühl bei vielen Dominikanern entstehen (Baud 1999:161). Das Erbe dieser Ideologie erfuhr seine radikalste Ausprägung unter der Trujillo-Diktatur (1930–1961), eine Ära, welche sich durch einen zunehmend aggressiven Antihaitianismus auszeichnete, der sich sowohl kultureller als auch ethnischer Argumentationen bediente. Seinen Höhepunkt fand er zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Corte, jenem Massaker an der haitianischen Bevölkerung auf dominikanischem Boden im Jahre 1937. Tausende Menschen kamen bei diesem Klimax der von Trujillo betriebenen dominicanización de la frontera zu Tode. 5 Er stellt laut Turits (2002: 623) den Gründungsmoment der Legitimierung des Regimes im antihaitianischen Nationalismus dar und diente der nationalen Verteidigung gegenüber der illegalen Einwanderung von Haitianern. Wortführer des daraus entstandenen antihaitianischen Diskurses, der die politische Rhetorik der Folgezeit massiv beeinflusste und auch noch aktuell bestehende Vorurteile prägte, waren Manuel Arturo Peña Batlle und Joaquín Balaguer. Letzterer übte nicht nur einen starken Einfluss als Intellektueller aus, sondern hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem mehrfach das Präsidentenamt der Dominikanischen Republik inne. Ziel der Ideologie war es, die vorgeblich europäische Identität der Nation zu verteidigen. Da die Trujillo-Zeit sich als Höhepunkt der antihaitianischen Ideologie darstellt, gilt ihr in diesem Aufsatz besondere Aufmerksamkeit. Auf eine detailgetreue Nachzeichnung der unterschiedlich gelagerten Beziehungen zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti über die letzten 200 Jahre und des antihaitianischen Diskurses soll deshalb an dieser Stelle verzichtet werden. Vielmehr soll die Rhetorik der Truijillo-Ära, gilt sie doch als Modell für die Folgezeit, als repräsentativ herangezogen werden. Peña Batlle näherte sich der dominikanischen Identität über eine historische Analyse Hispaniolas, wobei die Existenz der haitianischen Alterität in seiner Argumentation eine zentrale Rolle einnahm. Er betonte, dass das dominikanische Volk direkt von den spanischen Kolonisatoren abstamme und legte mit seinem mehr nationalistisch als rassistisch ausgerichteten Diskurs die Wurzeln der dominikanischen Nation in die Kolonialzeit, deren Erbe er positiv konnotierte. Dennoch schrieb er Spanien auch diverse Verfehlungen zu, darunter insbesondere die Schuld an der Entstehung der französischen Kolonie Saint Domingue und der letztendlichen Teilung der Insel Hispaniola. 6 Diese stehe nun am Ursprung der Wirrungen um das dominikanische Nationalbewusstsein, denn sie habe die Degeneration einer vitalen Identität verursacht. Die kulturelle und ethnische Heterogenität der Insel sei durch diese so erzwungene Koexistenz zweier Kulturen hervorgegangen, wobei die schwarze Kultur Haitis Peña Batlle zufolge aufgrund der Unmenschlichkeit des französischen Sklavensystems jeglicher kultureller Entwicklung und moralischen Fortschritts entbehre, was es den Haitianern trotz der erfolgreichen Revolution unmöglich machte, Mitglied der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen zu werden (Baud 1999:163ff). Peña Batlles historische Analyse, deren Argumente von vielen Intellektuellen der damaligen Zeit gestützt wurden, entwickelte sich während des Trujillo-Regimes zu einer offen rassistischen Rechtfertigung der angeblichen Überlegenheit der Dominikaner gegenüber dem Nachbarn Haiti. Zu einem noch bekannteren Vertreter dieses antihaitianischen Diskurses während und auch nach der Diktatur entwickelte sich Joaquín Balaguer, der Baud (1999: 168) zufolge zum Symbol der Kontinuität des konservativen dominikanischen Nationalismus im 20. Jahrhundert wurde. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass er einerseits einen rassistisch motivierten Ansatz vertritt und andererseits im Gegensatz zu Peña Batlle von der Existenz einer statischen und homogenen dominikanischen Nation ausgeht. Diese zeichne sich durch ihre europäische Kultur und ihren spanischen Ursprung aus und wird der ethnisch und kulturell als minderwertig angesehenen haitianischen Nation entgegengesetzt. Haiti stilisiert er zum Feind des dominikanischen Nationalbewusstseins und wirft dem Land vor, es beabsichtige durch die beständige ethnische und kulturelle Bedrohung eine Schwächung des dominikanischen Volkes durch “Rassenmischung”. Balaguer wendet sich hier direkt gegen die afrikanischen Ursprünge der Haitianer. 7 Zugleich beschwört er immer wieder die alte Angst gegenüber einer angeblichen haitianischen Invasion, indem er auf die massive haitianische Immigration in die Dominikanische Republik verweist. Er spricht von einem imperialismo haitiano, der zusätzlich dadurch verstärkt werde, dass sich die haitianische Bevölkerung aufgrund ihrer primitiven Natur viel schneller fortpflanze, weshalb sie die dominikanischen Ressourcen massiv bedrohe (Baud 1999: 168ff). Sicherlich stellte nun die Ära Trujillo den Höhepunkt des dominikanischen Antihaitianismus dar. So nennt Franco Pichardo (2001: 37) als Grund für das Erstarken des Antihaitianismus unter Trujillo neben der steigenden Zahl haitianischer Einwanderer infolge des Bedarfs an billiger Arbeitskraft in der Zuckerindustrie die Tatsache, dass der Diktator die antihaitianische Doktrin gewissermaßen zu einer pseudonationalistischen Staatspolitik gemacht habe. Dies wiederum habe tief greifende Folgen für die Wahrnehmung der Haitianer innerhalb der dominikanischen Bevölkerung gehabt (vgl. auch NCHR 1996: 9). Trotzdem kann man auch heute nicht von seinem Ende sprechen. Sicherlich liegen Wooding und Moseley-Williams (2004: 94) nicht ganz falsch, wenn sie betonen, dass der antihaitianische Diskurs nicht mehr Bestandteil der offiziellen Ideologie ist und die Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart weniger virulent ist. Viele Intellektuelle haben versucht die rassistischen Stereotypen und Vorurteile zu überwinden, wie es zum Beispiel Veloz Maggiolo (1977) und Matibag (2003) in ihren Studien zum Haiti-Thematik in der Literatur zeigen. Nichtsdestotrotz war die Problematik auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr aktuell und ist es heute noch. 8 Selbst wenn es nicht zur Gänze evident ist, inwieweit breite Teile der Bevölkerung hinter dem antihaitianischen Diskurs stehen oder inwieweit dieser lediglich die Sicht einer politischen Elite repräsentiert (vgl. die Diskussion bei Baud 1999: 172f oder Franco Pichardo 2003: 67), lässt sich die Brisanz der Situation nicht verleugnen. Die Hetzkampagne Balaguers gegen seinen haitianischstämmigen politischen Rivalen José Francisco Peña Gómez in den 1990er Jahren sowie der Erfolg der Reedition seiner antihaitianischen Ideen 1983 in La isla al revés legen davon Zeugnis ab. Auch Manuel Núñez’ Text El ocaso de la nación dominicana, der 2001 eine Neuauflage erfuhr, greift die alten Argumente einer vermeintlichen Destabilisierung der dominikanischen Kultur durch die haitianische wieder auf (vgl. Sagás 1993: 4). Liest man die Pressemitteilungen der letzten Jahre wird man außerdem feststellen, dass beständig von unrechtmäßigen Ausweisungen haitianischer Immigranten aus der Dominikanischen Republik sowie Übergriffen auf Haitianer, die meist für ein Verbrechen verantwortlich gemacht werden, die Rede ist. Zahlreiche Studien und Berichte von NGOs und Menschenrechtsorganisationen (u.a. Lemoine 1981, Báez Evertsz 1986, Wooding / Moseley-Williams, NCHR 1996, AI 2007, Human Rights Watch 2002, Scuriatti 2001) zeigen klar, dass die antihaitianische Rhetorik weiterhin Auswirkungen auf den Alltag der Menschen hat und bestätigt die Aktualität der Diskriminierung. Bereits 1996 stellte die National Coalition of Haitian Rights folgendes fest:
This exploitation [of Haitian workers] takes place in an atmosphere of often-intense anti-Haitian rhetoric abetted by major political figures, the military and the police. Historically, its animus has been most evident in the treatment of sugar cane cutters; today, it extends to Haitians (and Dominican Haitians) working in all areas of Dominican economic life. (NCHR 1996:4)Dieses Zitat zeigt zugleich die Rechtfertigungsgrundlage einer solchen Rhetorik. Auch Baud (1999: 172) spricht an, dass der Antihaitianismus sich mit der ansteigenden Präsenz der Haitianer im Land immer mehr herauskristallisierte. Ursprung dieser Entwicklung waren die Investitionen in den Ausbau der dominikanischen Zuckerindustrie unter der ersten Besatzung durch die Vereinigten Staaten (1916–1924), was zu einer starken Nachfrage nach billiger Arbeitskraft geführt hat, die wiederum größtenteils durch haitianische braceros gedeckt wurde (vgl. u.a. NCHR 1996: 7, Wooding / Moseley-Williams 2004 : 26f). Diese Migrationstendenz, die sich auf ein unterschiedliches ökonomisches Entwicklungsniveau zurückführen lässt, besteht bis heute fort. Schätzungen zufolge befinden sich vermutlich etwa 500.000 Haitianer in der Dominikanischen Republik. Die Zahlen schwanken, doch liegt dies nicht nur an der unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung der Quellen (vgl. Wooding / Moseley-Williams 2004: 34ff). Die Unterschiede sind vielmehr auch darauf zurückzuführen, dass die genaue Zahl nie ermittelt wurde, der Großteil der haitianischen Arbeitskraft illegal sowie informell ist und außerdem unklar bleibt, welche Personengruppen hinzuzuzählen sind. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass der rechtliche Status haitianischer Immigranten und ihrer Nachkommen — hier gilt es etwa Gastarbeiter, jene, die dauerhaft auf dominikanischem Boden leben oder etwa die Nachkommen, die bereits in der Dominikanischen Republik geboren sind, zu unterscheiden — nicht klar definiert ist.9 Das oben genannte Zitat aus einem Bericht der National Coalition of Haitian Rights über die Situation in den so genannten bateyes — den Arbeitersiedlungen in den Zuckerrohrplantagen — und den haitianischen Immigranten allgemein weist aber auch auf die Tatsache hin, dass sich die Situation in den letzten Jahren geändert hat. Eine Ursache liegt darin begründet, dass längere Aufenthalte im Gastgeberland die ursprüngliche Saisonarbeitermigration überlagert haben. Während das Gros der haitianischen Arbeiter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in der Zuckerindustrie tätig war, öffneten sie sich insbesondere infolge des Niedergangs derselbigen in den 1980er Jahren und einer Ausdifferenzierung der Wirtschaft im Lande den Weg in zahlreiche andere Sektoren der Landwirtschaft sowie weitere florierende Wirtschaftszweige wie das Bauwesen und den Tourismus. Diese Auffächerung der haitianischen Arbeitskraft hatte zur Folge, dass ihre Präsenz in der dominikanischen Gesellschaft sichtbarer wurde, was die alten Ressentiments und Vorurteile sowie die Angst vor einer “friedlichen Invasion” der Haitianer erneut schürte (AI 2007: 4). Die neue Situation führte nicht selten zu Anfeindungen und Übergriffen (vgl. u.a. AI 2007: 12). Angesichts der Ausmaße der Problematik widmete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Jahr 2007 der Diskriminierung haitianischer Arbeiter und antihaitianischen Tendenzen in der Dominikanischen Republik einen separaten Bericht (AI 2007), in dem sie die vorherrschende Fremdenfeindlichkeit gegenüber Individuen, die für Haitianer gehalten werden, die zahlreichen unrechtmäßigen Deportationen sowie den unsicheren rechtlichen Status der Einwanderer massiv angreift. Als problematisch wird weiterhin die Untätigkeit der dominikanischen Regierung im Falle von Übergriffen oder hinsichtlich der mangelhaften Gesetzeslage massiv kritisiert. Die Behörden tolerieren die für die dominikanische Wirtschaft bedeutsamen illegalen Einwanderer aus Haiti geflissentlich und verleugnen zugleich die Diskriminierungsproblematik (AI 2007:12). Die Diskriminierung von Personen haitianischer Abstammung aufgrund von ethnischen, sprachlichen oder nationalen Faktoren ist somit keineswegs ein Kapitel der Vergangenheit, sondern auch heutzutage noch traurige Realität, auch wenn sich die Situation seit den Präsidentschaften Balaguers gebessert haben mag.
2. Die Demaskierung des antihaitianischen Diskurses in La Avalancha
Eine solche Fremdenfeindlichkeit gegenüber einer Minderheit im eigenen Land ist nun leider für sich nichts Außergewöhnliches. Was die Situation in der Dominikanischen Republik jedoch so interessant macht, ist eben die Tatsache, dass das dominikanische Nationalbewusstsein sich historisch gesehen zu großen Teilen in Opposition zur haitianischen Alterität geformt hat und diese Abgrenzung auch bis in die Gegenwart fortbesteht. Es wurde bereits nachskizziert, wie sich die dominikanische Identität in Opposition zur haitianischen Kultur im nationalen Kontext herausgebildet hat und wie die entstandenen Gegensatzpaare theoretisch unterfüttert wurden. Der Topos der haitianischen Andersheit wurde gezielt aufgegriffen und hat den dominikanischen Nationaldiskurs über weite Strecken bestimmt. Wir haben es hier, um ein Konzept von Michael und Schäffauer aufzugreifen, mit einer “relativen Alterität” zu tun, bei der sich das Selbst über die Andersheit konstituiert und sich zugleich von dieser abgrenzt. Eine solche Alterität gilt es deshalb zu definieren als “stets gesehene bzw. mitgedachte Notwendigkeit einer komplementären Alterität der Identität” (Michael / Schäffauer 2004: 14). Eigenheit ist somit immer auf Andersartigkeit begründet und “das Selbst ist […] das Ganze nach Abzug des Anderen, wobei das Andere ein arbiträres Konstrukt bleibt” (Michael / Schäffauer 2004: 14). Im zweiten Teil der Untersuchung soll nun analysiert werden, wie die Literatur solche Konzepte der Identität und Fremdheit transportieren und (de)konstruieren kann, kommt ihr doch eine bedeutende Rolle bei der Ausformung von Selbstbildern und kollektiver Identität zu (vgl. z.B. Erll et al. 2003: ivf). Hierzu soll der Roman La Avalancha von Manuel Matos Moquete, erschienen 2006 in Santo Domingo, herangezogen werden. Diese Wahl liegt auf mehreren Faktoren begründet. Zum einen zeichnet sich der Text durch ein ironisches Spiel mit dem Konzept der relativen Identität der Dominikaner aus, welche beständig mit der Andersartigkeit der Haitianer verschlungen ist. Zum anderen nimmt der Roman eine Sonderposition ein, schließt er doch eine Lücke in der Literatur der Insel, indem er seine Aufmerksamkeit der aktuellen Migrationsproblematik schenkt und sich nicht wie zahlreiche andere dem Massaker von 1937 als dem eskalatorischen Ereignis schlechthin widmet. 10 Die Handlung des Romans nimmt die Geschehnisse im dem Viertel Los Hospedajes ins Visier und ist in einer nicht genauer bestimmten Gegenwart angesiedelt, was sich durch unterschiedliche Anspielungen erkennen lässt, wie zum Beispiel die Regentschaft Aristides, die vermehrte Tätigkeit der Haitianer im Bauwesen, zeitgenössische Kleidung oder aber HIV. Di Pietro (2006) zufolge stehen sich in dem Text zwei Sichtweisen gegenüber. Zum einen werden wir mit dem traditionellen Nationalismus der Protagonistin Carina konfrontiert, der sich auf Denkmuster der Trujillo-Zeit beruft und zu Rassismus und Gewaltausbrüchen führt; zum anderen begegnen wir der fortschrittlichen Einstellung ihres Bruders, dem Ingenieur, der zwar wirtschaftlichen Nutzen aus der Ausbeutung haitianischer Arbeiter zu ziehen erhofft, sich insgesamt aber offener gegenüber der anderen Kultur zeigt und sie in Form seiner haitianischen Geliebten Irena auch in sein Leben lässt. In einem Gespräch im Jahre 2009 hat Matos Moquete betont, dass es ihm wichtig war, in seinem Roman die breite Palette der Diskurse, die sich mit der Anwesenheit der Haitianer auf dominikanischem Boden beschäftigen, nachzuzeichnen. 11 In mehreren Abstufungen stellt er somit unterschiedliche Sichtweisen der dominikanischen Identität oder vielmehr der haitianischen Alterität gegenüber, weshalb es auch nicht überrascht, dass dem Roman teilweise antihaitianische Tendenzen vorgeworfen wurden. Eine solche Kritik hat jedoch eindeutig den Subtext des Romans außer Acht gelassen. Dass der Text deutlich den klassischen Antihaitianismus einer Carina ablehnt und ein harmonisches Miteinander favorisiert, soll im Folgenden nachgezeichnet werden, repräsentiert La Avalancha als Ganzes doch eine sublime und unterschwellige Kritik und Demontage der rassistischen Sichtweisen, die in dieser fiktiven Gesellschaft schwelen, und verschweigt gleichzeitig aber auch nicht die Komplexität dieses Alteritätsdiskurses Der Text wird vornehmlich von jenem Handlungsstrang dominiert, in dem beständig wechselnde Charaktere aufeinander treffen und der durch Berichte über die Schandtaten und die Unzivilisiertheit der haitianischen “Mitbürger” und fremdenfeindliche Äußerungen bestimmt wird. Gemeinsam beruft man sich auf eine idyllische Zeit vor der Ankunft der Haitianer, deren Ende in der Andersheit der Immigranten angelegt ist:Se ignoraba el delito en Los Hospedajes. No se aposentaba el crimen en la ilustre villa. En los alrededores del mercado no acontecía un robo. Ni salteadores nocturnos ni carteristas diurnos rondaban por la respetable vecindad. De aquel tiempo daba testimonio el joyero […]. […] vivíamos en un lugar tan noble que la joyería permanecía sola y abierta cuando nos retirábamos a dormir la prolongada siesta. (Matos Moquete 2006:10) 12Dieser vergangenen Idylle gegenüber steht nun die Gegenwart und “el amargo sabor de encontrarse viviendo en el Petit Haití” (Matos Moquete 2006: 11) 13. Ergänzt wird diese scheinbare Vertreibung aus dem Paradies durch einen negativen Gründungsmythos: Honson Baliat, seinerzeit einziger Haitianer im Viertel, steht am Ursprung des Niedergangs, denn auf sein Konto geht laut den Einheimischen der erste Raub. Wie so oft auch später im Text wird dieser Vorwurf jedoch sogleich vom Erzähler entwertet, indem dieser die Figur M’a Guiselle zitiert, welche einwendet, Honson Baliat hätte nicht einmal gewusst, was eine Uhr sei. Im Hinblick auf dominikanische Identitätskonstruktionen scheint es jedoch noch viel interessanter, dass Baliat zudem als der einzige Schwarze des Viertels bezeichnet wird — “el único negro presente en el lugar” (Matos Moquete 2006: 12) 14 -, was nicht nur darauf verweist, dass dem ethnisch Anderen kriminelle Eigenschaften zugeschrieben und eine Beteiligung der eigenen Gemeinschaft kategorisch ausgeschlossen wird, sondern zugleich auf die Tatsache anspielt, dass die afrikanischen Elemente dominikanischer Kultur von Grund auf verleugnet werden (vgl. Zitat von Franco Pichardo (2003:113) zur Hautfarbe in der Dominikanischen Republik weiter oben). Es wird hier deutlich, dass der Erzähler ironisch mit dem antihaitianischem Diskurs spielt. Werden die antihaitianischen Alteritätskonzepte, auf denen sich das Gemeinschaftsgefühl vieler Einheimischer begründet, vordergründig zwar unkommentiert gelassen, gelingt es dem ihm jedoch, sie durch die Art der Darstellung zugleich zu demontieren und somit die Absurdität einer solchen Selbstdefinition durch Oppositionssetzung des Fremden zur Schau zu stellen. Der Text von Matos Moquete bedient sich hierzu zahlreicher Bilder der Fremdheit aus dem traditionellen antihaitianischen Diskurs, mit deren Hilfe die Figuren durch Opposition ihr Selbstbild aufbauen. Der Verweis auf die afrikanischen Wurzeln und die gleichzeitige Abgrenzung der dominikanischen Identität durch dieselbigen in der Passage über Honson Baliat sind nur ein Beispiel. Zugleich deuten sowohl der Titel des Romans als auch zahlreiche Anspielungen im Text auf die Angst vor der haitianischen Invasion hin, ein Bild das durch Carinas Halluzinationen von abstoßendem Gewürm verstärkt wird (siehe z.B. Matos Moquete 2006: 31f). Für die fremdenfeindlichen Einheimischen erobern die Haitianer nach und nach den Raum ihrer eigenen Identität, zeigt sich ihre Präsenz doch alltäglich auf den Straßen wie am Stand von M’a Guiselle oder durch die Bauarbeiter, was schließlich im Neubau eines multifunktionellen Hochhauses gipfeln soll: “El Petit Haití era el espacio entero” (Matos Moquete 2006: 41) 15. Mit dem Gerücht, Haitianerinnen brächten ihre Kinder auf der Straße zur Welt, und zwar siebenhundert pro Minute (Matos Moquete 2006: 24), wird erneut auf die Unterstellung des antihaitianischen Diskurses abgehoben, Haiti stelle aufgrund des höheren Bevölkerungswachstums eine drohende Gefahr für die dominikanische Nation dar. Diese angebliche Sitte spielt bereits darauf an, dass Haitianer außerdem als barbarischer Gegenpart des zivilisierten Dominikaners dargestellt werden, der sich nicht nur durch besonders gewalttätiges und bedrohliches Verhalten auszeichnet, sondern der sich auch physisch klar von den Einheimischen unterscheidet — “Eran feos, ordinarios, ásperos y salvajes. […] Lo más distintivo era que a leguas se les reconocía por el mal olor. Y el color ni se diga” (Matos Moquete 2006: 55) 16 — und der animalische Eigenschaften aufweist. Alter Aberglaube, die Haitianer würden Kinder klauen und Unschuldige mit Macheten zerstückeln — eine Geschichte, die durch den überzogenen Zusatz “[e]ra algo que sabía desde la infancia. […] Eran historias que […] nunca comprobó.” (Matos Moquete 2006: 14) 17 ohne gleichzeitige Nennung von Quellen stark in Frage gestellt wird — wird in der Gegenwart des Textes ergänzt durch moderne Mythen von haitianischen Verbrecherorganisationen La Mano Negra, deren schreckliche Gräueltaten dieselbigen unsagbar machen. Im Laufe der Geschichte wird jedoch auch diese Aussage verstärkt in Zweifel gezogen, sei es durch die Tatsache, dass der Verfolger der Mano Negra, Capitán Purrié, der Verbrecherbande wie einem Gespenst hinterherirrt, sei es durch an den Haaren herbeigezogene Erklärungen (“Está claro, esas personas, al no encontrar dónde cometer sus delitos porque allá no queda nada de nada — ni siquiera una tiendecita de ropa y perfume — han transladado sus fechorías a este lado.” (Matos Moquete 2006: 18) 18) oder sei es schließlich durch die Figur Purriés selbst, der sich durch seinen beständigen Hunger, durch den fortan seine Suche nach der Mano Negra getrieben wird und der sie in diesem oder jenem comedor immer wieder im Sande verlaufen lässt, selbst disqualifiziert (u.a. Matos Moquete 2006: 68, 71, 88). Von einem Verbrecher-Moloch wandelt sich Klein-Haiti für ihn in einen riesigen comedor. Schließlich werden den Haitianern gar diabolische Eigenschaften zugeschrieben; sie begehen nicht einfach nur Verbrechen, sondern ergehen sich vielmehr in satanischen Delikten (vgl. Matos Moquete 2006: 16f, 19). Eine Szene um die Ermordung eines Haitianers, der für den Teufel gehalten wurde, erweist sich geradezu als exemplarisch für die Entlarvung der antihaitianischen Rhetorik (cf. Matos Moquete 2006: 58ff). 19 Durch bestimmte sprachliche Formulierungen werden an der Glaubhaftigkeit der Redner und ihres Diskurses schwerwiegende Zweifel gestreut. So sind nie wirkliche Zeugen für die Schandtaten der Haitianer zugegen. Vielmehr scheinen jegliche Information auf Hören-Sagen zu beruhen und die Charaktere aus einem Automatismus heraus auf die Autorschaft der Haitianer zu schließen, ohne auch nur die geringsten Beweise zu besitzen. Zudem lassen Erzählerkommentare immer wieder Rückschlüsse auf die allgemeine Ignoranz der Vertreter des antihaitianischen Diskurses sowie ihr eigentliches Unverständnis über die Situation zu (z.B. Matos Moquete 2006: 60). Es wird folglich deutlich, dass sich Matos Moquetes in La Avalancha nicht darauf beschränkt, die dominikanischen Identitätsvorstellungen, die sich vielmehr aus haitianischen Alteritätsbilder zusammensetzen, lediglich zu rekonstruieren. Auch wenn diese stereotypen Bilder oft nur sehr subtil in Frage gestellt werden und der Text den Leser scheinbar den unkommentierten fremdenfeindlichen Äußerungen aussetzt, demontiert der Text sie bei genauerer Lektüre doch recht deutlich und destabilisiert sie durch nicht immer sogleich als Ironie und Wortwitz erkennbare Kommentare Schlussendlich stellen sich die meisten Argumente für den Leser als unhaltbar heraus. Die Vermutung liegt nahe, dass der Juwelier nur einen Schuldigen für den Niedergang seines eigenen Geschäfts und die Veränderungen, mit denen er nicht zurecht kommt, sucht (Matos Moquete 2006: 54). Auch Carina muss erkennen, dass keiner der Nachnamen des Viertels mehr “rein” ist (Matos Moquete 2006: 2010) und selbst Purrié verliebt sich am Ende in die Haitianerin Charlisse (Matos Moquete 2006: 112) — um nur einige Beispiele zu nennen. Nichtsdestotrotz zeigt sich der Stereotyp der haitianischen Andersheit als so stark verwurzelt im Identitätsdenken der Figuren, dass der Ausgang der Geschichte unabwendbar scheint. Die Spirale der angeblich von Haitianern begangenen Gewalttaten dreht sich immer weiter: “Se sospechaba de cada haitiano. Se veía en cada uno un asesino” (Matos Moquete 2006: 36) 20. Auch wenn der Text die Rhetorik des übersteigerten dominikanischen Nationalismus als unsinnig entlarvt, so zeigt er doch zugleich die Macht dieses Diskurses, aus dem schließlich ein tatsächlicher Gewaltausbruch gegenüber den Immigranten resultiert. Im Laufe des Textes wird auf ein vom historischen Antihaitianismus geprägtes Moment der kollektiven Erinnerung rekurriert, wenn etwa der Friseur auf die Notwendigkeit eines neuen Genozids hinweist: “Hay que repetir la dosis de treintisiete. Como para cualquier enfermedad como el VIH una dosis no basta; la medicina hay que dársela al enfermo cuantas veces la necesite” (Matos Moquete 2006: 64f) 21. Matos Moquete übt hier harsche Kritik an übersteigerter Fremdenfeindlichkeit, indem er dem Leser nicht nur vor Augen führt, welch ein Massaker in der Vergangenheit daraus hervorging, sondern zugleich demonstriert, dass auch in der Zukunft jederzeit wieder mit einem solchen Ausbruch zu rechnen sein könnte. Der Text bleibt die Eskalation denn auch nicht schuldig, endet der Roman mit der Ankündigung neuer Brandstiftungen, Razzien und Lynchmorde (siehe Matos Moquete 2006: 122). Trotz zaghafter Ansätze die Vorurteile gegenüber der fremden Kultur in der eigenen Mitte zu überwinden, mündet der Roman in Gewalt und zeigt, welch zentrale Stellung die Ablehnung des haitianischen Anderen für das Selbstbild der Figuren hat. Jedoch sollte man darüber nicht vergessen, dass Matos Moquete zugleich ein neues Bild der haitianischen Kultur entwirft. So steht Irena als intelligente und gebildete Frau aus Haiti nicht nur dem Klischee des animalischen und barbarischen Haitianers entgegen, sondern versucht stellvertretend die Ignoranz der Dominikaner gegenüber Haiti auszugleichen:
Lo demás era conocido, la violencia permanente, el desorden, el cambio de gobierno y el temor en las calles. Cédras, Aristide. Realmente un país inviable. ¿Pero hay poetas allá, hay escritores? […] Irena […] luego les hablaba de la larga lista de autores conocidos en Europa, Canadá y Estados Unidos. Les hablaba de los clásicos de Haití. (Matos Moquete 2006: 94) 22Auch wenn hier für die Zuhörenden die Haitianität erstmals einen Eigenwert zugesprochen bekommt und den Dominikanern nicht mehr lediglich als Abgrenzungsmoment dient, handelt es sich vorerst nur um einen Tropfen auf dem heißen Stein. Die Definition der haitianischen Alterität als Zeichen von Barbarei ist zu tief verankert. Zudem würde ihre Neubewertung auf die eigene Identität hin und weg von einer reinen Daseinsberechtigung zur Festlegung der dominikanischen Nation im Bewusstsein der Romanfiguren eine all zu große Lücke klaffen lassen, die erst neu gefüllt werden müsste. Bis die Utopie des multifunktionellen Hochhauses, das Geschäfts- und Wohnraum für ein friedliches Miteinander der Kulturen bieten soll — un centro cultural [y] comercial […], donde se exhibirá lo mejor de los dos pueblos […], donde se resuelvan los conflictos” (Matos Moquete 2006: 119) 23 -, wahr werden kann und die Diskriminierung der haitianischen Immigranten ein Ende findet, gilt es noch viele Vorurteile abzubauen. Im vorliegenden Beitrag wurde untersucht, wie in einem fiktiven Text Identität und v.a. Alterität bzw. Fremdheit als aufeinander angewiesene Konzepte entworfen werden und auf welche Traditionen des nationalen dominikanischen Diskurses hierbei zurückgegriffen wird. Es wurde zudem nachgezeichnet, dass der Roman La Avalancha das Konzept der relativen Alterität zwar aufgreift, die Absurdität dieser Selbstdefinition durch Abgrenzung jedoch anhand der narrativen Demontage des antihaitianischen Diskurses der Figuren preisgibt. Es wurde deutlich, dass eine Gesellschaft, solange sie in starren, fremdenfeindlichen Diskursen verharrt, keinen Ausweg aus einer Problemsituation finden wird, sondern vielmehr kontinuierlich auf Gewalt zurückgreifen muss. Die Lösung kann letztendlich aber einzig und allein in einer Neubesetzung der Identitäts-Alteritäts-Opposition liegen durch ein positiv definiertes Nationalbewusstsein, welches die Ausgrenzung des Anderen nicht zur eigenen Aufwertung instrumentalisiert. Matos Moquete geht mit seinem Roman La Avalancha also einen Schritt weiter als jene Texte, anhand derer Veloz Maggiolo (1977) in einer Studie seine Typologie des tema haitiano in der dominikanischen Literatur aufhängt, indem er eine neue Verarbeitung des Stoffes anbietet. Veloz Maggiolo unterscheidet noch zwischen fünf unterschiedlichen Positionen gegenüber dem Haitianer in der dominikanischen Literaturgeschichte, welche von mehr oder weniger ausgeprägtem Antihaitianismus bis hin zu Mitleid reichen. 24 Matos Moquete bleibt jedoch nicht dabei stehen, dass er den Haitianer als ausgenutztes Geschöpf und Opfer (haitiano compadecido, vgl. Veloz Maggiolo 1977: 109) oder als ein Glied des Handlungshintergrunds bzw. der dominikanischen Gesamtgesellschaft (haitiano integrado, vgl. Veloz Maggiolo 1977: 110) beschreibt, sondern greift die Xenophobie-Problematik sehr wohl wieder auf, jedoch aus einer neuen Perspektive, die zugleich die Anstrengungen andeutet, derer die dominikanische Gesellschaft bedarf, um den Antihaitianismus zu überwinden.
Literaturverzeichnis:
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- Zur Einstellung der Bevölkerung und der politischen Eliten Santo Domingos gegenüber der haitianischen Revolution und Herrschaft sowie eine ausführlichere Darstellung der historischen Entwicklung siehe Gewecke 1996: 26ff. ↩
- Befreite sich die Dominikanische Republik von Haiti bereits im Jahre 1844, gilt es zu beachten, dass sich das Land infolge politischer Turbulenzen und der heraufbeschworenen Bedrohung durch Haiti 1861 erneut in die Obhut der spanischen Kolonialmacht begab, bevor 1865 endgültig die Unabhängigkeit erklärt wurde. ↩
- Valerio-Holguín, Fernando: “Primitive borders. Cultural identity and ethnic cleansing in the Dominican Republic.” In: Primitivism and Identity in Latin America, hrsg. v. Eric Camayd-Freixas u. José Eduardo González. Tuscon, Arizona, 2000, S.75–88. ↩
- Dt.: “Wir sind das einzige Land auf der Welt, wo ein Schwarzer nicht schwarz ist. Und auf keinen Fall, Gott steh uns bei!, hat er irgendwas mit Afrika zu tun. Der farbige Dominikaner ist “indio” […]. Ein schwarzer Dominikaner ist nicht schwarz, ich wiederhole das hier, er kann es gar nicht sein, denn für uns kommen die Schwarzen aus Haiti und die Haitianer kommen aus Afrika, und das dominikanische Volk, Bewohner dieses “rassischen Paradieses”, wo es keine Diskriminierung gab, gibt und wo sie sich niemals zeigte, unser Schwarzer, der kommt aus dem Himmel” (Franco Pichardo 1980: 113, meine Übersetzung). ↩
- Zum historischen Hintergrund des Corte siehe z.B. Gewecke 1993 oder Turits 2002. ↩
- Baud (1999: 164) betont, dass Peña Batlle insbesondere die Devastaciones von 1605/06 (zur Erläuterung siehe z.B. Gewecke 1996: 15f) dafür verantwortlich machte, dass der Westteil der Insel für ausländische Eindringlinge geöffnet wurde, eine Entwicklung, die in die Entstehung Haitis mündete. ↩
- Baud (1999: 169) gemäß folgt Balaguers Denken hier klar in der damaligen Zeit verbreiteten Theorien, die nicht nur von einer rassischen Hierarchie der verschiedenen Völker ausgingen — wobei die weiße Rasse der afrikanischen als überlegen galt -, sondern auch betonten, dass Mestizentum die Integrität und Vitalität der überlegenen Rasse bedrohen würde. ↩
- Das jüngste Beispiel ist laut einer Pressemitteilung der Agentur EFE vom 12.3.2009 die Ablehnung einer Initiative durch die Generalversammlung Ende 2009, die vorsah, denjenigen Kindern illegaler Einwanderer, die in der Dominikanischen Republik geboren sind, die Staatsbürgerschaft zu erteilen (vgl. u.a. “Critican a Asamblea dominicana por negar nacionalidad a hijos de indocumentados”, Buenos Dias RD, 13.10.2009, http://buenosdiasrd.com/?tag=nacionalidad, Zugriff: 8.6.2010. ↩
- Ein Beispiel für die prekäre legale Situation ist etwa, dass auf dominikanischem Territorium geborenen Kindern im Grunde genommen die Staatsbürgerschaft zusteht. Den Kindern haitianischer Einwanderer wird jedoch häufig die Geburtsurkunde verweigert (was zur Folge hat, dass sie später nicht in der Lage sein werden, dominikanische Ausweispapiere zu beantragen) oder es wird gemäß des neuen Einwanderungsgesetzes von 2004 darauf verwiesen, alle Nicht-Staatsbürger (no residentes) seien als “en tránsito” zu betrachten, weshalb ihren Kindern wiederum die dominikansiche Nationalität vorenthalten werden könne (AI 2007: 19, 24ff) ↩
- Gewecke gibt in einem Aufsatz zum Corte einen ausführlichen Überblick über zur Thematik erschienene literarische Texte (Gewecke 1993). Diesen hinzuzufügen gilt es sicherlich noch den 1998 erschienenen Roman The farming of bones der Autorin Edwidge Danticat. Der einzige mir bekannte zeitgenössische dominikanische Roman, der sich neben La Avalancha ebenfalls mit den haitianischen Immigranten in der Dominikanischen Republik aus gegenwärtiger Perspektive auseinandersetzt, ist El día de todos (2008) von Juan Carlos Mieses. ↩
- Interview mit Manuel Matos Moquete, Santo Domingo, 02.06.2009, durchgeführt von der Verfasserin (unveröffentlicht). ↩
- Dt.: “Straftaten kannte man in Los Hospedajes nicht. Das Verbrechen fasste in dem illusteren Ort keinen Fuß. In der Umgebung des Markts ereignete sich kein Diebstahl. Weder Straßenräuber bei Nacht noch Taschendiebe bei Tage streiften durch die ehrwürdige Nachbarschaft. Von jener Zeit wusste der Juwelier zu erzählen […]. […] wir lebten in einem so noblen Ort, dass das Juweliergeschäft unbewacht und offen zurückblieb, wenn wir uns zurückzogen, um eine längere Siesta zu halten.” (Matos Moquete 2006:10, meine Übersetzung) ↩
- Dt.: “der bittere Geschmack jetzt in Klein-Haiti zu wohnen” (Matos Moquete 2006: 11, meine Übersetzung) ↩
- Dt.: “der einzige Schwarze im Ort” (Matos Moquete 2006, meine Übersetzung). ↩
- Dt.: “Klein-Haiti nahm den gesamten Raum ein” (Matos Moquete 2006: 41, meine Übersetzung). ↩
- Dt.: “Sie waren hässlich, gewöhnlich, barsch und wild. […] Ihr deutlichstes Erkennungsmerkmal war, dass man sie über Meilen am schlechten Geruch erkannte. Von der Hautfarbe ganz zu schweigen.” (Matos Moquete 2006: 55, meine Übersetzung) ↩
- Dt.: “[d]as wusste er bereits seit seiner Kindheit. Das waren Geschichten, die er niemals nachgeprüft hat” (Matos Moquete 2006: 14, meine Übersetzung). ↩
- Dt.: “Es war offensichtlich, als diese Leute keinen Ort mehr gefunden haben, wo sie ihre Verbrechen hätten begehen können, weil es dort drüben gar nichts mehr gab — nicht einmal einen kleinen Laden für Bekleidung und Parfüm -, haben sie ihre Schandtaten einfach auf diese Seite [der Insel] verlegt” (Matos Moquete 2006: 18, meine Übersetzung). ↩
- Vgl. Vortrag der Verfasserin zum Thema “El «espeluznante historial» de las fechorías de los inmigrantes haitianos — el desmontaje del discurso antihaitiano en La Avalancha de Manuel Matos Moquete” beim 17. Deutschen Hispanistentag, 18.–21.03.2009, Tübingen. Veröffentlichung der Akten in Vorbereitung. ↩
- Dt.: “Man verdächtigte jeden Haitianer. In jedem sah man einen Mörder” (Matos Moquete 2006: 36, meine Übersetzung). ↩
- Dt.: ?Wir müssen die Dosis von ’37 wiederholen. Bei Krankheiten wie HIV reicht eine Dosis nicht; man muss dem Kranken so oft Medizin geben, wie es nötig ist” (Matos Moquete 2006: 64f, meine Übersetzung). Mit der “dosis de treintisiete” spielen die Figuren selbstverständlich auf das Massaker im Jahr 1937 an, welches an der haitianischstämmigen Bevölkerung in der dominikanischen Grenzregion auf Befehl Trujillos verübt wurde, vgl. weiter oben. ↩
- Dt.: “Alles andere war bekannt, die andauernde Gewalt, die Unordnung, der Regierungswechsel und die Angst auf der Straße. Cédras, Aristide. Wirklich ein unregierbares Land. Aber es soll dort Dichter geben, Schriftsteller” […] Irena […] erzählte ihnen dann von der langen Liste an Autoren, die in Europa, Kanada und den Vereinigten Staaten bekannt waren. Sie erzählte von den haitianischen Klassikern” (Matos Moquete 2006: 94, meine Übersetzung). ↩
- Dt.: ?ein Zentrum für Kultur und Geschäfte, wo das Beste der beiden Völker gezeigt werden soll, wo sich die Konflikte lösen (Matos Moquete 2006: 199, meine Übersetzung). ↩
- Veloz Maggiolo spricht von der literatura del haitiano adulado, del haitiano agredido, del haitiano adulterado, del haitiano compadecido und del haitiano integrado (Veloz Maggiolo 1977). ↩
Julia Borst, M.A. studierte Romanische Philologie und Wirtschaftspolitik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. und der Université Nice – Sophia Antipolis, Frankreich. Seit 2008 promoviert sie an der Universität Hamburg und ist Teil einer Forschungsgruppe der Universitäten Hamburg und Bayreuth zu „Kulturen der Gewalt in Afrika und Lateinamerika“. Ihr Promotionsprojekt untersucht die Darstellung von Gewalt im zeitgenössischen haitianischen Roman. Seit 2009 erhält sie ein Graduiertenstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung.