von Lydia Maria Taylor
Das Phänomen ‚Kult‘ ist gegenwärtig kaum zu überhören geschweige denn zu übersehen. Aber was genau verbirgt sich hinter dem four-letter-word ‚Kult‘ und wieso ist es in seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit und populären Verwendung nach wie vor umstritten? Um diese und andere Fragen genauer erläutern zu können, hat sich der vorliegende Beitrag auf eine (kleine) historische Spurensuche begeben, um den Ursprung und die Bedeutsamkeit des Kultbegriffs innerhalb der menschlichen Zivilisationsgeschichte aufzuarbeiten und zu skizzieren.
1. Einleitung: Kult oder nicht Kult? Das ist hier die Frage!
Kult ist ein facettenreiches, polysemes Wort und kann je nach Kontext unterschiedlich de- und konnotiert sein. Das Kuriosum Kult scheint dem bewährten Alles-oder-Nichts-Prinzip zu folgen, d.h. alles kann, aber nichts muss sich zwangsläufig zu einem Kult entwickeln. Für gewöhnlich werden Personen oder Objekte relativ schnell mit dem Prädikat Kult versehen. Worte wie Kultbuch, Kultfilm, Kultmarke oder Kultstatus werden gerne und häufig voreilig in den Raum geworfen. An der Frage, was wann wieso und für wen zum Kult wird, scheiden sich immer noch die Geister. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Kulte einen Teil der conditio humana darstellen.
Im Folgenden soll erörtert werden, welche anthropologischen Aspekte und welche kulturellen und religiösen Traditionen sich in Kulten manifestieren, welches die charakteristischen Merkmale eines Kultes sind und wieso eine kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs ‚Kult‘ erforderlich ist.
2. Versuch einer Explikation und Konkretisierung des Begriffs ‚Kult‘
2.1 Begriffsgeschichte
Wirft man einen Blick auf die Etymologie des Wortes ‚Kult‘, so wird schnell ersichtlich, dass seine Bedeutung ursprünglich nicht christlich geprägt ist. Grundsätzlich lässt sich eine enge Verwandtschaft der Wörter ‚Kultur‘ und ‚Kult‘ konstatieren. Beide Termini haben den gleichen lateinischen Wortstamm cultus ‚Anbau‘, ‚Bearbeitung‘, ‚Pflege‘, der wiederum auf dem lateinischen Verb colere ‚anbauen‘, ‚bearbeiten‘, ‚bestellen‘ fußt. Das lateinische Wort ist indes nicht auf den landwirtschaftlichen Ackerbau limitiert, sondern beinhaltet mit dem lateinischen cultus deorum bereits auch die religiöse Praxis der Anbetung und Verehrung von Göttern. (vgl. Schmidt-Biggemann 1976: 1300)
Ein komprimierter historischer Abriss verdeutlicht, dass eine Differenzierung zwischen einem christlichen und nichtchristlichen Kultverständnis unabdingbar ist, um das Bewusstsein für einen pluralen Kultbegriff zu schärfen, der als eine Errungenschaft der griechischen und römischen Kultur zwischen heidnischen Bräuchen und Sitten sowie jüdischen und christlichen Traditionen oszilliert. Wegweisend für die Übernahme des Kultbegriffes in das Christentum ist die von Augustinus eingeführte Wendung cultus dei für die monotheistische Gottesverehrung. Diese wird später noch erweitert und ergänzt von Thomas von Aquin, der die fundamentale Unterscheidung zwischen dem äußeren und inneren Kult (cultus exterior vs. cultus interior) einführt, die einen ersten wichtigen Schritt auf dem Weg zum modernen Wortgebrauch markiert.
Die moderne Definition des Begriffs ‚Kult‘ hat prima facie nur noch wenig mit der vornehmlich christlichen Verwendung gemein. Mit Beginn der Moderne tritt der Kultbegriff verstärkt mit neuen kulturellen und sozialen Bewegungen, aber auch politischen Entwicklungen in Erscheinung. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert sind Kulte nicht mehr vorrangig religiöser Natur, sondern finden sich vermehrt in Kunst, Kultur und Politik. Auch der viel zitierte postmoderne Wertewandel hat sich auf die Verwendung des Kultbegriffes ausgewirkt. Mit der Entstehung der Popkultur Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre sowie dem Anbruch der Postmoderne entwickelt sich der Kult zu einem essentiellen Element des Populären. Unsere Zeit ist geprägt von säkularen Kulten, die immer wieder mit neuen Bedeutungsinhalten aufgeladen werden und auf mannigfaltigen Verehrungspraktiken basieren.
Gekoppelt an neuartige soziale und politische Erscheinungen verlässt Kult den semantischen Raum christlicher Religion, von Religion überhaupt, und neue Bedeutungsvarianten und Verehrungsgesten entstehen um säkulare Kultfiguren und Kultgegenstände: Geniekult, Personenkult, Starkult, Kultfilm. ‚Kult‘ wird zur Chiffre für Formen hoher ‚emotionaler Vergemeinschaftung‘ im nichtreligiösen Bereich (Mohr 2001/2010: 505).
2.2 Eine Definition des Begriffes ‚Kult‘
Die überwiegende Mehrheit der Kulte weisen drei essentielle Merkmale auf: Erstens ein Objekt, einen Ort oder eine Person, auf das/den/die sich der Kult konzentriert; zweitens eine Zahl von mehr oder weniger ritualisierten Handlungen; drittens eine Anhängerschaft, die diese regelmäßig ausführt. „Im Begriff cultus ist die ‚Richtigkeit‘ der Handlung nach den Kategorien Person, Zeit, Ort, Materie, Adressat (Götter, Tote) enthalten“ (Mohr 2001/ 2010: 490).
Der Ausdruck ‚Kult‘ wird allgemein für Phänomene verwendet, die schnell wechselnde Trends überdauern und für eine gewisse Zeit, d.h. mindestens ein Jahrzehnt oder gar ein Jahrhundert, eine Kultgemeinde an sich binden können, die sich in regelmäßigen Abständen zur Ausübung des Kultes zusammenfindet. Ferner werden Objekte oder Personen in den Olymp des Kultstatus erhoben, wenn sie für ihre Bewunderer und Verehrer eine Signifikanz erreicht haben, die die bloße Popularität übersteigt. Entscheidend ist, dass diese Form der Wertschätzung einer Art Geheimwissen gleichkommt, das für Außenstehende in der Regel unbekannt und unverständlich bleibt.
Das von Kult abgeleitete Adjektiv lautet ‚kultisch‘ und bedeutet „ den Kult betreffend, zum Kult gehören“(Duden online 2012). Wohingegen das Adjektiv ‚kultig‘ „ein Begriff [ist], der Ende der 80er Jahre aufgekommen und beispielsweise in der Tageszeitung erstmals am 26. 02. 1994 belegt ist“ (Mohr 2001/ 2010: 507). Kultig bezieht sich auf den Kult- status einer Personen oder eines Objektes und ist der Jugendsprache zuzuordnen.
Das Gros der Kulte wird in einer feierlichen Zeremonie, die nach einer festen Ordnung abläuft, begangen. Dabei nimmt das gesprochene Wort, meist in Form von Mitsingen und Mitsprechen von ganzen Textpassagen und Lieder bis hin zum Nachspielen von einzelnen Szenen, eine zentrale Rolle ein. Ferner sind in der Regel auch Kleidung, Sprache und Verhaltensweisen in hohem Maße normiert und reguliert. Die Inszenierung der meisten Kulte beinhaltet Elemente, die Analogien zu der Gottesdienstliturgie oder der Dramaturgie einer Theaterperformance aufweisen. Dies ist kaum verwunderlich, liegen die Anfänge des Theaters mit dem Dionysos-Kult im antiken Griechenland doch selbst in einem Kult. Der Kult lebt von der besonderen Atmosphäre und Stimmung, die er auf seine Anhänger ausstrahlt. Die regelmäßige kollektive Rezeption und die rituelle Kommunikation der Anhänger untereinander sind wichtige Erhaltungsmaßnahmen und Pflegehandlungen und ein Garant für den Fortbestand eines Kultes. Die kultischen Handlungen können sowohl im privaten als auch öffentlichen Bereich vollzogen werden, ausschlaggebend ist der festliche Rahmen. Kulte werden dadurch zu einem aufsehendenerregendem Ereignis, das einem wahren Spektakel gleichkommt.
Grundsätzlich lassen sich die drei folgenden Kulttypen voneinander unterscheiden:
1) Religiöse und spirituelle Kulte
Archäologische Funde legen nahe, dass Spiritualität und Religiosität von jeher eine Eigentümlichkeit des Menschen ist. Nahezu alle Formen menschlichen Zusammenlebens weisen ein Repertoire an religiösen Bräuchen, Praktiken und Ritualen auf, die vollkommen in die Gesellschaft eingebettet sind. Die Menschen versammeln sich zu kultischen Handlungen, um mit einem überirdischen Wesen oder einer Gottheit in Verbindung zu treten. Diese Verehrung vollzieht sich nach festen und tradierten Formen, meist an einem besonderen Ort und zu festen Zeiten. Häufig wird eine Mittelsperson eingeschaltet, die von ihrer Gemeinde dazu ermächtigt wurde, sich stellvertretend für alle an die Gottheit oder das überirdische Wesen zu wenden. In religiös motivierten Kulten lassen sich verschiedene Riten, wie etwa Anbetungsgesten, Beschwörungen, Gebete und Gesänge, religiöse Feste, sakramentale Handlungen sowie Segnungs- und Weihgottesdienste vorfinden.
2) Profane Kulte: Personen‑, Führer- und Starkult
Diese Form des Kults äußert sich in der ideellen Überhöhung und Verklärung eines noch lebenden oder bereits verstorbenen Menschen. Sie weist nicht selten eine völlig unkritische Haltung auf und ist oft im politischen Bereich anzutreffen. Charakteristisch ist das Abhalten von Veranstaltungen mit großer symbolischer Bedeutung wie etwa Aufmärschen, Gedenk- oder Geburtstagsfeiern sowie Jubiläumsansprachen und Paraden zu Ehren einer Person. Das Aufhängen von Bildern und Porträts in öffentlichen und privaten Räumen und das Errichten von Denkmälern sind weitere Charakteristika des Personenkults. In Diktaturen oder totalitären Regimen werden diese oft unter Zwang erwirkt und befohlen, weil solche Regierungsformen augenscheinlich in besonderem Maße des Personenkultes bedürfen.
Eine moderne Ausprägung des Personenkultes, der allerdings als Fortsetzung des Geniekults der Epoche des Sturm und Drang und der Romantik zu interpretieren ist, ist der sog. Starkult: „Der moderne ‚Starkult‘, dessen Vorläufer im 18. Jh. an der Oper (Primadonnen), im 19. Jh. und frühen 20. Jh. auf dem Theater (Eleonora Duse) zu finden waren, entstand mit dem Aufkommen einer populären Massenkultur Anfangs des 20. Jh. in den euro-amerikanischen Industriegesellschaften“ (Mohr 2001/ 2010: 506).
Der Begriff des Starkults bezieht sich auf die besondere Aufmerksamkeit und Bewunderung, die berühmten Persönlichkeiten aus Film, Medien, Musikszene und Sport entgegengebracht wird und kann durchaus als moderne Version der Ikonisierung gedeutet werden.
3) Objektkulte
Kultobjekte entstehen immer dann, wenn Gebrauchsgegenstände und/oder Trivialprodukte der Alltagskultur ihrem eigentlichen funktionalen Kontext entrückt werden und innerhalb einer Fangemeinde Kultstatus erlangen, weil sie ihnen als „[signifikantes] Bezugsobjekt des eigenen Inszenierungsstils [dienen]“(Mohr 2001/ 2010: 507). Die Benennung ‚Kult‘ verleiht einem Objekt eine außerordentliche Aura und basiert in erster Linie auf einem Prozess, der als Ästhetisierung des Alltäglichen beschrieben werden kann. Es wird ein Nimbus der Exklusivität kreiert und etwas Banales zu einem emblematischen und kostbaren Gegenstand hochstilisiert, der sich vom Massengeschmack abhebt. Kultobjekte repräsentieren ergo eine Ästhetik oder Weltsicht, die noch im Entstehen begriffen ist und lassen sich daher nicht selten in einem subkulturellen Umfeld lokalisieren, dass sich auf der Suche nach einer befriedigenden neuen Ausdrucksmöglichkeit befindet. Sie besetzen somit oft nur kleine Nischen und zirkulieren in einem geschlossenen Personenkreis von Eingeweihten. Das Kultbuch, die Kultband, das Kultlied oder auch Kultfilme sind nur einige Beispiele für die vielfältigen Ausprägungen von Objektkulten.
3. Zwischen Emotio und Ratio: Die emotionale, soziale, religionssubstituierende und subversive Funktion von Kulten
3.1 Die emotionale Funktion von Kulten
Die Anziehungskraft und die Faszination des Kults auf die Menschen, lassen sich nur bedingt rational begründen. Kulte basieren auf einer undurchsichtigen Verquickung von Aberglauben, Phantasie und Vernunft. Die Verleihung des Kultstatus an ein Objekt oder eine Person gründet maßgeblich auf einem willkürlichen Akt der Kultisten, d.h., dass für die meisten Mitglieder eines Kultes die Befriedigung von affektiven Bedürfnissen und/oder sozialintegrative Bedürfnisse den größten Stellenwert einnehmen. Ein Kult enthält somit immer ein Element des Nichtergründbaren und Irrationalen, wodurch sich Außenstehenden bzw. Uneingeweihten der genaue Sinnzusammenhang entzieht. Wo rationale Erklärungsversuche der Welt nicht greifen bzw. scheitern, kommt die Erfindung des Übernatürlichen zum Tragen, denn ursprünglich wurden kultische Handlungen vollzogen, um höhere Mächte günstig zu stimmen. Mit anderen Worten sind Gefühle des Erhabenen, des Magisches und die Erfahrung des Numinosen wichtige Erfahrungstatsachen und Bestandteil fast aller ursprünglichen kultischen und/oder religiösen Handlungen (vgl. Otto 2004: S.79–85).
Kulte sprechen immer auch die Gefühle und Sinne ihrer Anhänger an und lösen Emotionen aus. Im Zentrum eines Kultes steht das individuelle und gemeinschaftliche Erleben von etwas Außeralltäglichem, das durch die besondere Aufführungssituation und die Einbindung des Publikums zusätzlich betont und verstärkt wird. Dementsprechend nimmt die private oder gemeinschaftliche Ausübung von kultischen Handlungen und Riten in der Evokation von Gefühlen und Stimmungen bei der Kultgemeinde eine zentrale Stellung ein. Oft stillen Kulte das Bedürfnis und die Sehnsucht nach Freude, Rausch und Zerstreuung. Ekstatische Feste und Rituale waren bereits ein fester Bestandteil antiker Religion und vor allem im Mittelmeerraum weit verbreitet. Der Mensch gerät außer sich und vergisst darüber seine gewöhnlichen Existenz und seine weltlichen Pflichten, Ängste und Sorgen. Kulten kann daher eine therapeutische Wirkung attestiert werden. Überdies führen sie bisweilen zu Bewusstseinserweiterungen, da durch die ekstatischen Erregungszustände Körper und Geist der Kultisten in Verzückung geraten und sich das Gefühl des Ergriffenseins einstellt.
3.2 Die soziale Funktion von Kulten
Kulte und Kulthandlungen bedürfen der uneingeschränkten Unterstützung durch eine Anhängerschaft oder Kultgemeinde. Beim Prozess der Gemeinschaftsbildung kommt dem Kult eine ganz praktische Funktion zu, denn er kann eine Gruppe nicht nur strukturieren, sondern auch hierarchisieren. Zudem wirken kultische Handlungen gesellschaftlich integrierend und fördern damit den Gemeinschaftssinn, den Zusammenhalt und das Wir-Gefühl von Gruppen. Sie vermitteln der jeweiligen Kultgemeinde einerseits das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und stärken die Individualitätsbestrebungen der Anhängerschaft. Andererseits kommen gleichzeitig zu den identitätsstiftenden Prozessen aber auch strikte Abgrenzungs- und Distinktionsmechanismen nach außen zum Tragen, die für das Selbstbild und Selbstverständnis des Einzelnen und der gesamten Gruppe sehr wichtig sind. Deshalb waren und sind Kulte ein essentieller Bestandteil zur Konstruktion von regionalen und nationalen Identitäten.
3.3 Die religionssubstituierende Funktion von Kulten
Längst haben bestimmte Kultgemeinden auch ganz offiziell den Status einer religiösen Glaubensgemeinschaft erlangt. So ist der Jediismus, eine religiöse Bewegung, die auf der fiktiven Gemeinschaft der Jedi-Ritter der Science-Fiction-Saga Star Wars beruht, in Australien inzwischen eine anerkannte Religion und hat in England bereits ein eigenes numerisches Kürzel auf Formularen und Umfragebögen zugewiesen bekommen. Typisch ist auch die Adaption religiöser Begrifflichkeiten und Traditionen:
[Häufig] [w]erden außeralltägliche Erfahrungen durch religiöse Deutungen auf einen transzendenten Sinn festgelegt, werden in ewigen Zirkelschluss die in Kultur-Kulten erlebten Erfahrungen in religiöses Vokabular gekleidet. Ein Techno-Hit hieß z.B. God is a DJ, „Eric Clapton is God“ lautete eine berühmte Graffiti in den frühen 1970er Jahren. Parodistische Züge nahm dies bei den „Zehn Geboten von Rocky Horror“ an, die den ROCKY HORROR-Gläubigen verkündet wurden (Illing 2006: 214).
Ein weiteres Beispiel für die Aneignung von religiösem Vokabular ist die häufige Bezeichnung von Neulingen als Novizen. Die neu Hinzukommenden müssen zwar in der Regel keine Probezeit absolvieren, erhalten aber eine Einweisung in die Praktiken und Rituale der Gemeinschaft. Zudem verfügen sie zunächst nur über ein Minimum an emotionaler Beteiligung: „Novizen zeichnen sich vor allen Dingen dadurch aus, daß sie Distanz bewahren und emotional nicht im Geschehen aufgehen“ (Winter 2003: 298).
Vor diesem Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage, warum säkulare Kulte vermehrt zu einer Form der Ersatzreligion avancieren. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Kulte geben Halt und vermitteln ein Gefühl der Beständigkeit und Kontinuität. In einer Zeit, die geprägt ist von andauernden politischen Konflikten, wiederkehrenden wirtschaftlichen Krisenzeiten und einer Fülle von gesellschaftlichen Umbrüchen, haben die Religion bzw. der christliche Glauben und die Kirche ihre stabilisierende Funktion verloren, aber die Sehnsucht und das Verlangen nach Spiritualität zugenommen. Die Komplexität und die Pluralität von Lebensentwürfen hat eine Diffusion und Orientierungslosigkeit zur Folge, die die Entwicklung und Festlegung der eigenen Identität nachhaltig erschweren.
Religionssoziologisch betrachtet, lassen sich Kulte als Reaktion auf den Niedergang der christlichen Religion, die Säkularisierung und die Entzauberung der Welt begreifen. Sie sind Ausdruck des für die Potmoderne typischen Neo-Tribalismus, einer Vervielfachung kleiner, lokaler Gruppen, die auf kreative Weise neue Formen von Gemeinschaften hervorbringen (Winter 2003:295).
Des Weiteren scheint ein Verlangen zur Spiritualität und Selbstverwirklichung in jedem Menschen innezuwohnen und dieses äußert sich in vielfältigen Formen. In diesem Sinne lassen sich auch nichtreligiöse Kulte als eine Form der Weltflucht interpretieren, da in ihnen ein Aspekt der Idealisierung und Verklärung zum Tragen kommt. Die Erfahrung und das Erleben des Nichtalltäglichen üben eine besonders starke Faszination und Anziehungskraft aus. Kulte vermitteln ihren Anhängern seit jeher einen Zugang zum Transzendentalen und bestätigen somit die latent im Mensch vorhandene Spiritualität und Religiosität. Hier schließt sich der Kreis zur evolutionären Darstellung des Menschen als homo religiosus. (vgl. Otto 2004)
3.4 Die subversive Funktion von Kulten
Analog zur Mode lässt sich vielen Kult-Phänomenen eine enge Verbundenheit mit subkulturellen Bewegungen feststellen. Mehr noch: manche Kulte scheinen in einem gewissen Maß nur zu existieren, solange sie das Andere/Exotische/Fremde repräsentieren. Folglich bedürfen solche Kulte immer auch einer Leitkultur respektive einer Norm zur Bestätigung und Abgrenzung. Das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, verstärkt den Effekt des Extraordinären und begründet in erheblichem Maße den besonderen Reiz, den Kulte auf ihre Anhänger ausüben. Dem Kult wird durch seine Nähe zu Subkulturen gerne ein subversives Potential zugesprochen. Der Grund hierfür liegt sicherlich darin, dass Kulte tradierte Normen und Werte in Frage stellen und häufig Tabubrüche inszenieren, propagieren und wagen:
Kult ist zu einem populären Negativstereotyp geworden. Der Begriff dient heute als „social weapon“ in der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung und im Konkurrenzkampf religiöser Gruppen. Wer einem Kult angehört und ihn praktiziert, gerät unter Generalverdacht. Kult ist das ‚Infame‘, das Verdächtige schlechthin, er ist der Ort, wo ‚etwas getrieben (praktiziert) wird‘. Kult ist Hort für Anrüchiges, ‚Jugendgefährdendes‘, kurz ein ‚destructive cult‘ – das Gegenbild von ‚Religion‘ (Mohr 2001/2010: 508).
In diesem Kontext darf die generelle Unterscheidung von konstruktiven und destruktiven Kulten nicht unerwähnt bleiben (vgl. Schwartz 1992). Destruktive Kulte werden als besonders bedrohlich und gefährlich wahrgenommen, weil sie als Generalangriff auf die demokratische, politische und gesellschaftliche Ordnung empfunden werden. Dies gilt vor allem dann, wenn sie die Beteiligten von der restlichen Welt isolieren und die bestehende gesellschaftliche Ordnung und das anerkannte Weltbild in Frage stellen. Man denke hierbei vor allem an Scientology und andere Sekten, wie etwa die Hare Krishna oder auch die Osho Bewegung. Zudem schaffen sich die Kultisten oft ein eigenes Regel‑, Sprach- und Wertesystem, das für Außenstehende verschlüsselt und unverständlich bleibt. Demgegenüber werden konstruktive Kulte als förderlich für die Rhythmisierung und Strukturierung des Lebens (u.a. durch Geburts‑, Initiations‑, Ehe‑, Trauer- oder auch Totenriten) und zur Manifestation von lokalen, regionalen und nationalen Identitäten empfunden. Die Durchführung bestimmter Kulte hat sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart eine staatstragende und staatserhaltende Funktion übernommen.
4. Kult und Kommerz
4.1 Die Kulturindustrie und der Kult
Objekt- und Populärkulte bedeutet ganz allgemein betrachtet, dass etwas Profanes hochstilisiert, angebetet und verehrt wird. Die Kultgegenstände besitzen eine Bedeutung und Wichtigkeit unabhängig von ihrem tatsächlichen ökonomischen Wert. Allerdings sind Kulte inzwischen längst auch das Opfer und Ziel von Medienkampagnen und Marketingstrategien geworden. Obwohl sich Kulte immer noch nicht bzw. kaum strategisch planen und steuern lassen, sind nicht nur die Medien, sondern auch die Wirtschaft und Werbeindustrie auf das Phänomen aufmerksam geworden und versuchten, Gewinn aus den diversen Kulten zu schlagen. Dies gilt besonders für kultische Phänomene im Bereich der Film- und Fernsehindustrie, der Musikszene, aber auch im Literaturbetrieb wie u. a. die Marketingkampagnen rund um die Harry-Potter-Bücher beweisen. „Wie bei allen Praktiken populärer Kreativität reagiert die Kulturindustrie auch bei Kulten mit Strategien der Vereinnahmung, der Kommerzialisierung und der Manipulation“(Winter 2003: 299). Die Medienlandschaft und die Kulturindustrie unternehmen ihrerseits immer wieder Versuche, diversen Phänomen und Produkten einen Kultstatus zu verleihen. „Im Widerstand gegen diese Bemühungen werden aber neue ‚heilige Objekte‘ gesucht und gefunden“ (Winter 2003: 299). Letztlich verbleibt die Interpretationshoheit bezüglich der Kultobjekte deshalb bei der Fangemeinde.
Betrachtet und bewertet man den Begriff des Kultes unter ökonomischen Gesichtspunkten, so lässt sich konstatieren, dass der Aspekt der Werbung und Vermarktung bereits im 18. Jahrhundert zum Einsatz kam und sich zu einem integralen Bestandteil des Phänomens Kult etabliert hat. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind auf jeden Fall der Handel mit Devotionalien, der sich bereits bei den Kultbüchern Richardsons Pamela (1740) und wenig später auch bei Goethes Werther (1774) beobachten lässt. Die erste frühe Form des merchandising war geboren. Beliebte Artikel, die angeboten wurden, waren z.B. Anhänger, Fächer, Tassen und Untertassen aus Porzellan.
Die Bandbreite an Fanartikel hat sich inzwischen vergrößert, aber die Mechanismen und Ziele sind immer dieselben wie vor über 200 Jahren. Die Produkte sprechen gezielt die Anhängerschaft eines Kultes an, die bereit sind, Geld zu investieren, um mit dem Erweb ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zum Ausdruck zu bringen und sich gleichzeitig selbst zu vergewissern, noch Teil der Gemeinschaft zu sein. Erneut kommt man hier nicht umhin, auf die Funktion und Stellung von Devotionalien und Reliquien in der römischkatholischen Kirche zu erinnern.
Die Instrumentalisierung von Kulten durch Marketingstrategen kann also auf eine lange Geschichte und Tradition zurückblicken. Allerdings wurden diesen Mechanismen erst Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre perfektioniert und strategisch inszeniert und fallen ergo zusammen mit den Anfängen der Vermarktung von Fanartikeln und George Lucas kann zweifellos als Pioneer des Merchandisings betrachtet werden, da er bereits 1977 sehr erfolgreich Gummifiguren, T‑Shirts, Poster und Uhren u.a. in Umlauf brachte. (vgl. BBC News. BBC ON THIS DAY | 27 | 1977: Star Wars fever hits Britain). Seitdem sind Fanartikel aus der klassischen Verkaufsförderung nicht mehr wegzudenken. Dieser anhaltende Erfolg basiert vor allem auf der Bereitschaft der zahlenden Fangemeinde bzw. Kultgemeinde. „Die heutige Ausbeutung und inflationäre Verwendung des Kult-Etiketts erscheint hingegen als Symptom des kulturindustriellen Systems, das damit das Nischenmarketing perfektioniert“ (Illing 2006: 215). Authentizität, mediale Inszenierung und Seltenheit bilden die Grundpfeiler des sog. Nischenmarketings: „Die Rarität wird zum Kommerzgut, wenn sie von einer Aura der Nichtkommerzialität umgeben ist, die Sehnsucht nach dem Nichtkommerziellen wird kommerzialisiert“ (Misik 2007: 124). In diesem Fall bilden das ausgeprägte Distinktionsbedürfnis und die Exklusivität von Kulten eine perfekte Symbiose und werden für materielle Interessen instrumentalisiert. In Zeiten, in denen die Vokabel Mainstream geradezu einem Schimpfwort gleichkommt, ist eine klare Abgrenzung zum verpönten Massengeschmack notwendig. Dies gilt insbesondere für die Mitglieder von Jugend- und Subkulturen, für welche gesellschaftliche Distinktion das bedeutsamste Element darstellt.
4.2 Die Kultmarke
Die Verdinglichung der Welt und der ausgeprägte Warenfetischismus unserer Zeit sind conditiones sine quibus non für das Phänomen der Kultmarke. Eine Pervertierung der Idee der Authentizität und des Kults, ebenso die Tendenz zur Ikonisierung, sowie zur Sakralisierung des Alltags und des Profanen in der modernen Konsumwelt sind die Grundvoraussetzung dafür, dass Waren eine Glorifizierung und Huldigung widerfährt, die in sakralen Kulten ausschließlich Göttern zustand. Gebrauchsgüter werden in den Olymp gehoben und Marken angebetet und verehrt:
Dinge, die besonders gut sind beim Repräsentieren, nennt man im allgemeinen „Kult“: der Adidas-Schuh, die Ray-Ban-Brille, der Latte macchiato, der iMac, das gerade angesagte Kult-Buch, die Toskana-Reise, das hippste Handy der Saison, das Stück von Prada, das Accessoire von Dolce&Gabana – die Liste ist endlos (Misik 2007: 8).
Der TV-Sender ARTE widmete dem Thema Kultmarke im Dezember 2011 sogar einen ganzen Themenabend. Produkte wie Apple, Coca Cola, Levi’s oder Nokia gehören zu den 100 bekanntesten und teuersten Marken der Welt. Sowohl die aufgeführten Firmennamen wie auch die Logos zeichnen sich dadurch aus, dass sie inzwischen ein klares und zeitloses Alleinstellungsmerkmal und einen hohen Wiedererkennungswert erworben haben. Kultmarken sind die spirituelle Essenz des Kapitalismus, der „im Prinzip unendlich viele unterschiedliche Stilgemeinschaften fördert, die wie Glaubensgemeinschaften funktionieren […]“ (Misik 2007: 53). Kultmarken haben Fetischcharakter und werden von ihren Konsumenten mit einem Image und Lebensgefühl verknüpft, das sie und ihre Besitzer zu etwas Besonderem macht: „Markenfans sind ‚mit Leib und Seele‘ dabei, zwischen Kultanhängern und Nichtkonsumenten besteht eine beträchtliche Distanz und unter Markenjüngern selbst herrscht Kameradschaft bis hin zu inniger Freundschaft“ (Kilian 2008: 1). Selbst hier lassen sich also pseudoreligiöse Mechanismen und Züge nachweisen, die sich an der christlichen Prägung unserer Kultur orientieren und vertraute biblische Formulierungen annektieren. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Firma Apple. So wird etwa der Apple-Mitbegründer Steve Jobs als Messias und die Kunden als Apple-Jünger bezeichnet, die jedes neue Produkt, das auf dem Markt lanciert wird, frenetisch bejubeln und feiern.
Weitere wichtige Kriterien, die einer Marke zum Kultstatus verhelfen, sind: Der Aufbau einer großen emotionalen Bindung zwischen Produkt und Konsumenten, die Erlangung eines großen Bekanntheitsgrads und der Status eines Massenphänomens. „Zudem ist es erforderlich, dass die Ehrerbietung aktiv betrieben wird, z.B. in Form von (nur Insidern bekannten) Ritualen oder von (irrationalen) Nachteilen, die man für die Marke in Kauf nimmt. Auch Markenevents und Markengemeinden zählen dazu“(Kilian 2008:1).
Kultmarken vereinen Lifestyle-Gemeinschaften von Konsum-Hedonisten, die durch den Kaufakt ihrer Kultmarke die entsprechende Ehrerbietung zuteil werden lassen. Das Konsumerlebnis wird zur identitätsstiftenden Element der Gemeinde und ist zugleich Ausdruck und Symptome des grassierenden Irrglaubens, dass „[…] Wir sind, was wir kaufen […]“ (Misik 2007: 38). Ferner sind Kultmarken in hohem Maße von der Planung, Schaffung und Verbreitung eines Mythos abhängig. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich in diesem Zusammenhang die sog. Gründermythen, die sich meist ausschließlich auf die Entwicklungsphase und die Anfangsjahre des jeweiligen Produktes konzentrieren. Die Haltbarkeit des Kultstatus einer Marke ist folglich abhängig von dem Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad, der Verkaufsquoten und anderen marktstrategischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Eine Kultmarke bleibt nur solange erhalten, wie sie Anhänger für sich gewinnen und an sich binden kann. Das hat zur Folge, dass ein Markenkult oft nicht mehr als eine Generation überdauert.
5. Der Begriff ‚Kult‘ im 21. Jahrhundert zwischen Kitsch, Trend und Trash
5.1 Begriffsdifferenzierung
5.1.1 Kitsch
Kitsch kann als „[…] das traditionsreichste und am meisten analysierte Etikett [für] schlechten Geschmack [betrachtet werden]“(Illing 2007: 219). Der Ausdruck als solches existiert indes erst seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts. Die ersten Belege reichen bis 1870 zurück und legen nahe, dass der Begriff in der Münchner Kunsthändlerszene entstand, um massenhaft produzierte Gemälde und andere Kunsterzeugnisse zu brandmarken, die zu günstigen Preisen vornehmlich an Touristen verkauf wurden. „Obwohl die Wortentstehung auf die Sphäre handwerklicher Kleinproduktion verweist, prägte die im selben Zeitraum einsetzende industrielle Massenproduktion von Konsumgütern die Geschichte des Kitsches, so dass er mitunter zum Synonym für Massenkultur wurde“ (Illing 2007: 219).
5.1.2 Trash
Trash ist gewissermaßen eine Unterkategorie von Kitsch und schlechtem Geschmack. Im Wort Trash schwingt mehr als nur ein negatives Werturteil mit, es ist die Versinnbildlichung von allem, was billig und schnell produziert wurde und an Geschmacklosigkeit kaum unterboten werden kann. Als ein Synonym für Obskurität und Schund „ […] ist den Trash-Produkten [gemeinsam], dass sie nicht nur unterhalb des hochkulturellen Geschmacks, sondern auch jenseits des „mittleren“, von der Kulturindustrie bedienten Geschmacksniveau angesiedelt sind“(Illing 2007: 231). Inzwischen hat sich die negative Bewertungskategorie ‚Trash‘ zu einem eigenständigen Gattungsbegriff im Bereich der Literatur, des Films und der Musik etabliert. Die Bezeichnung ‚Trash‘ und ‚Kitsch‘ lassen sich, trotz einer Reihe von Gemeinsamkeiten, in einem wesentlichen Punkt voneinander unterschieden und zwar durch die Komponente der Selbstreflexivität: „Aus dieser Selbstreflexion heraus entstand dann das Phänomen des absichtlichen Trash: Produktionen, die nicht aus Unvermögen oder begrenzten finanziellen Mitteln, sondern mit Absicht Trash sind“ (Illing 2007: 232).
5.1.3 Trend
Trend ist, analog zum Kultbegriff, ein Ausdruck für eine Neigung, eine Präferenz oder eine Veränderungsbewegung, die sich als bedeutsamer neuer Mode‑, Lebens- oder Musikstil innerhalb einer Jugend- und/ oder Subkultur entwickelt. Der Trend lebt von Aktualität, zeitgenössischen Geschmacks- und Konsumgewohnheiten sowie der schnellen Distribution. Mit anderen Worten handelt es sich beim ‚Trend‘ um eine statistisch erfassbare Entwicklungstendenz, die über einen gewissen Zeitraum zu beobachten ist (vgl. Scholze-Stubenrecht 1999: 824).
Einen Trend zu erkennen und ihm zu folgen, bedeutet am Puls der Zeit zu sein. Nicht umsonst kommt es inzwischen einer Todsünde gleich, wenn man einen Trend wortwörtlich ‚verpennt‘ hat. Der Begriff ‚Trend‘ wird eher verwendet, um einen Modus der Rezeption zu beschreiben, aber impliziert noch keine ästhetische (Be-)Wertung.
Beispielsweise der Retro-Trendo der auch Second Hand Trend sind Phänomene, die bewusst auf frühere Stilrichtungen aus vergangen Jahrzehnten zurückgreifen und sich als eine Art ästhetische Gegenpol zu gegenwärtigen vorherrschenden Haupt- bzw. Massentrends begreifen.
5.2 Der moderne Kultbegriff als Symbiose von Kitsch, Trash und Trend?
Die bedeutungsvariable und maßlose Strapazierung des Kultbegriffes scheint ein Kennzeichen des gegenwärtigen Zeitalters und der intermedialen, postmodernen Verweistechnik zu sein. Es stellt sich zum einen die Frage, wie sich Kult vom Kitsch, Trash und Trend unterscheiden lässt und zum anderen, ob eine solche Differenzierung überhaupt noch möglich ist.
Das Bemühen nach identifikatorischer Abgrenzung zum gesellschaftlichen ‚main stream‘, wie es vor allem Jugendlich‑, Intellektuellen- und Ghettokulturen kennzeichnet, wird oft mit Mitteln derivanter Stilisierung in Szene gesetzt – man denke an Kult von Intellektuellen und Homosexuellen um Tivialobjekte (Ästhetiken des ‚trash‘ bzw. ‚camp‘) (Mohr 2001/2010: 507).
Die Grenzen zwischen Kult, Kitsch, Trash und Trend, sofern sie jeweils vorhanden waren, scheinen fließend ineinander überzugehen. ‚Trend‘ und ‚Kult‘ sind in der umgangssprachlichen Verwendung längst Synonyme geworden und eine eindeutige Differenzierung der beiden Begrifflichkeiten ist nur noch etymologisch möglich. Kulte werden wie Trends häufig in Form von digitaler Mundpropaganda im Internet ausgelöst. Sie zirkulieren als Geheimtipp in eingeschworenen Kreisen und werden in eigens eingerichteten Foren zelebriert. Allerdings überdauern die meisten zeitgenössischen Kulte ebenso wie viele Trends heute nicht mehr als eine Generation. Kulte kommen und gehen und sind längst der Schnelllebigkeit der gegenwärtigen Zeit zum Opfer gefallen: „Was gestern in der von Moden dominierten Szene Kult war, ist schon heute wieder vergessen“ (Och 2004: 32).
Eine Ironisierung bzw. eine Inversion des Kultbegriffes und die kultische Verehrung von Gegenständen oder Personen, die sich eher durch einen Mangel an gutem Geschmack auszeichnen, sind allem Anschein nach Symptome der postmodernen Gesellschaft. Daraus ergibt sich die Verbindung zum schlechten Geschmack. Außenstehende sind oft verwundert, wovon die Anhänger eines Kultes fasziniert sind, denn „eigentlich“ handelt es sich doch nur um ästhetisch Mittelmäßigkeit oder Minderwertiges. […] Ästhetische Mängel oder Fehler sind den Anhängern eines Kultes mitunter sogar bewusst, aber sie sind nicht entscheidend (Illing 2007: 210).
Der Kult scheint zu einem beliebigen und individuellen Geschmacksurteil verkommen zu sein. Die Kultisten im 21. Jahrhundert wenden gekonnt und virtuos die Mechanismen der Bricolage an: „Die [heutige] Kultgemeinde besteht aus medienkompetenten und ‑gebildeten Bricoleuren, die sich nach ihrem Interessen und Bedürfnissen Texte aneignen“ (Winter 2003: 298). Die Mehrheit der populären und zeitgenössischen Kult-Phänomene beruht auf der Innovationskompetenz und der Medienerfahrung ihrer Anhänger. Die Kultisten setzten kompetent die intertextuellen Relationen und die Selbstreferentialität der verschieden Medien ein und „[…] entwickeln in der lustvollen und wiederholten Beschäftigung mit ihnen eigene Interpretationen, Rituale und Praktiken, die durch Kreativität und Bricolage, den spielerischen Umgang mit Signifikaten und Sinnbeständen, gekennzeichnet sind“ (Winter 2003: 296). Infolge der Umwertung von ästhetischen Wertnormen, die als solche auch immer Ausdruck eines momentanen Geschmacksurteils sind, werden Kunst- werke oder Objekte, die ehemals als Kitsch oder Trash abgewertet und missachtet wurden, plötzlich zum Kult aufgewertet.
Es lässt sich für die Kategorien ‚Kitsch‘ und ‚Trash‘ feststellen, dass hier nicht immer zwangsläufig eine Bedeutungs- bzw. Verwendungsgleichheit mit dem Begriff des ‚Kults‘ gegeben ist. So können einige Arten von Kitsch oder Trash zum Kult erklärt werden, dies gilt aber nicht vice versa. Nur kitschig oder trashig zu sein, ist kein hinreichendes originäres Merkmal zur Erlangung des Kultstatus. Das Einzige, was sich unaufhörlich verändert, ist das Objekt oder Subjekt des jeweiligen Kultes. Die Inszenierung und die Ästhetik der neuen populären Kulte rekurrieren auf das nicht kodifizierte Wissen des kulturellen Gedächtnisses, denn die Verehrungsformen und Verehrungsstrukturen der Kulte bleiben immer identisch. Ergo verbergen sich hinter den Begriffen Kitsch, Kult, Trash bei näherer Betrachtung nur Aussagen und subjektive Werturteile. So bleibt zu konstatieren, dass es sich bei der Einschätzung dessen, was als ‚Kitsch‘, ‚Trash‘ oder ‚Kult‘ zu betiteln ist, genauso verhält wie beim Mythos, d.h. alles kann zum ‚Kult‘, ‚Kitsch‘ oder ‚Trash‘ werden (vgl. Barthes 1964: 85). Der gegenwärtige Kultbegriff scheint nur noch eine Art Plattitüde bzw. große Worthülse zu sein für ästhetische und zumeist subjektive Aussagen und Werturteile. Was Kult ist und was nicht, bleibt somit letztendlich eine reine Definitions- und Geschmackssache.
Vielmehr noch die Gesetzmäßigkeiten des Kultes wurden (systematisch) invertiert und kommerzialisiert. „Kult ist daher heute eine wohlfeile Benennung, deren Semantik zu Markte getragen wird“ (Mohr 2001/2010: 507).
Literaturverzeichnis:
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M., 1964.
Enderwitz, Ulrich: Wirklichkeit ohne Wert. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Kunst, Kult und Kommerz. Köln, 2011.
Illing, Frank: Kitsch, Kommerz und Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks. Konstanz, 2006.
Misik, Robert: Das Kult-Buch. Glanz und Elend der Kommerzkultur. Bonn, 2007.
Mohr, Hubert. “Kult”. In: Barack, Karlheinz; Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hg.): Ästhethische Grundbegriffe. Band 3 Harmonie – Material. Stuttgart und Weimar, 2001/ 2010. S.498–510.
Och, Gunnar. “Der Cornet im Tornister – zur Rezeption literarischer Kultbücher”. In: Freiburg, Rudolf; May, Markus und Spiller, Roland (Hg.). Kultbücher. Würzburg, 2004. S. 31–44.
Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München, 2004.
Schlesier, Renate. Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800. Frankfurt a. M., 1994.
Schmidt-Biggemann, W. “Kult”. In: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4: I- K. Darmstadt, 1976. S.1300–1310.
Scholze-Stubenrecht, Werner et. al.. Der Duden, 12 Bde., Band 5. Duden Fremd- wörterbuch. 6., überarb. und erw. Aufl. Mannheim. [u.a.], 1999.
Schweikel, Günther und Irmgard (Hg.). Metzler- Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart, 2.überarb. Aufl. 1990.
Taubes, Jacob: Vom Kult zur Kultur. München, 2007.
Ufig, Alexander (Hg.): Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt a. M., 2005.
Winter, Rainer. “Kult” In: Hügel, Hans-Otto (Hg.). Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theoiren und Diskussionen. Stuttgart und Weimar, 2003. S.295–299.
Internetquellen:
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Duden online. “kultisch”. Bedeutung, Rechtschreibung, Grammatik. URL: http://www. duden. de/rechtschreibung/kultisch. (zuletzt aufgerufen am 29.01.2012).
Kilian, Karsten: Kultmarken. In: Marke unser – Branding zwischen höllisch gut und himmlisch … URL: www.markenlexikon.com/marke/unser/index.html. (zuletzt aufgerufen am 02.12.2011).
Liessmann, Konrad Paul: Jenseits von Gut und Böse. NZZ Folio 12/03 – Thema :Kitsch und Kult. URL: www.nzzfolio.ch/…/9b5273d9-ff86-4b75-8ed0-61c6788dc319.aspx. (zuletzt aufgerufen am 02.12.2011).
Schwartz, Linzer Lita: Cults and Personality. In: Cultic Studies Journal Psychological Manipulation and Society. Vol. 9, No. 2, 1992. URL: http://www.csj.org/pub_csj/ csjbookreview/csjbkrev92cults.htm (zuletzt aufgerufen am 04.02.2012).
Lydia Maria Taylor
*16.12.1980 in Fort Bragg/USA
seit Oktober 2009:
Promotion im Fach Anglistik: Literaturwissenschaft bei Prof. Dr. Rudolf Freiburg an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
10/2009 – 05/2011:
Stipendiatin des Programms zur Förderung besonders begabter Nachwuchswissenschaftlerinnen der Philosophischen Fakultät und des Fachbereichs Theologie an der FAU
seit Oktober 2011: Mentee im Mentoring-Programm ARIADNEphil
Teilnahme sowie Präsentation eines Vortrags mit dem Titel “Pandora in the Box – Travelling around the World in the Name of Fashion” bei der 3rd Global Conference – Fashion: Exploring Critical Issues am Mansfield College in Oxford, England, vom 22.–25.09.2011