Bild: Mauricio Kagel „Die Himmelsmechanik|Komposition mit Bühnenbildern“ © 1967 by Universal Edition (London) Ltd., London/UE 13520
Ein Interview mit Christiane Neudecker und Anne Oppermann vom Künstlernetzwerk phase 7
von Manuel Illi und Agnes Bidmon
SCHAU INS BLAU: Wie kamen die Deutsche Oper Berlin und das Künstlernetzwerk phase7 zum Thema der Himmelsmechanik und zu der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Mensch und Kosmos?
CHRISTIANE NEUDECKER: Zum einen gab es als Ausgangspunkt die Skulptur im Foyer der Oper von George Baker „Alunos-Discus“, die mit ihrer Mechanik selbst schon etwas von Kontinental- oder Himmelsverschiebung hat. Zum anderen sind wir auf die Partitur „Himmelsmechanik“ von Mauricio Kagel gestoßen, die sehr viel Raum für Inspiration und heutiges Weiterdenken lässt. Dies in Kombination mit der Vorliebe von uns, ungewöhnliche Räume zu erschaffen, hat die Ideen für die Inszenierung geliefert.
ANNE OPPERMANN: Zu den Räumen, in denen „Himmelsmechanik – Eine Entortung“ aufgeführt wird, lässt sich hinzufügen, dass die Deutsche Oper sich in einer Umbauphase befindet. Wir können die Bühne nicht bespielen, und haben daher versucht, neue Wege und Räume zu finden sowie neue Formate für diese Räume zu erproben. So kam es zur Zusammenarbeit mit phase7.
SCHAU INS BLAU: In dieser Inszenierung werden Naturwissenschaft und Kunst in einen Dialog miteinander gebracht. Das ist ein Phänomen, das zur Zeit in Kunst, Literatur und Film häufig zu beobachten ist. Könnte man also sagen, dass es sich dabei um ein derzeit virulentes Thema in der Gesellschaft handelt, um den Versuch einer neuen Engführung von Wissenschaft und Kunst mit dem Ziel, verschiedene Zugangsweisen zur Welt zu präsentieren?
CHRISTIANE NEUDECKER: Naturkatastrophen gab es schon immer. Die Medien aber verfügen heute über ganz andere Formen der Berichterstattung – und auch der Steuerung und Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung. Es kommt zu einer medialen „Katastrophisierung“ der Welt, die Missstände nach eigenem Gutdünken aus dem Fokus verbannt oder mal eben ans Licht zerrt. Parallel dazu wächst in der Bevölkerung nicht nur die Hilflosigkeit, sondern auch die Sehnsucht nach Rationalisierung und Erklärbarkeit. Dass mithilfe der Wissenschaft diese Bedrohungen entdämonisiert und Urängste eingegrenzt werden können, ist eine sich daraus ableitende, zunehmende Hoffnung. Für die Schnittstelle zwischen Forschung und Kunst wiederum und deren Auslotung haben wir uns bei phase7 schon immer interessiert. Unsere Einsteinoper „C – The Speed of Light“ etwa entstand im Einsteinjahr für „Wissenschaft im Dialog“. Bei „Himmelsmechanik – Eine Entortung“ lag dann eine die Zusammenarbeit mit dem CERN nahe. Was passiert, wenn die Menschheit versucht, den Himmel wieder gerade zu rücken?
ANNE OPPERMANN: Die Hoffnung auf Entdämonisierung durch die Wissenschaften hat sicherlich auch mit der Säkularisierung unserer Gesellschaft und infolgedessen auch der Kunst zu tun. Auf der Opernbühne kam lange Zeit der Religion oder unterschiedlichen Göttern die Funktion zu, für eine „Lösung“ zu sorgen. In früheren Opern gab es die Konvention des lieto fine, des glücklichen Ausgangs, es durfte keinen tragischen Schluss geben. Es war die Aufgabe des aus dem Nichts erscheinenden deus ex machina, die ausweglosen Situationen zu lösen. Das geht heutzutage natürlich nicht mehr. Stattdessen ist die Wissenschaft jetzt in gewisser Weise eine neue Form von Religion geworden, von der man die Rettung erwartet.
SCHAU INS BLAU: Die Verbindung von Religion, Gott und Wissenschaft thematisiert Albert Einstein in einem berühmten Zitat. Innerhalb des Librettos wird dieses zu „Würfelt Gott nicht, würfeln wir“ abgewandelt. Das klingt wie eine Art von Wissenschaftskritik.
CHRISTIANE NEUDECKER: Ich denke schon, dass die Menschheit generell zu Selbstüberschätzung neigt. Viele Maßnahmen sind inzwischen zwar technisch möglich, aber sowohl in ihrer Wirksamkeit als auch in unabsehbaren Folgen umstritten. Die Menschheit glaubt dennoch, die Kontrolle zu besitzen und versucht deshalb eher, den Himmel zu verändern als sich selbst.
SCHAU INS BLAU: Vielleicht ist dabei auch ein Problem, dass die Konsequenzen menschlichen Handelns sich erst in sehr großen Zeiträumen zeigen. Wenn man z. B. die Erfindung des Ottomotors im 19. Jahrhundert betrachtet: Lange Zeit dachte niemand daran, dass diese Erfindung einmal globale Auswirkungen haben und es Millionen von Ottomotoren geben würde. Erst die schrittweise Entwicklung über 150 Jahre hat somit letztlich zu einer wahrnehmbaren Schieflage und problematischen Folgen geführt.
CHRISTIANE NEUDECKER: Zustände, die sich zum Teil über Jahrzehnte aufbauen, werden heute häufig erst ab dem Moment real, in dem sie medial benannt werden. Wir leben hier in einer relativ behüteten Wohlstandsgesellschaft, in der man an vielen dieser Schieflagen lediglich als Fernsehzuschauer und aus gesicherter Entfernung teilnimmt. Letztlich würde ich mir natürlich aber wünschen, dass der Satz aus unserer Oper „Wer macht’s, wenn nicht wir?“ zumindest wieder als Kampfgeist-Echo und Lebensmaxime aufschimmern würde.
SCHAU INS BLAU: Allerdings wird gegen diese Utopie, die Welt tatsächlich reparieren oder verändern zu können, ja auch ein ironisches Ende gesetzt.
CHRISTIANE NEUDECKER: Ja, aber eben deshalb, weil in unserem Libretto die Menschheit eine Maschine zur Weltreparatur entwirft und gerade nicht bei sich selbst mit Veränderungen beginnt. Die Verrückung als physikalisches Problem wahrzunehmen und eine Maschine zu bauen, um diese wieder ins Lot zu bringen, ist eine ziemlich realistische, heutige Reaktion.
SCHAU INS BLAU: An der Stelle, an der diese Maschine in der Inszenierung thematisiert wird, ist eine hochkomplexe Formel eingebaut. Die schiefsymmetrische Matrix ist dem Libretto eingeschrieben und wird auch von den Sängern rezitiert. Lässt sich daraus ableiten, dass solch eine Formelsprache auch eine Form von Ästhetik besitzt?
CHRISTIANE NEUDECKER: Auf jeden Fall! Die Szene ist ja auch mit „Kryptik“ übertitelt. Mir war wichtig, dass in dem Moment, in dem Sänger und Zuschauer die Forscherwelt betreten, sich auch die Sprache verändert. Anfangs hatten wir die Idee, eine formelhafte Sprache zu finden – und irgendwann war dann klar, dass die Formel selbst die Sprache ist. Für das einzelne Individuum sind solche Vorgänge und Formeln ja oft gar nicht mehr nachvollziehbar. Das interpretieren in der Inszenierung die Sänger ganz wunderbar. Sie spielen damit, indem sie einerseits ganz selbstverständlich mit der Formel umgehen, sie dann aber wieder hinterfragen. Lichtgeschwindigkeit, Beschleunigen, Teilchenbeschleuniger, das Gottesteilchen – das sind alles faszinierende Begriffe, die man sich von der Theorie her aneignen kann, aber was sie wirklich bedeuten, das kann der menschliche Geist ja gar nicht erfassen. Es war spannend, erst einmal überhaupt eine sinnvolle Formel zu eruieren. Dabei hat mir ein befreundeter Physiker geholfen, denn diesen Ehrgeiz hatte ich schon: dass die Formel, die ich hier anwende, auch physikalisch korrekt ist.
SCHAU INS BLAU: In der Inszenierung wird aber nicht nur diese physikalische Formelsprache irgendwann semantisch leer, sondern auch die im Hintergrund ständig vorgetragenen Nachrichtenmeldungen. Dadurch, dass sie ständig neu kombiniert werden, deutet sich an, dass die Meldungen über die Katastrophen austauschbare Worthülsen sind.
ANNE OPPERMANN: Interessanterweise hat auch Kagel, dessen grafische Partitur „Himmelsmechanik“ Teil der Inszenierung ist, genau mit solchen semantischen Entleerungen gearbeitet. In diesem Punkt sind sich Mauricio Kagel und Christiane Neudecker also durchaus ähnlich. In einem Werk Kagels, „Anagramma“, vermischt er deutsch- und fremdsprachige Versatzstücke und setzt sie neu zusammen. Mit der Kombinationsfähigkeit von Worten zu spielen, daran hatte er großen Spaß. Außerdem hat er sich generell viel Gedanken über den Wortklang gemacht. Für ihn hatte ein Wort einen Klang, über den man wiederum semantische Bedeutung generieren kann, die überhaupt nichts mit der ursprünglichen Bedeutung zu tun hat. Vielleicht lag das an der Vermischung der argentinischen, deutschen, jüdischen und russischen Einflüsse, denen Kagel ausgesetzt war. Ihm war stets bewusst, dass eine sprachliche Bezeichnung immer arbiträr gesetzt ist.
SCHAU INS BLAU: Welche Rolle spielen der Wortklang und das damit verbundene Finden der richtigen Worte im Verhältnis vom Schreiben eines Librettos zum Schreiben eines Prosa-Textes?
CHRISTIANE NEUDECKER: Diese Wortfindungen im Arbeitsprozess sind schon beim Romanschreiben eine große Herausforderung. Sprache ist mir heilig – für sie lohnt sich jeder Kampf. Es gibt beim Schreiben ganz oft eine Art Grundgefühl: Ich weiß schon ganz genau, was ich formulieren will, habe aber noch nicht das perfekte Bild, die richtige Melodie. Dadurch, dass die Form des Librettos eine noch konzentriertere ist und ich beim Schreiben bereits wusste, was Christian Steinhäuser in der Komposition und Sven Sören Beyer in der Inszenierung vorhatten, musste ich unter anderem verknappter und melodischer denken als in einem Prosatext. Und dann ist es natürlich umso schöner, wenn man Worte, um die man lange gerungen hat, findet, wie z.B. den Satz „Türme zu Brunnen“. Der ist mir in Venedig eingefallen, danach habe ich sehr gesucht. Ich wollte diese Verdrehung der Welt oder die Perspektivenverschiebung mit drei Worten auf den Punkt bringen.
SCHAU INS BLAU: Abschließend stellt sich noch die Frage, was das Bereichernde für eine Institution wie die Deutsche Oper Berlin an solch einem innovativen Format und umgekehrt, was das Bereichernde für phase7performing.arts an der Zusammenarbeit mit so einem großen Haus ist?
CHRISTIANE NEUDECKER: Zuerst einmal ist es die Ballung von musikalischem Talent, die sich hier aufhält. Ich persönlich war beispielsweise unfassbar berührt und dankbar, dass ich an den Sängerproben teilnehmen durfte. Denn wie der Musikalische Leiter Kevin McCutcheon eben nicht nur mit dem Klang und den Stimmen umgeht, sondern auch mit dem Text, das hat mich sehr fasziniert. Und natürlich ist es für mich als Autorin etwas Besonderes, wenn ich meine Texte das erste Mal gesungen oder auch gesprochen höre, insbesondere von diesen hochkarätigen Sängern. Das ist etwas, das ich so schnell nicht vergessen werde.
ANNE OPPERMANN: Aus Sicht der Deutschen Oper lässt sich sagen, dass es sehr hilfreich ist, neue Formate zu denken. Wir spielen neben dem klassischen Opernrepertoire zwar auch moderne Stücke, aber die Oper begrenzt sich – erzwungenermaßen – eigentlich immer auf das Format der Guckkastenbühne mit Orchestergraben. Darauf ist alles ausgerichtet und Jahre im Voraus so eingetaktet, dass es reibungslos funktioniert. Neue Formate sprengen die gewohnten Abläufe und dann knirscht es im Getriebe; aber es bringt gleichzeitig viel frischen Wind. Natürlich ist man darauf angewiesen, dass man mit jemandem zusammenarbeitet, der wie phase7 das nötige Know-How und Wissen hat, alleine schon, wenn man die technische Seite der Produktion bedenkt. Solch ein Projekt mischt somit alles einmal kräftig durch. Und letztlich wirkt es dadurch dann auch wieder auf die große Bühne zurück.
Das Gespräch mit Christiane Neudecker und Anne Oppermann führten Manuel Illi und Agnes Bidmon.
Himmelsmechanik — eine Entortung
Begehbare Oper in den Foyers der
Deutschen Oper Berlin mit Musik von
Mauricio Kagel und Christian
Steinhäuser, mit einem Libretto von
Christiane Neudecker.
Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin.
Eine Kooperation der Deutschen Oper Berlin mit phase7Musikalische Leitung: Kevin McCutcheon
Regie: Sven Sören Beyer
Konzept: Sven Sören Beyer, Christiane Neudecker
Bühne: Sven Sören Beyer, Pedro Richter
Kostüm: Pedro Richter
Licht: Björn Hermann
Softwarekunst: Frieder Weiss
Dramaturgie: Dorothea Hartmann, Anne OppermannSopran: Anna Schoeck
Mezzosopran: Dana Beth Miller
Tenor: Clemens Bieber
Bassbariton: Stephen Bronk
Der Nachrichtensprecher: Henning KoberData Atlas Experiment in Zusammenarbeit mit Arts@CERN