Zur Situation der Geisteswissenschaften innerhalb der Bayerischen Hochschulgesetzesreform
von Leo Blumenschein
Als sich die bundesdeutschen Feuilletons 2018 mit dem 50- jährigen Jubiläum der 68er-Generation befassten, wurde der studentische Widerstand endgültig in die Sphäre einer vergangenen Geschichtlichkeit gerückt: Ihre Wirkkraft ist maximal Strahlkraft, in dem Sinne, dass sich ihre Wirkung aus der Unmittelbarkeit zurückgezogen hat. Zugegeben, 2020 war kein gutes Jahr für die unmittelbare Welterfahrung. Die Abstraktion, eine durch Zoom nur noch vermittelte, nicht direkt sinnlich wahrnehmbare Welt, verwandelte diese ebenfalls in eine ‚Strahlung‘; in eine Realität zweiter Klasse, deren Evidenz maximal in der Wirkung aber nicht mehr in der Prozesshaftigkeit zu erfahren ist. Die Folgen reichen bis ins Private: Die Möglichkeit, sich selbst als wirksames Lebewesen wahrzunehmen, wurde abstrakt. Allzu oft schob sich zwischen die (eigene) Person und die Realität (einer anderen Person) etwas Drittes, sei es nun eine Zoom-Konferenz oder eine online-Petition. Die Schnittstelle zwischen Realität und Subjekt wurde fadenscheinig. Aber die Resultate, die diese abstrakte Realität erzeugt, sind trotzdem Tatsachen. Tatsachen, wie die Reform des Bayerischen Hochschulgesetzes, die an der Peripherie der neuen Realität in Erscheinung treten.Die Realität des Hochschulgesetzes bleibt auch aus einem anderen Grund fragwürdig: Noch steht alles unter dem Vorbehalt des Vorläufigen. Erst Ende März soll das Eckpunktepapier in einer endgültigen Version vorliegen. Dass das Ausarbeiten jenes Papiers nahezu ohne studentische Gremien [i] vonstattenging, ist eigentlich ein Skandal, der erst zu Beginn des Jahres, Monate nach den ersten vorläufigen Gesetzesentwürfen, ins öffentliche Bewusstsein geriet. Die Verspätung des öffentlichen Protestes verdankt sich wohl auch einer geschickten Rhetorik seitens der Staatsregierung. Wenn immer wieder von „größtmöglicher Freiheit“ gesprochen wird, kann wohl niemand etwas dagegen haben. Mag unter den Talaren auch nicht mehr der „Muff von 1000 Jahren“ kleben, so ist die Ermöglichung von mehr Spitzenforschung und die Verschlankung ausufernder bürokratischer Prozesse sicherlich ein legitimes Vorhaben. Und doch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Art der Freiheit zu werfen, in die die Hochschulen entlassen werden sollen.
Größere Freiheit der Hochschulen?
Von was für einer Freiheit wird hier gesprochen? Wovon und wozu sollen die Hochschulen frei werden? Das vorläufige Eckpunktepapier ist nicht besonders umfangreich. Ganz zweifelsohne enthält es auch viele Vorhaben, die – werden sie denn richtig und kontrolliert umgesetzt – die Universität aufwerten werden. Die Kritik allerdings nimmt zwei grundlegende Aspekte in den Fokus, die Machtkonzentration der Hochschulleitung und die Ökonomisierung der Hochschulen, die in ihrem Umfang in der Lage sind, die positiven Vorzeichen des Reformgedankens umzukehren: Die Konzentration der Handlungsmacht auf die Hochschulleitung birgt in Zukunft die Möglichkeit, viele Gremien zu übergehen. Diese wären also de facto ‚bedeutungslos‘. Ob und wie sie mitreden können, wird dann vom Gutdünken der jeweiligen Hochschulleitung abhängen.
Die Freiheit, von der das Eckpunktepapier spricht, ist die Freiheit, die die Hochschulleitungen in Zukunft vom Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst bekommen, und die in der Tat weiter als zuvor gefasst wird. Das demokratische Maß eines Systems ist allerdings nicht an jener Makroebene abzulesen, sondern an der Mikroebene: an der Bedeutung, die den kleinsten Systemelementen zugestanden wird; an dem Recht also, wie sich diese konstruktiv einbringen – oder aber Vorhaben blockieren und ablehnen können. Überhaupt spricht aus der Vorlage der Wunsch nach mehr Geradlinigkeit und schnellerer Zielführung. [ii] Das oft Lähmende des demokratischen Prozesses soll umgangen, und stattdessen der Nutzen, stärker fokussiert werden.
Wenn Freiheit dem Nutzenkalkül weicht
Aber gerade an dem Begriff des Nutzens zeigt sich jener zweite Kritikpunkt deutlich, den ich als eine verdeckte Verschiebung kennzeichnen möchte – weg von einer vielleicht idealistisch geprägten Auffassung des Nutzens von Bildung hin zu einer materialistisch geprägten. So heißt es zwar im Eckpunktepapier:
Forschung und Lehre haben höchsten gesellschaftlichen Nutzen. Der soziale, technologische, ökonomische, ökologische und kreative Mehrwert für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wird daher anerkennend und programmatisch als Aufgabe der Hochschulen verankert [1].
Allerdings zeigt sich im weiteren Verlauf des Entwurfs, dass gerade ein ‚anwendungsorientierter Nutzen‘ gestärkt wird. Dieser soll sich unmittelbar, allen voran in einer stärkeren Kopplung an die Wirtschaft zeigen; seine Wirkung ist materialistischer Natur. Zwar wird jener idealistische Nutzenbegriff nirgends als irrelevant abgetan. Jedoch wird gerade das materialistische Konzept gestärkt, wohingegen das idealistische in seiner Bedeutung bestenfalls den Status quo halten kann. Dadurch verschiebt sich das Verhältnis, sodass es de facto einer Schwächung des idealistischen Nutzens gleichkommt.
Um diese Zäsur zu erklären, reicht es nicht, sich die Gesetzesreform als singuläres politisches Ereignis vorzustellen, wir müssen nach dem Wesen fragen. Diese Wesensfrage darf aber nicht als eine statische Frage der Gattung verstanden werden, sondern als eine, die sich im Vollzug beantwortet: Wo liegen die geistigen Wurzeln? Wenn wir diese aufdecken, können wir hoffen, zu verstehen: nicht nur was es ist, sondern auch wieso es ist. Nun, versucht man das herauszuarbeiten, was die prozedurale Stoßrichtung der bildungspolitischen Veränderung ist, so zeigt sich, dass sie sich vor allem durch eine zunehmende Verknappung (Befürworter*innen sagen: Geradlinigkeit) und durch eine gesteigerte Zweckorientierung auszeichnet. Kurz gesagt: Der Gegenstand der Erkenntnis weicht immer mehr dem Zweck der Erkenntnis. Die Erkenntnis der Erkenntnis wegen scheint dabei den Zweck der Erkenntnis nicht länger ausfüllen zu können.
Die Zweckfrage als Heideggers „Wesen der Technik“
Die Aufwertung des Nutzens zum höchsten Ziel bei gleichzeitig stupiden Glauben, der Nutzen sei eine materialistische Nutzbarmachung, entspricht dabei im Wesentlichen dem, was Heidegger als das „Wesen der Technik“ beschreibt. Vielleicht lohnt es sich hier einen genaueren Blick zu wagen: Dieses Wesen der Technik ist keine technische Dimension, sondern eine bestimme Art des Denkens, die sich durch die Unterwerfung aller Dinge unter den Nutzen kennzeichnet. Die Natur und der Mensch werden zur bloßen Ressource, die dazu auffordert, sich ihrer zu bemächtigen. Das Wesen der Technik ist also die Denkart des ‚totalen Nutzens‘ und ist die Grundlage und nicht das Ergebnis einer technokratischen Gesellschaft. Es ist – wie Heidegger sagt – ein „Gestell“. Dieses Stellen der Natur ist zweifach zu verstehen: Einerseits als ein ‚passives Stellen‘ eines Gegenstandes – so wie es moderne Technik etwa erlaubt, einen Fluss durch eine Umleitung in die Landschaft zu ‚stellen‘; andererseits im Sinne einer Herausforderung der Natur.
Tatsächlich finden sich beide Aspekte dieses Wesens der Technik, des Gestells, auch in der Hochschulgesetzesreform. Sie unterstellt die Hochschulen marktwirtschaftlichen Prozessen und fordert sie zu einem komparativen Wettstreit untereinander heraus. Die Stärkung der MINT-Fächer, die Forderung nach mehr Informatikunterricht und das ständige Schüren einer diffusen Angst, „abgehängt zu werden“ (von was und wozu?) offenbaren dabei nur, dass dieses Wesen bereits seit geraumer Zeit die Bildungspolitik durchdringt. Und doch zeigt sich hier eine Neuerung: Konnte die Universität bisher durchaus als freiheitliche Heterotopie gelten, deren gesellschaftliche Rückwirkung sich durchaus in manchen Teilbereichen nur mittelbar bemerkbar machen durfte, gerät nun auch sie in den Fokus der Ökonomisierung. Dass gerade der gesellschaftliche Nutzen der Geisteswissenschaften nicht unmittelbar oder überhaupt in Zahlen messbar ist, diese aber deshalb keinesfalls nutzlos sind, war bisher bildungspolitischer Konsens. Man ließ sie ‚gewähren‘ und ‚glaubte‘ an einen humanistischen Mehrwert. Jenes Wesen der Technik aber gibt sich zunehmend ordinärer: Der Begriff des Nutzens verflacht. Was Nutzen bringt, muss der Nutzen der Maschine sein; direkt ableitbar und messbar, sei es in University-Rankings oder als Beitrag zum BIP. Das neue Hochschulgesetz scheint diesem numerischen Fetisch ungehemmt nachzugehen:
Mit der im Hochschulinnovationsgesetz erreichten Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Hochschulen muss eine gesteigerte Output-Orientierung einhergehen. Wissenschaft lässt sich zwar nicht numerisch bewerten, es gibt aber viele Aspekte wissenschaftlicher Exzellenz, die Niederschlag in vergleichbaren Indizes finden, die für eine erfolgsorientierte (Teil-)Finanzierung genutzt werden kann und muss. [iii]
„Ein humanitärer Beitrag zur Gesellschaft“, wie ihn geisteswissenschaftliche Fächer seit Jahrzehnten leisten, scheint leider eine zu abstrakte Größe geworden zu sein. Allgemein stehen wir doch auf dem billigsten Grund des Reduktionismus‘. Dass es zwischen Ursache und Wirkung ein Drittes gibt – so wie auch beim Rückwirken der Geisteswissenschaft auf die Gesellschaft –, scheint neuerdings so außerhalb der Zweckfrage zu liegen, dass es schlechthin gilt, dieses zu verbannen. Dabei ist gerade das mittelbare Denken, das Einfügen eines Dritten zwischen Ursache und Wirkung, doch das, was man allgemein Abstraktion nennt und Grundlage jedes, nicht nur des geisteswissenschaftlichen, Denkens. Wenn wir unserem Denken kein ontologisches Potenzial, in dem Sinne einer Umformung und Verlängerung des Denkprozesses mit Hilfe der Abstraktion zugestehen, bleibt nur eine materialistische Reduktion übrig, um das Sein vom Denken abzuleiten. Das Wesen der Technik mag zwar dem Ursprung nach ein Denkprozess sein, allerdings ist es jeder Abstraktion durch die enge Zweckgebundenheit sowie dem unmittelbarsten, schnellsten und schlanksten Weg von Natur aus feindlich gesinnt. Dabei ist jene Verschlankung, die die Hochschulgesetzesreform anstrebt nur die bildungspolitische Ausformung dessen.
Verschlankung der (Geistes-)Wissenschaft
Denn zu abstrahieren, bedeutet eben nicht, den schnellsten und einfachsten Gedankenweg gehen zu müssen. Sobald die Abstraktion folglich als unnütz oder nicht zielführend abgelehnt wird, gilt dieser Angriff auch der Geisteswissenschaft und provoziert einen Zweifrontenkrieg; ist es doch ein Merkmal der Geisteswissenschaften, dass ihre Funktion und Methodik abstrakt und abstrahierend zu verstehen sind. Vorschläge wie der Thomas Hoffmanns, des Präsidenten der TU München, der zu den Befürwortern der Reform gehört, Hochschulen sollten in Zukunft die Möglichkeit haben, sich mit ihren Körperschaftsvermögen an Ausgründungen beteiligen zu können, propagieren zwar die Handlungshoheit der Universitäten; allerdings werden gleichzeitig die Universitäten, deren Töpfe nicht durch Spitzenforschung- oder Wirtschaftszuschüsse gefüllt sind, so schnell abfallen.
Was dabei übersehen wird: All die Mechanismen, gegen die sich Hochschulgesetze grundsätzlich wenden, mögen zwar manchmal die Handlungsgeschwindigkeit senken, sind im Kern aber immer Instrumente des Ausgleichs; sei es zwischen den einzelnen Fachrichtungen, den unterschiedlichen Hochschulen, oder aber zwischen Studierenden und Hochschulleitung. Wenn sie wegfallen, wird das Gefälle wachsen. Leider sind soziale Strukturen – gerade wenn man abgeneigt ist, das Soziale sozialdarwinistisch zu erklären – keine Dimension des Wesens der Technik. Ganz im Gegenteil: Dadurch, dass sich das Wesen der Technik permanent seiner eigenen Nützlichkeitsprüfung unterziehen muss, subtrahiert es nach und nach alles, was nur am Rande seines eigenen Nützlichkeitsbegriffes steht. Es selbst steigert sich also fortwährend. Die oben bereits angedeutete Radikalisierung dieses Wesens ist immanenter Bestandteil. Es ist eben keine Suche nach Merkmalen, sondern charakteristisch durch sein prozedurales Wesen bestimmt. Die fortschreitende Steigerung ist also Teil des Wesens der Technik.
Dass diese Zweckmäßigkeit in Kombination mit einer materialistischen Akzentuierung des Zweckes irgendwann an die Pforten der Universitäten klopft, war abzusehen. Geisteswissenschaften zu betreiben, wird danach wohl bestenfalls ‚Luxus‘; wahrscheinlich aber einfach ‚überflüssig‘ werden. Schließlich ist etwa der Nutzen der Philosophie eben nicht der eines Autos – ihre Wirkkraft ist eine andere und auch ihre Indikatoren zur ontologischen Bestandsaufnahme sind andere. Vorausgesetzt jenes Wesen der Technik wird sich ungebremst entfalten, werden es vor allem die Geisteswissenschaften sein, die der Entwicklung zum Opfer fallen.
Letztendlich wird es auch am demokratischen Verständnis der Hochschulleitungen liegen, ob eine Entdemokratisierung tatsächlich stattfindet. Und wenn Heidegger bezogen auf das Wesen der Technik Hölderlin, zugegeben etwas verknappt, zitiert: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ [iv] – und damit meint, dass die Rettung inhärenter Teil der Gefahr sei; so dürfen wir im Hinblick auf das Hochschulgesetz die vage Hoffnung formulieren, dass der Stoß in den luftleeren Raum, der den Geisteswissenschaften möglicherweise bevorsteht, am Ende eine Freiheit hervorbringt, die es gleichzeitig erlaubt, an geistiger Schärfe zu gewinnen.
[1] „Eckpunkte Hochschulrechtsreform“ S.3.
[i] Genauso wie ohne den akademischen Mittelbau.
[ii] So heißt es: „Ziel ist maximale Verschlankung und Deregulierung.“ Siehe: MRV-Novellierung-des-Bayerischen-Hochschulrechts-Eckpunkte-Hochschulrechtsreform_final_20102020.pdf.
[iii] Zit. nach: Die Firma — Meinung — SZ.de (sueddeutsche.de). Abgerufen am 09.01.2021.
[iv] Zit. nach: Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre. Pfullingen, 1976. S. 41.