Musik als »perfekte Sprache«

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Ein Gespräch mit der Musikerin Iris Lichtinger

von Ste­pha­nie Waldow

schau­ins­blau: Mit Pro­get­to 600 ver­schrei­ben Sie sich der Idee, Barock­mu­sik, Pop, Jazz und zeit­ge­nös­si­sche Musik ins Gespräch mit­ein­an­der zu brin­gen. Dabei geht es viel­leicht weni­ger um Brü­cken­bau­en, son­dern viel­mehr um das Eröff­nen neu­er Klang­wel­ten. Was fas­zi­niert Sie an die­sem Pro­jekt, wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Iris Licht­in­ger: Wenn ich an mich als musi­zie­ren­de Jugend­li­che zurück­den­ke, zeigt mir die Erin­ne­rung in ers­ter Linie das Bild eines Mäd­chens, dass sich vie­le Stun­den am Flü­gel sit­zend durch die musi­ka­li­schen Epo­chen und Gat­tun­gen „scannt“. Das geschah über Par­ti­tu­ren und Kla­vier­aus­zü­ge, ein beharr­li­ches For­schen, Ver­sin­ken  und Stau­nen über fas­zi­nie­ren­de Musik­wel­ten. Die­se kata­pul­tier­ten mich inner­lich aus dem Eltern­haus hin­aus. Der Fokus wan­der­te, das Inter­es­se für bestimm­te Details und For­men, wich­tig aber war mir vor allem einen Über­blick über das gros­se Wun­der der Musik  zu bekom­men und zugleich begriff ich, dass ein Leben nicht aus­rei­chen wür­de, um alles zu Erfor­schen­de ken­nen­zu­ler­nen. Dabei ging es mir eigent­lich nie um das Instru­ment an sich — das Kla­vier, die Block­flö­te — , sie waren nur ein prak­ti­sches und neu­tra­les Medi­um, um aktiv Musik zu erfah­ren. Die Idee von PROGETTO 600 ist eher das Flie­ßen, Trans­for­mie­ren, Wer­den und Expe­ri­men­tie­ren anstatt das Bestä­ti­gen oder Wie­der­be­le­ben von schon Bekann­tem. Viel­leicht keh­re ich damit ein Stück zu dem immer neu­gie­ri­gen Mäd­chen zurück. Kon­kre­ter Ansatz­punkt aber für die­ses Pro­jekt war der Wunsch zu sehen, was ent­steht, wenn man ein Lied aus dem ita­lie­ni­schen „Sei­cen­to“, dem 17. Jahr­hun­dert von Ste­fa­no Lan­di oder Bene­det­to Fer­ra­ri einem heu­ti­gen ita­lie­ni­schen Pop­song von Lucio Dal­la oder Tizia­no Fer­ro gegen­über­stellt – sowohl musi­ka­lisch, als auch atmo­sphä­risch im Publi­kum. Das gab es noch kaum, die­se Span­nung reiz­te mich.

schau­ins­blau: Auch die Gren­ze von sog. U- und E‑Musik wird dabei bestän­dig über­schrit­ten. Wel­ches Anlie­gen ver­fol­gen Sie damit, sowohl ästhe­tisch als auch gesellschaftlich?

Iris Licht­in­ger: U- und E ‑Musik als Begrif­fe konn­ten mir eigent­lich nie etwas sagen. Für mich teilt sich das musi­ka­li­sche Erle­ben in die drei Berei­che spi­ri­tu­el­le, „erha­be­ne“ und rein „irdisch“-emotionale Erfah­run­gen. Bei PROGETTO 600 mixen wir die­se Erfah­rens­be­rei­che sub­til oder frap­pie­ren durch unvor­be­rei­te­te Brü­che, basie­rend auf der Über­zeu­gung, dass sie in uns allen zu unter­schied­li­chen Antei­len woh­nen und sich im Lau­fe eines Lebens wei­ter­ent­wi­ckeln. Die hand­werk­li­che Brü­cke über die die­ses Vor­ge­hen funk­tio­niert, ist die Impro­vi­sa­ti­on: sowohl im 17. Jahr­hun­dert wie auch im Jazz- und teil­wei­se im Pop spie­len die Impro­vi­sa­tio­nen eine Rol­le. Die Pro­gramm­kom­po­nen­ten aus der Moder­ne, dem 21. Jahr­hun­dert, sor­gen dann oft für eine küh­le, abs­tra­hie­ren­de, distan­zie­ren­de Ebene.

schau­ins­blau: Ist Musik eine zeit- und kul­tur­über­grei­fen­de Spra­che? Kann sie hier auch eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Funk­ti­on über­neh­men? Wie beur­tei­len Sie das Ver­hält­nis von Fremd und Eigen in Bezug auf Instru­men­ten­wahl, Musik­stil usw.?

Iris Licht­in­ger: Musik war und ist für mich immer die „per­fek­te Spra­che“ wie ich sie ein­mal bei Dan­te Ali­ghie­ri defi­niert las: sie ver­bin­det die Eigen­schaf­ten, das Essen­zi­el­le ver­mit­teln zu kön­nen und gleich­zei­tig jedem ver­ständ­lich zu sein. Inso­fern ist sie auch zeit- und kul­tur­über­grei­fend und kann gesell­schafts-poli­tisch wirk­sam sein. Natür­lich hat jede musi­ka­li­sche Epo­che und jedes Gen­re  ihr eige­nes Instru­men­ta­ri­um mit der dadurch gege­be­nen Klang­lich­keit, die gera­de was die Alte Musik betrifft auch durch die nicht-tem­pe­rier­ten Stim­mun­gen gekenn­zeich­net wird. Bei PROGETTO 600 bedie­nen wir uns im Wis­sen um den „Ori­gi­nal­klang“ eines neu­en Instru­men­ta­ri­ums. Das ist immer ein Her­an­tas­ten und auch eine Grat­wan­de­rung inwie­weit wir uns von dem, was wir selbst als „authen­tisch“ ken­nen, ent­fer­nen möchten.

schau­ins­blau: Sie arbei­ten ja schon län­ger mit der Video­künst­le­rin Ste­fa­nie Sixt zusam­men. Wie kam es zu die­sem Aus­tausch und wie kor­re­spon­die­ren hier visu­el­ler und musi­ka­li­scher Raum?

Iris Licht­in­ger: Ich kann­te Ste­fa­nie Sixt in ers­ter Linie über ihre Arbei­ten mit dem Sound­ar­tist Mar­kus Mehr, der Mit­glied der Augs­bur­ger Gesell­schaft für Neue Musik ist, deren ers­te Vor­sit­zen­de ich bin. Für ein wei­te­res Pro­jekt, die visu­el­le Umset­zung von Lou­is Andries­sens „Workers Uni­on“ wur­den wir bei­de zu einer Koope­ra­ti­on gebe­ten. Da konn­te ich sehen, dass ihre visu­el­le Aes­the­tik sich mit mei­nen inne­ren Bil­dern sehr glück­lich trifft und das Gesamt­erleb­nis nicht ein­grenzt, son­dern zu erwei­tern und inten­si­vie­ren ver­mag. Das brach­te mich dazu, sie für das Pro­jekt „Mel­ting“ zu fragen.

schau­ins­blau: Ins­be­son­de­re bei Ihrem neu­en Pro­jekt ‚Mel­ting‘ spielt die Begeg­nung von Natur- und Kul­tur­raum eine her­aus­ge­ho­be­ne Rol­le. Bei­de Räu­me über­la­gern sich im Bild und spie­geln sich buch­stäb­lich gegen­sei­tig. Wel­che Rol­le spielt die Natur für Sie als Künst­le­rin, als Musikerin?

Iris Licht­in­ger: Offen gestan­den ach­te­te ich vor der Pan­de­mie und dem Lock­down wenig auf die Natur außer im Urlaub oder an man­chen frei­en Tagen. Als Musi­ke­rin mit Kon­zert­le­ben ist der Stress­fak­tor und die „Betriebs­ge­schwin­dig­keit“ doch recht hoch. Im Lock­down ergab sich durch den Kon­zert­still­stand eine völ­lig neue Situa­ti­on von kom­plett frei­en Wochen­en­den. Da bemerk­te ich, dass die Natur eine Art inner­lich rei­ni­gen­de Wir­kung hat, ähn­lich einer Yoga-Übung oder das musi­ka­li­sche Üben selbst. Gestau­te Emo­tio­nen kom­men in Fluss und lösen sich, bis sie im Gleich­ge­wicht sind. Mei­ne Bezie­hung zur Natur ist ähn­lich der Bezie­hung zum Gesche­hen auf der Büh­ne: man ist aktiv und pas­siv zugleich, aktiv im Bemü­hen und der Kon­zen­tra­ti­on, pas­siv im Getra­gen­sein von etwas Grös­se­rem, das einem kei­ne Wahl lässt, dem man sich aber anver­trau­en soll­te.  Bezüg­lich „Mel­ting“ hat­te ich den Plan, es an zwei Orten zu dre­hen, auf  dem Anto­ni­berg hoch über der Donau und in dem im Win­ter herr­lich eisi­gen Spie­gel­saal des Schaez­ler­pa­lais. Ste­fa­nie „erspar­te“ uns dann das Dre­hen auf dem ver­schnei­ten Anto­ni­berg und setz­te ihre eige­nen Natur­auf­nah­men ein.

schau­ins­blau: Gera­de wäh­rend der Pan­de­mie sind Sie viel in der Natur spa­zie­ren­ge­gan­gen, haben Fotos mit­ge­bracht. Wel­chen Ein­fluss hat das auf Ihr musi­ka­li­sches Schaf­fen? Wie spie­len sich die unter­schied­li­chen Sin­nes­wahr­neh­mun­gen gegen­sei­tig die Bäl­le zu?

Iris Licht­in­ger: Die Fotos, die ich von mei­nen Natur­gän­gen mit­brach­te, waren absichts­los, spon­tan, eben nur ein Moment des Fokus­sie­rens, um die Erfah­rung der inne­ren Klar­heit spä­ter wie­der­ab­ru­fen zu kön­nen. Um auf die drei musi­ka­li­schen Erfah­rungs­ebe­nen zurück­zu­kom­men spie­gelt sich die Natur sicher in den ers­ten bei­den wider, spi­ri­tu­ell und erhaben.

Iris Licht­in­ger, gebo­ren 1969 in Augs­burg, stu­dier­te in Mün­chen, Ams­ter­dam, Tros­sin­gen und Mai­land. Als viel­sei­tig begab­te und aus­drucks­star­ke Künst­le­rin kon­zer­tiert sie nicht nur inter­na­tio­nal als Flö­tis­tin, Sän­ge­rin, Vokal­künst­le­rin und Pia­nis­tin, son­dern bringt ihre künst­le­ri­sche Exper­ti­se auch als enga­gier­te Kura­to­rin und künst­le­ri­sche Lei­te­rin in zahl­rei­che Pro­jek­te ein. Als Solis­tin kon­zer­tier­te sie u.a. mit Juil­li­ard 415 New York, Fon­tana­Mix Bolo­gna, Euro­pean Music Pro­ject Ber­lin, Fan­tas­mi Texas, Orches­tra Sin­fo­ni­ca Sici­lia­na, Augs­bur­ger Phil­har­mo­ni­ker und vie­len ande­ren. Iris Licht­in­ger ist künst­le­risch mit bedeu­ten­den Kom­po­nis­ten ver­bun­den, deren Wer­ke sie zur Urauf­füh­rung gebracht hat. Als künst­le­ri­sche Lei­te­rin des MEHR MUSIK! Ensem­ble bringt Iris Licht­in­ger seit 2009 auf­stre­ben­de jun­ge Musi­ker und Pro­fis aus den Berei­chen Neue Musik, Jazz und Klas­sik zusam­men. An der Uni­ver­si­tät Augs­burg lei­tet sie Kam­mer­mu­sik­pro­jek­te im Bereich der Alten und Neu­en Musik. Sie ist 1. Vor­sit­zen­de der Augs­bur­ger Gesell­schaft für Neue Musik und kura­tiert mit FAMA  in Koope­ra­ti­on mit den Kunst­samm­lun­gen und Muse­en die Kon­zert­rei­he „Fug­ger­kon­zer­te“ sowie das Fes­ti­val Alte Musik Augsburg.