Aus dem Tagebuch der Rosa Luxemburg

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von Vera Zöller

6. Juli 2017

Heu­te Mor­gen bin ich in mei­ner alten Woh­nung auf­ge­wacht. In Hän­den mein Tage­buch, über dem ich ges­tern Nacht ein­ge­schla­fen war, am Leib Rock und Blu­se, sonst nur noch mei­ne Bro­sche und den Ring. Um mich war Tag, plötz­lich und hell, ganz anders als hin­ter Git­tern. Unge­wohn­tes, blen­den­des Licht. Nur lang­sam nahm ich alles sonst um mich wahr, erkann­te die leer­ste­hen­de Woh­nung als mei­ne eins­ti­ge. Das grü­ne Zim­mer war nun weiß, weiß und leer. Leer waren auch die ande­ren Räu­me, ver­schwun­den die wuch­ti­gen Bie­der­mei­er­mö­bel. Ich ging zum Fens­ter, gleich zu aller­erst, öff­ne­te es und atme­te die Luft. War­me Som­mer­luft, unbe­schreib­lich. Die Pap­pel vor dem Haus, von der aus mich früh mor­gens immer die Vögel begrüßt hat­ten, gab es nicht mehr. An ihrer Stel­le stand ein rie­si­ger Stahl­mast mit eigen­ar­ti­gem Gestän­ge an der Spit­ze. Tat­säch­lich saß dort eine Amsel, sah mich mit geneig­tem Kopf neu­gie­rig an, für eine Sekun­de, dann flog sie weg, flüch­te­te sich in Sicher­heit vor dem unge­wohn­ten Gesicht. Fast hät­te ich mich in Erin­ne­run­gen ver­fan­gen, nach so vie­len Jah­ren wie­der in die­sen Zim­mern. Doch es ist nicht die Zeit, an Ver­gan­ge­nes zu denken.

Außen an der Woh­nungs­tür hing ein Schild mit Namen und Adres­se eines Mak­lers, ich notier­te mir bei­des. Dann ver­ließ ich das Haus.

Die Uhr an einer Hal­te­stel­le zeig­te Vier­tel nach Acht an und ich ging los. Ziel­los und schnell, ein­fach, um zu gehen, mar­schier­te ich los, Haus um Haus, Stra­ße um Stra­ße. Mit wei­ten Schrit­ten, Frei­heit atmend und konn­te es nicht fas­sen. Alles um mich war laut und schnell, futu­ris­ti­sche Auto­mo­bi­le, bun­te Lich­ter an den Kreu­zun­gen, rie­si­ge Pla­ka­te, zahl­lo­se Geschäf­te und so vie­le Men­schen! Was ich sah im Detail zu beschrei­ben, dafür wür­den die­se Sei­ten nicht aus­rei­chen. Von tech­ni­schen Neue­run­gen will ich hier nicht spre­chen, doch von ande­rem muss geschrie­ben wer­den! Ich bin über­wäl­tigt von den vie­len Kul­tu­ren in Ber­lin! Das inter­na­tio­na­le, fried­li­che Mit­ein­an­der so vie­ler! Über­all sind ver­schie­de­ne Spra­chen zu hören, es ist herr­lich. Vom Kuli­na­ri­schen ganz zu schwei­gen! Im Pfand­leih­haus habe ich sehr zu mei­nem Bedau­ern die Bro­sche las­sen müs­sen, doch was ich bekam, bestä­tig­te mei­ne kühns­te Hoff­nung: Die Schei­ne tra­gen den Beweis eines geein­ten Euro­pas, wie es Mickie­wicz erträumt hat­te! Mein ers­ter Ein­kauf war der eines tür­ki­schen Gerichts an einem Stra­ßen­ver­kauf und es schmeck­te himm­lisch nach der Gefäng­nis­kost. Mir fiel auf, dass fast alle Frau­en Hosen tru­gen und mei­ne eupho­ri­sche Vor­ah­nung bestä­tig­te sich nach einem Besuch beim Zei­tungs­ki­osk. Frau­en ist es end­lich gestat­tet, Uni­ver­si­tä­ten zu besu­chen und alle Beru­fe frei aus­zu­üben! Wie ger­ne hät­te ich eine die­ser Zei­tun­gen durch die Zeit zurück­ge­schleu­dert und sie all die­sen Affen vors Gesicht gehal­ten. Ihnen wären alle­samt die Augen über­ge­gan­gen! Doch das konn­te ich nicht und so muss­te ich mich für mich allei­ne freu­en und konn­te es kaum fas­sen. Dann hat sich das Kämp­fen doch gelohnt. Eine demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung ist an der Macht, in einem fried­li­chen Deutsch­land, mit einer Frau als Kanz­le­rin! Kein Wil­helm weit und breit, kein Zar mehr, nichts der­glei­chen! End­lich Freiheit!

7. Juli 2017

Es ist lächer­lich, dass sich eine Rosa Luxem­burg zuerst Sor­gen um ihre Klei­der macht, doch mei­nes war durch das Gefäng­nis arg in Mit­lei­den­schaft gezo­gen wor­den und bedurf­te drin­gend einer Rei­ni­gung. Des­halb beschloss ich heu­te Mor­gen, ein Beklei­dungs­ge­schäft aufzusuchen.

Was für ein Ver­gnü­gen es ist, sich Hosen anzu­zie­hen! Ich pro­bier­te sie in allen Far­ben und For­men an und mach­te doch tat­säch­lich eine recht gute Figur dar­in – aller­dings muss ich ehr­lich geste­hen, dass sie an man­chen Stel­len unan­ge­nehm zwi­cken und mein Rock doch um eini­ges beque­mer ist.  Also habe ich nur eine ein­zi­ge gekauft, um der Eman­zi­pa­ti­on Tri­but zu zol­len, dafür aber noch vier die­ser zau­ber­haf­ten Blusen.

8. Juli 2017

Heu­te war ich an der Uni­ver­si­tät, um die­se Zeit, die­se Welt näher zu erfor­schen. Das Ange­bot an Bil­dung ist über­wäl­ti­gend, genau wie die Scha­ren an Stu­den­ten, die in die Hör­sä­le ein- und aus­strö­men. Wie­viel Wis­sen muss die­se Gesell­schaft haben, aus so vie­len Gelehr­ten bestehend!

Vor der Biblio­thek rief mir ein jun­ger Stu­dent etwas zu, das ich nicht ver­stand. Er trug eine recht alt­mo­di­sche Horn­bril­le, ein sehr aus­ge­wa­sche­nes Hemd, eine alte Hose mit vie­len gro­ßen Löchern und hat­te nur einen Lei­nen­sack auf dem Rücken. Sein Bart wucher­te lang und unge­stutzt und ich hat­te Mit­leid mit ihm und über­leg­te, ihm etwas Geld zuzu­ste­cken. Als er näher kam, deu­te­te er auf mei­nen Rock, den ich natür­lich aus Bequem­lich­keit viel öfter tra­ge als mei­ne Hose, zeig­te mit einem Dau­men nach oben und sag­te, soweit ich ver­stand, „echt vin­ta­ge“. Die Bedeu­tung des Wor­tes in die­sem Zusam­men­hang erschloss sich mir nicht, aber wäh­rend ich nach ein paar Mün­zen such­te, ent­fern­te er sich schon.

9. Juli 2017

Habe von der Zen­sur in vie­len Län­dern erfah­ren und fin­de es gräss­lich! Kann der Mensch aus der Geschich­te denn nur Schlech­tes ler­nen? Wie man unter­drückt und ver­dummt? Und den­noch gibt es zu allen Zei­ten Men­schen, die schrei­ben, die ins Gefäng­nis gehen, die ster­ben, all dem zum Trotz für die Frei­heit – auch zu die­sen Zei­ten. Das gibt mir Hoff­nung und drängt mich selbst zum Han­deln. Die alte Schreib­wut schlum­mert noch, doch nicht mehr lan­ge. Je mehr ich über die­se Welt erfah­re des­to mehr kann ich mich empö­ren und des­to mehr kann ich stau­nen und den Kopf schüt­teln, im Guten wie im Schlech­ten, der Mensch gibt mir mehr Rät­sel auf denn je. Was so sim­pel schien vor noch sehr kur­zer Zeit, wird nun tag­täg­lich in Fra­ge gestellt, doch eini­ges bestä­tigt sich und lässt mich die Feder in die Hand neh­men und schrei­ben was immer wich­tig war, immer wich­tig ist und immer wich­tig sein wird!

10. Juli 2017

Habe etwas Schreck­li­ches ent­deckt: Mei­ne Blu­sen sind alle­samt in Asi­en gefer­tigt wor­den! Was ist aus der deut­schen Arbei­ter­schaft gewor­den, aus dem Industrieproletariat?

Das Ergeb­nis mei­ner Recher­che ist scho­ckie­rend: Eine Ver­schie­bung des indus­tri­el­len Elends nach Asi­en, ja ein Rück­fall in Zustän­de, wie sie zu mei­ner Zeit nicht mehr geherrscht haben! Wie kann die­ses demo­kra­ti­sche Deutsch­land, die­se inter­na­tio­na­le Gemein­schaft der­ar­ti­ges tolerieren?

11. Juli 2017

Habe eini­gen Zei­tun­gen mei­nen Arti­kel über die Tex­til­pro­duk­ti­on in Asi­en und die Mög­lich­kei­ten des Umstur­zes der Ver­hält­nis­se vor­ge­legt, doch er wur­de nicht gedruckt. Angeb­lich zu radi­kal. Dabei wäre der Auf­bau mar­xis­ti­scher Unter­grund­zel­len in Ban­gla­desch  durch­aus im Bereich des Möglichen.

Habe mich ander­wei­tig nach Beschäf­ti­gung umge­se­hen und fest­ge­stellt, dass ich eine Stif­tung besit­ze. Bin gleich dort­hin und habe nach Anstel­lung gefragt. Aller­dings konn­te ich mich nicht aus­wei­sen und bin nun Prak­ti­kan­tin, darf aber schrei­ben, was ich will.

12. Juli 2017

Heu­te eine Demons­tra­ti­on von Natio­na­lis­ten beob­ach­tet! Noch eine Hoff­nung, die ich auf­ge­ben muss­te. Ernüch­te­rung, doch kei­ne Über­ra­schung. Immer­hin lin­ke Gegen­de­mons­tran­ten, wenn auch mit  recht merk­wür­di­gen, bun­ten Fri­su­ren. Habe mitdemonstriert.

13. Juli 2017

Mir ist auf­ge­fal­len, dass vie­le Paro­len an den Wän­den äußerst unle­ser­lich geschrie­ben, ja fast nicht als Schrift zu erken­nen sind! Außer­dem in viel zu vie­len ver­schie­de­nen Far­ben, es ist unmög­lich, sie einer Par­tei zuzu­ord­nen! Habe mir des­halb nun selbst rote Far­be besorgt, mit der ich neben die­se bun­ten Unge­tü­me gut leser­lich aus dem kom­mu­nis­ti­schen Mani­fest zitiere.

14. Juli 2017

Ich habe den Drang, die Ver­gan­gen­heit zu erfor­schen, und hüte mich doch davor wie vor einem dunk­len Geist, einer gif­ti­gen Schlan­ge, die mich anzu­grei­fen und zu ver­schlin­gen droht. Ich habe Angst davor, aus Zufall von mei­nem eige­nen Tod zu erfah­ren. Wie mag es gesche­hen sein? Im hohen Alter, selig im gut­bür­ger­li­chen Schlaf­zim­mer ent­schla­fen oder bin ich auf dem Pos­ten gestor­ben, in einer Stra­ßen­schlacht oder im Zucht­haus, so wie ich es immer wünsch­te und doch nie ganz zu Ende gedacht habe. So abge­brüht, Rosa, glaub­test du zu sein, aber du hast Angst, gib es zu!

Doch es ist nicht ent­schei­dend, denn ich lebe.

15. Juli 2017

Ich war in der Biblio­thek und habe in der Lite­ra­tur­ab­tei­lung so eini­ges Schö­nes gefun­den und ent­lie­hen. Nun sit­ze ich abends im Park und lese beim letz­ten Tages­licht Goethe.

Ich schei­ne eine merk­wür­di­ge Fas­zi­na­ti­on aus­zu­üben auf jene jun­gen Män­ner und Frau­en, die über­all den Blick starr auf ihre klei­nen Gerä­te rich­ten. Sie sehen mich lesen, Zei­tun­gen, Bücher, Gedicht­bän­de, und mich Noti­zen machen und schrei­ben, mit nach­denk­li­chem Gesicht und tie­fer Stirn­fal­te. Und sie begin­nen ein Gespräch mit mir und schei­nen begeis­tert von mei­nem Wis­sen, mei­ner Bil­dung, den Spra­chen, die ich spre­che. Sie, die doch so viel wis­sen könn­ten, die doch so viel wis­sen müssten!

16. Juli 2017

Letz­te Nacht habe ich von damals geträumt. Düs­te­re Erin­ne­rungs­fet­zen an die Zeit in War­schau, an die Zita­del­le, den Hun­ger­streik, den Draht­kä­fig, die ver­wisch­ten Trä­nen mei­nes Bru­ders — oh bra­cis­zek — beim ers­ten Wie­der­se­hen und an die Sehn­sucht, die mich an man­chen Tagen auf­zu­fres­sen drohte.

Doch nicht nur dar­an zum Glück, auch an die lan­gen Feld­spa­zier­gän­ge mit Sophie und Karl in Frei­heit, an die Blu­men im bota­ni­schen Gar­ten und die Nach­mit­ta­ge in der Woh­nung in Süd­ende. Süd­ende … viel­leicht soll­te ich ein­mal hin­fah­ren und sehen, ob das Haus noch steht, es wäre gar nicht weit. Ich könn­te die alten Wege abge­hen und viel­leicht auch ein­mal wie­der in den Bota­ni­schen. Doch die Ver­nunft sagt mir, es hat doch kei­nen Zweck. Kein Ort kann die Zeit zurück­dre­hen und die Ein­sam­keit wür­de mich nur här­ter tref­fen. Und doch will ich es tun.

Von Par­tei­ta­gen träu­me ich nie.

17. Juli 2017

Ich bin frei – und bin es doch nicht. Denn es war nicht mein Ent­schluss, hier­her zu kom­men, und ich kann mir nicht erklä­ren, wes­halb ich hier bin — ver­su­che es und schei­te­re an den Gren­zen der Ver­nunft. Und doch bin ich hier.

18. Juli 2017

Mich zog es ins Grü­ne und so kauf­te ich mir ein Zug­ti­cket. Ich woll­te hin­aus aufs Land, in die Fel­der, zu den Vögeln. Die Land­schaft war so wun­der­schön, das Wet­ter so herr­lich, dass ich sogar Goe­the weg­le­gen muss­te, um hin­aus zu sehen. Das sanf­te Wehen der Blät­ter im Wind! Neben mich setz­ten sich zwei jun­ge Damen in zar­ten Som­mer­klei­dern, so fili­gran wie Elfen beweg­ten sie sich. Wie ich alles Schö­ne immer und über­all bewun­de­re, muss­te ich auch sie bewun­dern. Jedoch nur, bis sie ihren rot geschmink­ten Mund auf­mach­ten. Nach eini­gen Minu­ten Gespräch über  Golf­plät­ze an der Côte d’A­zur und den Trend zum Nudelook konn­te ich nicht mehr an mich hal­ten, misch­te mich ein und frag­te sie nach ihrem Stand­punkt zu der von mir erst kürz­lich mit gro­ßem Inter­es­se gele­sen Simo­ne de Beau­voir. Zwei in den Blau­tö­nen der Sai­son geschmink­te Augen­paa­re starr­ten mich an, als wäre ich nicht von die­ser Welt. Statt zu ant­wor­ten, fuh­ren sie sich ver­un­si­chert und leicht pikiert mit den mani­kür­ten Fin­gern durch die vom teu­ers­ten Fri­seur der Stadt gewell­ten Haa­re und wand­ten sich ab. Arro­gan­te Schnep­fen, unter deren tou­pier­ten Fri­su­ren par­füm­ver­ne­belt der letz­te Rest weib­li­cher Selbst­be­stim­mung erstickt! Als hät­ten die­se 100 Jah­re nichts verändert!

19. Juli 2017

Heu­te Mor­gen las ich in der Zei­tung von einem Anschlag in Frank­reich und von so vie­len wei­te­ren im Nahen Osten. Hier und dort star­ben an einem Tag, in nur einer Sekun­de so vie­le Men­schen. Der Krieg hat mich mit sol­chen Gedan­ken frei­lich schon vor Lan­gem ver­traut gemacht. Nach­rich­ten über Tod und Leid bin ich gewohnt und für eine gerech­te Sache star­ben und wer­den noch vie­le Men­schen ster­ben müs­sen. Doch womit kann dies gerecht­fer­tigt wer­den? Mit Reli­gi­on, mit Fana­tis­mus, mit Macht­gier, dem alten, Men­schen ver­gif­ten­den Übel? Oder doch nur mit dem immer­glei­chen, dem immer­wäh­ren­den, nicht aus­zu­rot­ten­den Kapi­tal? Ich las von Men­schen­han­del, ent­führ­ten, ver­sklav­ten Völ­kern, jun­gen Mäd­chen und Kin­dern, von ihren Müt­tern getrennt, von Ver­ge­wal­ti­gung, Fol­ter, Tod. Was ist das für eine Zeit, was ist das für eine Welt?!

20. Juli 2017

Dann und wann, abends, sit­ze ich im Park und die Schwer­mut über­kommt mich. Aber das macht nichts, mein Herz kriegt gleich dar­auf einen Klaps und muss kuschen, es ist schon gewöhnt, zu parie­ren wie ein gut dres­sier­ter Hund. Doch manch­mal reißt es aus.

21. Juli 2017

Es ist gesche­hen. Aus Dumm­heit, aus vagem Geschichts­in­ter­es­se, aus jenem Drang her­aus, der mir seit Anfang inne wohnt.

Doch man soll­te sich von der Wahr­heit fern­hal­ten, wenn sie nicht zu ertra­gen ist.

Jit­ga­dal w’jit­ka­dasch, Sch’­meh rabah

Ich weiß gar nichts mehr, ich ver­ste­he nichts, nichts, als dass ich lei­de. Und kann nicht anders, als zu ver­stum­men.

1. August 2017

Ich blät­te­re in mei­nem Tage­buch und lese jene eine Pas­sa­ge, die mich so oft im Gefäng­nis dar­an erin­ner­te, dass das Leben lebens­wert ist, trotz allem:

So ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und Tren­nung und Sehn­sucht. Man muss es immer mit allem neh­men und alles schön und gut fin­den. Ich tue es wenigs­tens so. Nicht durch aus­ge­klü­gel­te Weis­heit, son­dern ein­fach so aus mei­ner Natur. Ich füh­le instink­tiv, dass das die ein­zi­ge rich­ti­ge Art ist, das Leben zu neh­men, und füh­le mich des­halb wirk­lich glück­lich in jeder Lage. Ich möch­te auch nichts aus mei­nem Leben mis­sen und nichts, nichts anders haben, als es war und ist. 

Doch ich kann mir selbst nicht mehr glauben.

13. August 2017

Nein, Spra­che und Gedan­ken ster­ben nicht, sie erho­len sich, doch sie brau­chen Zeit.

Ich lese viel von mir Nach­ge­bo­re­nen, die Schreck­li­che­res erle­ben muss­ten als ich. Paul Celan und ande­re, Nel­ly Sachs, auch Bert­hold Brecht. Mit ihnen empö­re ich mich, mit ihnen traue­re ich und bin sprach­los. Und hei­le. Lang­sam. Ein wenig zumindest.

3. Sep­tem­ber 2017

Ges­tern Nacht, als ich im Bett lag, über­kam mich etwas, das weh tut, weil es schön ist und grau­sam zugleich. In jenem Moment, kurz bevor der Schlaf kommt und sich die Gedan­ken im Nebel ver­lie­ren, ist man mit sich allein. Die Stil­le hält die Zeit an und Dun­kel umschließt die Wirklichkeit.

Die Augen geöff­net ins Schwarz lau­schend kreist man doch nur um sich selbst. Es gibt nichts mehr. Das Zim­mer hat sich auf­ge­löst, die Decke auf der Haut ver­schmilzt mit der Leere.

Die eige­nen Atem­zü­ge, gleich­mä­ßi­ges Echo ihrer selbst. Ich hal­te die Luft an. Mein Herz schlägt lang­sa­mer, unre­gel­mä­ßig. Und Ver­stand und Gefühl ver­bin­den sich, wo kei­ne Gren­zen sie mehr hal­ten von­ein­an­der. Wie zwei Lie­ben­de im Schutz der Dun­kel­heit ver­schlun­gen unter einer Decke von Erin­ne­rung, end­los ist sie und wild wogend. Unsicht­bar, nur nicht für die Zeit, den gehei­men Betrachter.

Doch kommt der Schlaf, tan­zen sie zu dritt zwi­schen fei­nen Fäden ver­gan­ge­ner Träu­me, bis sich die Sehn­sucht aus dem Ver­bor­ge­nen wagt, der Hoff­nung Spiegelbild.

Mor­gen wer­de ich abrei­sen. Zuerst in die Schweiz, um das übri­ge Geld zu holen, und dann wei­ter nach Ita­li­en. Im Ange­sicht der anti­ken Alter­tü­mer lässt sich das moder­ne Euro­pa viel­leicht ver­ges­sen. An jenem Meer, über wel­ches schon Odys­seus gese­gelt, unter uralten Oli­ven­bäu­men, die schon so vie­les gese­hen! Doch ganz ver­ges­sen kann und will ich Euro­pa nicht, nach allem was gesche­hen, nach allem, was mir gesche­hen ist! Bei aller Ver­zweif­lung, die mich manch­mal über­kommt auf die­ser Welt, in die­ser Zeit, auf­ge­ge­ben haben schon zu vie­le. Ich wer­de mich nicht zu ihnen zäh­len las­sen. Ich wer­de rei­sen, gute Bücher lesen, den Früh­ling bewun­dern wie noch nie. Und ich wer­de die Welt verändern.

Die kur­si­ven Stel­len sind Rosa Luxem­burgs Brie­fen aus dem Gefäng­nis an Sophie Lieb­knecht direkt entnommen.

Vera Zöl­ler, gebo­ren 1991, besuch­te das musi­sche Max-Reger-Gym­na­si­um in Amberg. An der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg schloss sie 2017 ihr Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Geschich­te mit dem Staats­examen für Lehr­amt Gym­na­si­um ab. Seit ihrer Kind­heit schreibt sie Lyrik und Pro­sa. Neben klei­ne­ren loka­len Wett­be­wer­ben ist die Baye­ri­sche Aka­de­mie des Schrei­bens der ers­te Schritt an eine grö­ße­re Öffentlichkeit.