Die Spannung liegt im Bogen

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Ein Gespräch mit dem Violinisten Sandro Roy

von Vero­ni­ka Raila

schau­ins­blau: In einem Kon­zert, bei dem alle Augen auf Dich gerich­tet sind, ist sicher­lich der ers­te Strich für Dich von immenser Bedeu­tung. Was pas­siert in dem Moment, wenn Du die Gei­ge in die Hand nimmst, sie unter das Kinn legst und den Bogen zum ers­ten Ton ansetzt?

San­dro Roy: Es ent­steht der Klang, der sich dann zu Tönen ent­wi­ckelt, es bro­delt in mei­nem gan­zen Kör­per und es ent­ste­hen nach und nach Emo­tio­nen und Momente.

schau­ins­blau: Führt Dich der Bogen, führt Dich die Melo­die im Kopf oder führst Du bewusst den ers­ten Strich aus? Ab wann über­gibst Du die Füh­rung des Bogens und Du ver­schmilzt mit Dei­nem Instru­ment zu einem Klangkörper?

San­dro Roy: Die­se Fra­gen beschäf­ti­gen mich heu­te noch, ich muss dazu sagen, dass es eine gro­ße wis­sen­schaft­li­che Leis­tung ist, einen beson­de­ren Ton zu erzeu­gen, es gibt nicht die „eine For­mel“, es ändert sich ständig.

schau­ins­blau: Was ver­stehst Du hier­bei unter „wis­sen­schaft­li­cher Leistung“?

San­dro Roy: Eine Fra­ge von Raum und Zeit — mit wel­cher Geschwin­dig­keit, mit wel­chem Gewicht ich den Ton zie­he. Man fühlt sich jeden Tag anders und so ist viel­leicht jeder Strich auf dem Instru­ment indi­vi­du­ell von­ein­an­der zu unter­schei­den. Im Jazz ist von Anfang an alles dem Zufall über­las­sen, in der Klas­sik wird schon ver­sucht, dass man ein­zel­ne Abläu­fe, sogar Bogen­stri­che genau ein­hält, wie vor­ge­ge­ben. Dies kann oft, mei­ner Mei­nung nach, beein­träch­ti­gen, dass man sei­ne See­le in den Klang­kör­per hin­ein­gibt und völ­lig los­las­sen kann.

schau­ins­blau: Kannst Du mir das noch ein­mal genau­er beschrei­ben? Du nimmst den Bogen in die Hand, setzt zum ers­ten Strich an und dann lässt Du Dich vom Klang füh­ren. Kommt der Ton immer so, wie Du es Dir vor­stellst, oder musst Du manch­mal nachjustieren?

San­dro Roy: Kommt auf die Gege­ben­hei­ten an, z. B. wo und mit wem ich spie­le. Im Frei­en fehlt die Raum­akus­tik und dann muss ich viel­leicht ein biss­chen nachhelfen.

schau­ins­blau: Wel­che Art von Klang­raum willst Du erzeugen?

San­dro Roy: Den Klang­raum der Frei­heit, der Lie­be und des end­lo­sen Rau­mes und Platz.

schau­ins­blau: Wel­che Rol­le spielt die Zeit beim Erzeu­gen des Klang­rau­mes? Ich gehe von mir und mei­nen Geschich­ten aus. Ich möch­te mit mei­nen Geschich­ten auch einen Raum eröff­nen, die­ser ist aber meist wie eine Land­schaft geformt. Die Zeit hält das Gan­ze zusam­men, so dass die Tei­le der Land­schaft nicht zer­fal­len. Ist es bei Dir ähnlich?

San­dro Roy: Musik ist eine Form der Gestal­tung, die auf Wir­kungs­kraft baut. Um Musik best­mög­lich wir­kungs­voll zu machen, muss man sich über Inter­pre­ta­tio­nen Gedan­ken machen. Eine zu kurz gespiel­te Note an einer für das Werk prä­gen­den Stel­le kann die gan­ze Wir­kung des Wer­kes zer­stö­ren. Ich bin ein Freund der lan­gen Töne.

schau­ins­blau: Du sagst, zu kurz gespiel­te Töne kön­nen ein Werk zer­stö­ren, kommt das nicht auch auf das Stück an, ich den­ke jetzt an den Minutenwalzer?

San­dro Roy: Töne, die zu kurz gespielt wer­den bei einem Ada­gio, zu hek­tisch, kön­nen das gan­ze Werk zer­stö­ren. Man kann es ver­glei­chen mit far­bi­gen Bil­dern. Ist ein Werk in stil­len, eher pas­tel­li­gen Tönen gehal­ten, kann eine aggres­si­ve Far­be das Werk zerstören.

schau­ins­blau: Genießt Du die lan­gen Töne, weil sich dann das Gefühl, das die Töne trans­por­tie­ren, sich erst rich­tig im Kör­per und im Kopf des Musi­kers, wie des Zuhö­rers ent­fal­ten können?

San­dro Roy: Ja, genau, so ist es.

schau­ins­blau: Du spielst Klas­sik und Jazz auf höchs­tem Niveau. Unter­schei­det sich Dein Spiel hin­sicht­lich Vor­be­rei­tung, Spiel­wei­se und Empfindung?

San­dro Roy: Ja, das tut es in der Tat. Klas­sik ist eine sehr kon­zi­pier­te musi­ka­li­sche Form. Das heißt über­setzt, die Noten sind über­wie­gend vor­ge­ge­ben. Dies bringt auch oft mit sich, dass die Spiel­wei­se auch schon meist von Leh­rern vor­ge­ge­ben wird. Hier­bei kön­nen die schöns­ten Klän­ge und kom­po­si­to­risch aus­ge­feil­tes­ten Musik­stü­cke entstehen.

schau­ins­blau: Im Jazz ist es genau das Gegen­teil. Man gibt selbst die Töne vor in der Impro­vi­sa­ti­on, wel­che in Bruch­tei­len von Sekun­den frei umge­setzt werden.

San­dro Roy: Kurz gesagt: Jazz ist für mich die Musik­rich­tung mit der meis­ten Frei­heit für Spiel und Auf­füh­rung, Klas­sik hin­ge­gen hat die schöns­te Klang­kul­tur, wofür sich auch dann die inten­si­ve Vor­be­rei­tung lohnt.

schau­ins­blau: 2019 hast Du mit dem Münch­ner Rund­funk­or­ches­ter ein Kon­zert mit dem Titel „Gipsy goes Klas­sik“ gege­ben. Hier spannst Du den Bogen zwi­schen Klas­sik und Jazz, oder soll­te man bes­ser sagen, Du ver­bin­dest bei­de?  Sind für Dich die Über­gän­ge flie­ßend oder besteht für Dich prin­zi­pi­ell eine Trennung?

San­dro Roy: Als den­ken­der Musi­ker soll­te man schon ver­su­chen, ordent­lich zu tren­nen, denn es sind men­tal zwei ver­schie­de­ne Auf­füh­rungs­sta­tio­nen. Ich kann nicht mit klas­si­schem Bogen­strich ein Jazz-Stück sti­lis­tisch kor­rekt auf­füh­ren und anders­her­um eben­so. Wenn ich selbst kom­po­nie­re, ver­su­che ich die Gren­ze zu durchbrechen.

schau­ins­blau: Wie berei­test Du Dich auf ein klas­si­sches Kon­zert vor? Wie zen­trierst Du Dich kurz vor dem Auf­tritt? Wie unter­schei­det sich das bei einem Jazz-Kon­zert? Denkst und fühlst Du unterschiedlich?

San­dro Roy: Es sind für mich zwei ver­schie­de­ne Berei­che mit unter­schied­li­chen Her­aus­for­de­run­gen. In der Klas­sik, wenn ich nicht vor­be­rei­tet erschei­ne, weiß ich vor­her ganz genau, dass es schief gehen wird, im Jazz dage­gen gibt es mehr Freiheit/Demokratie, ich selbst bestim­me in dem Moment ohne Vor­la­ge eines frem­den Kom­po­nis­ten, wel­che Töne erklin­gen wer­den, die­se Indi­vi­dua­li­tät gibt mir viel Frei­heit und ein gutes Gefühl.

schau­ins­blau: Ein klas­si­sches Kon­zert vor­zu­be­rei­ten und Par­ti­tu­ren zu lesen, kann aber genau­so inter­es­sant sein und for­dert mich, je nach Pro­gramm, vie­le Stun­den der auf­merk­sa­men Vor­be­rei­tung für den einen Moment im Konzert.

schau­ins­blau: Wel­che Musik­stü­cke wür­dest Du für einen idea­len Kon­zert­abend aus­wäh­len? Bit­te erzäh­le auch, war­um Dir die­se Stü­cke so am Her­zen liegen.

San­dro Roy: Die „Voca­li­se“ von Rach­ma­ni­now passt für mich in fast jeden Kon­zert­abend und ist ein bezau­bern­des Stück, weil es musi­ka­li­sche Sphä­ren öff­net. Gypsy Swing Stü­cke gehö­ren eben­so in einem Kon­zert­abend, da sie mit­rei­ßend sind und zum Mit­schwin­gen motivieren.

schau­ins­blau: Wel­che Rol­le spielt Dein eige­ner kul­tu­rel­ler Hin­ter­grund für Dein künst­le­ri­sches Schaffen?

San­dro Roy: Ich bin schon sehr früh mit der Musik von Djan­go Rein­hardt in Ver­bin­dung gekom­men, die wohl größ­te Gitar­ren­le­gen­de Euro­pas. Mei­ne Mut­ter ent­stammt auch aus der gro­ßen Rein­hardt Fami­lie, die meh­re­re tau­send Mit­glie­der in ganz Euro­pa hat. Melan­cho­lie und Tem­pe­ra­ment wird in unse­rer musi­ka­li­schen Kul­tur sehr groß­ge­schrie­ben, das habe ich auch schon recht früh erfah­ren dürfen.

schau­ins­blau: Wann hast Du zum ers­ten Mal Musik bewusst wahr­ge­nom­men? Wel­che Stü­cke sind Dir da noch in Erin­ne­rung? Gab es ein bestimm­tes Ereig­nis, ab dem Dir klar war, dass Du Musi­ker wer­den willst?

San­dro Roy: Ich müss­te ca. 5 Jah­re alt gewe­sen sein, mein Vater ist Jazz­gi­tar­rist, jedes Mal, wenn eine Gitar­re aus einem Gitar­ren­kof­fer geho­ben wur­de, fand ich das span­nend. Auch erin­ne­re ich mich, dass immer Jazz Musik im Auto mei­nes Vaters lief, allein das hat mei­ne Ohren ent­schei­dend geöff­net in frü­her Kind­heit. Die Auto­fahr­ten mit mei­nem Vater dau­er­ten sehr lan­ge und wir waren oft unter­wegs, und ich habe mir durch das auf­merk­sa­me Hin­hö­ren die Zeit ver­trie­ben. Beson­ders Stü­cke von Ste­pha­ne Grap­pel­li und Djan­go Rein­hardt waren dabei. Rich­tig Musik zu machen, habe ich erst ange­fan­gen, als mir zufäl­lig ein fast frem­der Mann eine Gei­ge schenk­te. Nach­dem ich Bun­des­preis­trä­ger bei Jugend musi­ziert wur­de als 13-Jäh­ri­ger, wur­de es ein Traum von mir, spä­ter mal Musik zu studieren.

schau­ins­blau: Ich dan­ke Dir für Dei­ne Mühe und Zeit und wün­sche Dir noch viel Erfolg weiterhin.

San­dro Roy, Shoo­ting­star an der Vio­li­ne im Bereich Klas­sik und Jazz, gilt als einer der viel­ver­spre­chends­ten jun­gen Vio­li­nis­ten welt­weit. 2015 ver­öf­fent­lich­te er sei­ne Debüt CD “Whe­re I Come From”, seit­dem hat der jun­ge Aus­nah­me­vio­li­nist eine bemer­kens­wer­te Kar­rie­re absol­viert, wur­de von der Pres­se hoch­ge­lobt und spiel­te bei diver­sen gro­ßen Fes­ti­vals in Euro­pa und auch in den USA. Neben Auf­trit­ten und Prei­sen folg­ten eini­ge Fern­seh­auf­trit­te u.a. beim ZDF-Mor­gen­ma­ga­zin. Solis­ti­sche Auf­trit­te mit der NDR Big­band, der Deut­schen Kam­mer­phil­har­mo­nie Bre­men oder bei Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck in Ber­lin prä­gen bereits sei­ne jun­ge Musi­ker – Lauf­bahn. Es folg­te eine Live­show im BBC Radio und ein aus­ver­kauf­tes Kon­zert im legen­dä­ren Ron­nie Scotts Jazz­club Lon­don. 2019 spiel­te San­dro Roy ein solis­ti­sches Kon­zert mit dem Münch­ner Rund­funk Orches­ter unter dem Mot­to “Gypsy goes Clas­sic” im aus­ver­kauf­ten Prinz­re­gen­ten­thea­ter Mün­chen, wel­ches auf BR Klas­sik live über­tra­gen wurde.