Von Jona Kron und Clara Eisenreich
Vielleicht haben wir uns etwas vorschnell Hoffnungen gemacht. 2021 ist vorbei und wir verbleiben gemischter Dinge. Vielerlei könnte rückblickend kritisiert und einiges davon möchte definitiv reflektiert und aufgearbeitet werden. Doch alles fängt im Kleinen an. Deshalb zum zweiten Mal Bühne frei für Teil eins unseres etwas anderen, dreiteiligen Jahresrückblicks und für die Rückkehr von Textfieber.
Jona Kron, 28, studiert Vergleichende Literaturwissenschaft, genreübergreifender Musikliebhaber, sollte 2022 mehr Comics lesen
Arlo Parks – Collabsed In Sunbeams
Hier sind Deine Tränen sicher; so das Versprechen, mit dem Arlo Parks Albumdebüt Collabsed In Sunbeams beginnt. Meine meistgestreamte Platte des Jahres war das Mercury Prize 2021 gekrönte Album zwar nicht – diese Ehre gebührt Redaktionsliebling Berwyn, der bei derselben Preisverleihung einen herausragenden Auftritt hinlegte. Trotzdem wurde mir in den letzten, zunehmend düsteren Zügen von 2021 bewusst, wie immens wichtig Parks aktuelles Werk tatsächlich ist.
Schließlich hinterlässt uns das Jahr in einem Winter tiefer Ernüchterung und hat die Psyche nur anfälliger gemacht für seine Tücken. Vorbei der Sommer „auf der anderen Seite der Quarantäne“, wie ich ihn noch im letzten Jahresrückblick zusammen mit Koffees Lockdown herbeigesehnt hatte. Jetzt wird aus nach dem Lockdown womöglich vor dem Lockdown. Und doch stehen einige unserer Türen weiterhin offen für die vielen altbekannten oder uns noch ganz neuen Gesichter von Depression.
Parks spricht Ihren persönlichen Weg bis zur Fertigstellung des Albums auf der Mercury Bühne an: sie meint, er wäre hart gewesen und sie war sich einige Male nicht sicher ob sie diesen Tag erleben würde, „but I’m here today…“. Dank dieser Erfahrungen gelingt ihr mit Collabsed In Sunbeams ein offenes und zu großen Teilen anekdotisches Album. Selbstfindungsschwierigkeiten, Depressionen; Parks gibt ihnen in ihren Texten Namen, macht sie greifbar, entstigmatisiert. Kunstvoll findet sie die Balance zwischen nüchternen, wie erdrückenden Darstellungen depressiver Episoden, Phasen, Stimmungen und angemessen gemäßigtem, feinfühlig formuliertem Optimismus. Funkige Drums halten dabei ein meist schreitendes Tempo und motivieren verspielte Ausbrüche aus der vorherrschenden Mollmelodik — bezeichnend für den beeindruckend resilienten Kern von Parks Album. Collabsed In Sunbeams verbindet ergreifendes Storytelling mit Klageliedern, die sich nicht in ihrer eigenen Melancholie verlieren, sondern tiefgründig Verständnis demonstrieren und Trost spenden möchten.
Clara, 22, studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und schätzt Kunst, die verbindet
Komplett Gänsehaut
In dem 2021 erschienen Buch Komplett Gänsehaut von Sophie Passmann beschwert sich eine 27 Jahre alte Protagonistin über Gott und die Welt. Man folgt ihrer Stimme, durch die Zimmer ihrer neuen Altbauwohnung, steht mit ihr in der Küche, denkt über Risotto, Salat mit Orangenfilets, das Verständnis von Zeit und Alter und über eine neue Form von Bürgerlichkeit nach, in der man zwanghaft versucht, anders zu sein. Lange bleibt man mit ihr vor ihrem Bücherregal stehen, in dem sich zu viele Klassiker finden, die man selbst gar nicht so spannend fand, sich aber dennoch insgeheim etwas darauf einbildet, sie gelesen zu haben. Auch die neue Generation der alten weißen Männer, die Sophie Passmann 2019 berühmt gemacht haben, bekommen wieder einiges an Kritik ab. In Komplett Gänsehaut bezeichnet sie diese als „Simbas“, angelehnt an den Disney Film Der König der Löwen, und kritisiert damit deren Umgang mit den eigenen Privilegien sowie die von ihnen internalisierte Denkweise, dass ihnen die Welt zu Füßen liegt — und scheint sich selbst darin zu spiegeln.
Der Text, der sich scheinbar bewusst keiner Kategorie unterordnet, stellt die Beschreibung einer Quarter Life Crisis dar, in der man sich zwar weniger verloren fühlt als in den Teenager Jahren, aber trotzdem seinen Weg noch nicht kennt. Diese Beschwerde über alles und jeden hat gerade 2021 den Zeitgeist sehr gut getroffen und mir die Möglichkeit gegeben, mich in all meiner Wut weniger alleine zu fühlen.
WILLOW – lately I feel EVERYTHINIG
Lately I feel EVERYTHING beschreibt fast alle Gefühle, die ich 2021 durchlebt habe. Im Juli 2021 veröffentliche WILLOW damit bereits ihr viertes Studioalbum. Es bildet eine Mischung aus alt‑R&B, pop-punk und Indie-Rock, für mich waren es jedoch eher die Texte, die sich mir direkt einbrannten.
Angefangen von t r a n s p e r e n t s o u l , den Willow während des ersten Lockdowns selbst verfasste, über F*CK YOU, in dem sie melodisch 36 Sekunden lang ins Mikrofon schreit und auch ich oft meine Wut rausgelassen habe, über Gaslight(ing) eines Ex-Freundes bis hin zu Come Home, in dem sie gemeinsam mit Ayla Tesler-Mabe von Einsamkeit erzählt. All diese Themen schienen 2021 beutend. Am meisten berührt hat mich naïve, in dem sie Polizeigewalt in den USA aber auch den konstanten Konsum von Nachrichten behandelt. „I don’t wanna listen to the radio/…/Life’s a movie and it sucks, but I can’t stop watching” heißt es dort. Gleichzeitig appelliert das lyrische Ich aber auch daran, nicht zu naiv zu sein, bzw. sich diese Naivität einzugestehen. Dieser Song hat mich oft aufgefangen, wenn mir selbst die Nachrichten zu viel wurden.
DRINNIES und Zum Scheitern Verurteilt
Nach dem Ende von Herrengedeck im Juni 2021 wurde es Zeit für mich, neue Podcasts zu entdecken, die ich einfach immer und überall hören kann! Sehr gelegen kam mir da der DRINNIES Podcasts von Guilia Becker und Chris Sommer, der als Pandemieprojekt 2020 entstanden ist. Guilia und Chris erzählen dort von ihrem Leben als Drinnies, also als Personen, die lieber in ihre Heizdecke eingekuschelt auf dem Sofa sitzen und sich vorm Postboten verstecken als draußen unter Leuten zu sein. Auch wenn ich selbst wohl eher in die Kategorie der Draußies falle, habe ich jeden Dienstag immer wieder eine gute Zeit, denn auch so manche*r Draußie schwitzt beim Verfassen von E‑Mails und möchte im Zug lieber alleine sitzen. Angelehnt an ihre Leidenschaften für Die Höhle der Löwen, Bares für Rares und dem Drinnen-Sein gibt es jede Folge ein „Drinnvestmentcase“ mit neuen Unternehmensideen für Drinnies, den „Snack der Woche“ als Vorbereitung für den nächsten Supermarktbesuch, den „Drinnsider“ mit Tipps und Tricks rund um das Vermeiden von Leuten und dem Kontakt mit ihnen. Außerdem gibt es noch einmal im Monat den „Drinnie des Monats“, in dem Zuhörer*innen von ihrem Geschäftsessen, unangenehmen interaktiven Theateraufführungen und verpassten Ausstiegen aus dem Bus erzählen.
Mitte Oktober heilte dann auch Laura Larsson meinen Herrengedeck Liebeskummer mit ihrem neuen Podcast zusammen mit Simon Dömer. In Zum Scheitern Verurteilt erzählen beide Geschichten, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind: Sport- und Abschminkroutine, Aufräumen und Putzen der Wohnung, der Karriere als Pflanzenmama oder Pflanzenpapa oder auch nur der letzte Friseurbesuch. Der Podcast, der oft wie bei einem Gespräch mit Freund*innen von einem Thema zum nächsten übergeht, ist meiner Meinung nach ein gelungenes Comeback zurück in die Podcastszene. Ich freue mich definitiv auf ein hoffentlich nicht zum Scheitern verurteiltes 2022!