Ein Text von Jan-Moritz Harnisch

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Du sitzt in einem Zug, der nach Flo­renz fährt. Die Hit­ze treibt dir das Was­ser über die Stirn. Es ist so heiß, dass es dir pein­lich ist, die Arme zu heben, aus Angst, jemand sieht dei­ne Schweiß­fle­cken. Vor dir ist ein älte­rer Mann ein­ge­schla­fen. Als der Schaff­ner kommt, reißt er den Mann aus dem Schlaf. Auch dir fal­len fast die Augen zu.  Dann end­lich kommt der Zug an und du stehst auf dem Bahn­steig in San­ta Maria Novel­la, reibst dir die Augen und siehst ein ziem­lich häss­li­ches Bahn­hofs­ge­bäu­de. Schein­bar wis­sen das die Flo­ren­ti­ner auch, denn die Ein­gangs­hal­le ist zuge­kleis­tert mit Pla­ka­ten. Die Col­la­ge inter­es­siert dich. Hier mischt sich Ver­gan­ge­nes mit Zukünf­ti­gem. Ver­an­stal­tun­gen, die schon längst statt­ge­fun­den haben, neben Kon­zer­ten, die noch kom­men wer­den. Tat­säch­lich, hin­ter einer Papier­schicht siehst du ein Bat­man: The Dark Night Pla­kat her­vor­schim­mern. Wie lan­ge das her ist, fragst du dich. Zehn Jah­re? Län­ger? Was dir aller­dings auch auf­fällt, ist die Frat­ze von Matteo Sal­vi­ni. Er glotzt auf dich her­ab, du siehst ihn dir genau­er an und bemerkst, dass die­ses Foto ziem­lich stark nach­be­ar­bei­tet ist; jede Unrein­heit soll­te besei­tigt wer­den. Das Bild hat etwas Reli­giö­ses, wie ein Heils­brin­ger insze­niert er sich. Pri­ma Gli Ita­lia­ni steht dane­ben, und in dei­nem Kopf hallt es nach: A Noi!  Du ent­kommst dem Bahn­hof über den Vor­platz, von dem die Bus­se abfah­ren. Wäh­rend du die Flo­ren­ti­ner Innen­stadt zum ers­ten Mal erkun­dest, bemerkst du, dass hier kaum Ita­lie­ner zu sehen ist. Ver­mut­lich flüch­ten sie alle vor der spa­ni­schen, fran­zö­si­schen, japa­ni­schen, chi­ne­si­schen, rumä­ni­schen und deut­schen Tou­ris­ten­be­sat­zung. Bestimmt amü­sie­ren sie sich dar­über, dass du bereit bist, 13,50€ für einen Tel­ler Pas­ta zu bezah­len oder dir eine Tief­kühl­piz­za für zehn Euro als Stein­ofen­ge­bäck ver­kau­fen lässt. Auch bist du dir noch nicht sicher, ob du das blau­leuch­ten­de Pro­pel­ler-Dings wirk­lich brauchst. Aber gut, nun hast du es.  Die Stadt selbst kommt dir vor wie eine rie­si­ge Erzäh­lung. Obwohl du wenig davon ver­stehst, zieht dich der Wider­spruch aus uralten Häu­sern und LED-Bild­schir­men in sei­nen Bann. Bei den gan­zen Gemäl­den, die du im Lauf die­ser Rei­se siehst, scheint es, dass du Anfang und Ende der moder­nen Kunst­ent­wick­lung mit­er­le­ben kannst. Du siehst die Renais­sance­ge­mäl­de in den Uffi­zi­en und auf den Stra­ßen die hoch­auf­lö­sen­den Wer­be­bild­schir­me, du wan­derst die Stra­ßen ent­lang, wo eine Eis­die­le die nächs­te ablöst, aber dich umge­ben Gemäu­er, die sich nach Märk­ten und Stadt­schrei­ern anfüh­len. Du bist fas­zi­niert vom Anblick des Doms, bleibst zwan­zig Minu­ten in einer Schlan­ge ste­hen, um dir die­ses Rie­sen­ge­bil­de anzu­se­hen, und gleich­zei­tig weichst du im Minu­ten­takt den Sel­fie­sticks aus. Trotz der vie­len Men­schen und des Tou­ris­ten­kit­sches ist die Schön­heit die­ser Stadt all­ge­gen­wär­tig, in jedem Hin­ter­hof, in jeder Gas­se gibt es etwas Absur­des, Schö­nes. All­ge­gen­wär­tig ist auch noch etwas ande­res: Das ita­lie­ni­sche Mili­tär. Über­all sind Sol­da­ten, sie ste­hen mit Maschi­nen­ge­weh­ren auf öffent­li­chen Plät­zen, patrouil­lie­ren durch die Innen­stadt, tra­gen Son­nen­bril­len, sit­zen auf Jeeps mit mon­tier­ten Bord­ka­no­nen, mit denen du sämt­li­che Tou­ris­ten aus­lö­schen könn­test. Ange­sichts der Schlan­ge vor den Uffi­zi­en kom­men dir die­se Jeeps tat­säch­lich mal kurz nütz­lich vor. Die Schlan­ge ist langlan­glan­glan­glang. Über­ra­schung: Die Uffi­zi­en sind, ent­ge­gen der Mei­nung dei­nes Rei­se­füh­rers, über­ra­schend lang­wei­lig.  Auf der Pon­te Vec­chio machst du eine inter­es­san­te Beob­ach­tung: Offen­bar gibt es auch noch eine ande­re Art Poli­zei in Ita­li­en. Sie nen­nen sich: Vigi­lan­ti. Du stehst kurz vor der Pon­te Vec­chio und siehst dabei zu, wie einem Sene­ga­le­sen die Lein­wand, mit der er eine Kari­ka­tur zeich­net, aus der Hand geris­sen wird. Zu dritt stür­men die­se Vigi­lan­ti los und hal­ten den Sene­ga­le­sen fest, einer schubst ihn von sei­ner Staf­fe­lei weg. Er will sich weh­ren, wäh­rend der son­nen­be­brill­te Ita­lie­ner ihn fest­hält und Rich­tung Boden zieht. Es bil­det sich ein Loch in der Tou­ris­ten­mas­se, schlag­ar­tig wei­chen die Men­schen den Vigi­lan­ti aus. Du hörst Flü­che in einem Gemisch aus Fran­zö­sisch, Ita­lie­nisch, Eng­lisch und einer Spra­che, die du nicht iden­ti­fi­zie­ren kannst. Jemand kracht gegen einen Eis­wa­gen. Immer mehr Leu­te ver­sam­meln sich um die­sen Ort her­um und es wird stil­ler, obwohl die gan­ze Zeit jemand schreit. Vor den Augen des Sene­ga­le­sen, zer­legt die­se Bür­ger­wehr sei­ne Hab­se­lig­kei­ten.  Die Kno­chen sei­ner Staf­fe­lei bre­chen einer nach dem ande­ren. In Zeit­lu­pe bers­ten sie unter dem Stamp­fen fes­ten Wan­der­schuh­werks. Zuerst die Hal­te­rung zwi­schen den Steh­bei­nen. Knack! Dann der Drei­fuß selbst. Es knackt zwei­mal. Beim letz­ten muss er das Holz­bün­del dre­hen. Es knirscht, und die Staf­fe­lei taugt nur noch als Brenn­holz. Die Zeich­nun­gen, die der Stra­ßen­künst­ler aus­ge­stellt hat­te, wer­den gesam­melt, gesta­pelt und in der Mit­te durch­ge­ris­sen. Noch­mal und noch­mal, das Rei­ßen des Papiers wird dump­fer, je dicker der Sta­pel wird. Noch­mal. Schließ­lich lan­det das Papier im Müll. Sie las­sen den Mann wie­der los. Nach ein paar Minu­ten ver­läuft sich die Mas­se wie­der, als wäre hier nichts pas­siert. Die drei Vigi­lan­ti ver­schwin­den mit ihren Fahr­rä­dern. Sie haben klei­ne Moto­ren, damit sie schnel­ler fah­ren kön­nen. Dar­an wird dir klar, dass die­ser Sene­ga­le­se nicht der Ers­te und schon gar nicht der Letz­te war. Das ist eine Treib­jagd.  Dir schmeckt dein Neun-Euro-Eis nicht mehr. Du über­legst dir sogar kurz abzu­rei­sen. Vor allem fragst du dich, war­um nie­mand etwas tut? War­um bleibt es so still um die­sen Vor­fall? Du fragst einen Pas­san­ten, der eben­falls ste­hen­ge­blie­ben ist, was hier eigent­lich los ist. »This hap­pens if you give too much power to the poli­ce. Now they think they own this place. And as long as no one stops them, they think they are right about it«, sagt der Laden­be­sit­zer, auf des­sen Ter­ras­se du Zuflucht genom­men hast.  Du fragst ihn, war­um nie­mand die Poli­zei auf­hält. »How?«, fragt er ver­blüfft. »I must run my store. And you see what they do, you don’t want to be the next in line.« 

Jan-Moritz Har­nisch ist in Mün­chen auf­ge­wach­sen und hat nach dem Abitur ange­fan­gen, zu schrei­ben und am Thea­ter zu arbei­ten. Er hat ein Jahr am Prinz­re­gen­ten­thea­ter gear­bei­tet, zuerst als Regie­hos­pi­tant, dann als Assis­tent. Die Arbeit am Thea­ter war auch ein Grund, war­um er sich spä­ter für ein Lite­ra­tur­wis­sen­schafts­stu­di­um in Augs­burg ent­schied. Eine Rei­se nach Marok­ko im Jahr 2011, also im Jahr des Ara­bi­schen Früh­lings, gab den Impuls, es mit einem län­ge­ren Text zu ver­su­chen, der noch in Arbeit ist. Die Geschich­te über Flo­renz ist eine kur­ze Erzäh­lung, die für die Abschluss­le­sung der Baye­ri­sche Aka­de­mie des Schrei­bens geschrie­ben wurde.