Am Gleis stehen und verheulte Selfies schießen

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Brotjob, Kraftbrot und Beharrlichkeit

von Lisa Krusche

Vor einem Jahr ist mein ers­ter Roman erschie­nen und ich kapier­te so lang­sam, dass mein Vater gera­de dabei war sich zu Tode zu trin­ken. Ein Jahr wie ein Text in einer Fremd­spra­che. Ein Jahr wie: „Die See­le ver­wan­delt sich in ein Gespenst und läuft ins Lee­re.“[i] Ein Jahr, durch das ein eisi­ger Wind weh­te, der mir die Gän­se­haut auf­rieb und die Gedan­ken zer­frans­te. Ich wünsch­te, die­ser Text wäre ein Fest. Eine Rück­schau als Lob­lied, eine ful­mi­nan­te Erfolgs­ge­schich­te. Ich bin durch­wo­ben von einer nicht enden wol­len­den Sehn­sucht nach  Auf­lö­sung in Wohl­ge­fal­len und nichts lie­ber wür­de ich mir erfül­len als die­se Sehn­sucht, aber das hier ist nun mal ein­fach das Leben.

Am zehn­ten Mai fand die Buch­pre­mie­re statt, an einem Mon­tag in Frank­furt. Es war eine die­ser schmuck­lo­sen und wei­test­ge­hend depri­mie­ren­den Strea­ming­pre­mie­ren, bei denen man sich bloß in sehr klei­ner Run­de zur Auf­zeich­nung des Streams trifft und nie­mand der Men­schen anwe­send ist, mit denen man die Ent­ste­hung und Ver­öf­fent­li­chung des Romans fei­ern möch­te. Ich war auf­ge­regt, hat­te Angst vor der Büh­ne. Mei­ne Haa­re stan­den mir zu Ber­ge, wirk­lich und meta­pho­risch gespro­chen. Ich war außer­dem sehr müde und sehr trau­rig. Die Trau­rig­keit lau­er­te dicht unter der Ober­flä­che und es war ziem­lich müh­sam, sie zurück­zu­hal­ten. Es gab Phở, aber ich habe nur zwei Löf­fel hin­un­ter­be­kom­men und mich statt­des­sen mit Cola auf­ge­päp­pelt. Was mei­ne Stand­fes­tig­keit im letz­ten Jahr anbe­langt, ver­dan­ke ich Cola sehr viel. Cola, Eis­kaf­fee, dem Song Infi­ni­ty von Olami­de, der pha­sen­wei­se die ein­zi­ge Musik war, die ich über­haupt noch ertra­gen konn­te und Pro­te­in­rie­gel der Geschmacks­rich­tung Coo­kie Dough.

Den Tag zuvor hat­te ich gemein­sam mit mei­nen Freund*innen den Umzug mei­nes Vaters gemacht, etwas, zu dem er selbst zu die­sem Zeit­punkt nicht in der Lage gewe­sen war. Wir hat­ten sei­ne Sachen in Kis­ten und Säcke gepackt, sei­ne weni­gen Möbel abge­baut und alles in die neue Woh­nung gebracht, die wir ihm orga­ni­siert hat­ten. Wir hol­ten in da raus. Aus die­sem Ort, den er aus eige­ner Kraft nicht zu ver­las­sen in der Lage war, der ihm nicht mehr gut tat und vice ver­sa und der es ihm unmög­lich mach­te, sich selbst gut zu tun. Wenn ich jetzt dar­über schrei­be, mer­ke ich, wie vie­les, was an die­sem Tag pas­siert ist, von mir immer noch nicht auf­ge­schrie­ben wer­den kann. Weil es in einen Schmerz ein­ge­wo­ben ist, der es mir unmög­lich macht, es sprach­lich zu fas­sen zu krie­gen, weil ich es viel­leicht sprach­lich zu fas­sen krie­gen wür­de, aber noch nicht so weit bin, es zu ver­äu­ßern, weil es mei­nen Vater betrifft und ich noch kei­ne gute Balan­ce gefun­den habe, zwi­schen mei­nem dar­über schrei­ben wol­len und sei­nem Recht auf Pri­vat­sphä­re. Wie Emma­nu­el Car­rè­re aus­führt: „Aber wenn man über ande­re schreibt, wech­selt man unter Umstän­den auf die Sei­te der ech­ten Fol­ter, weil der, der schreibt, die abso­lu­te Macht hat, wäh­rend der, über den geschrie­ben wird, des­sen Will­kür aus­ge­lie­fert ist.“[ii]

Was geschrie­ben wer­den kann: Ich woll­te ein­fach nur in die Knie gehen, mir die Augen aus dem Kopf heu­len, vier­zehn Stun­den schla­fen und eine Not­fall­sit­zung bei mei­ner The­ra­peu­tin abhal­ten. Die Ver­letz­lich­keit und Ver­wun­dung eines Eltern­teils in die­ser rohen Form mit­zu­be­kom­men, hat ein Gefühl­s­pot­pour­ri übler Sor­te in mir aus­ge­löst, und mich rück­ge­kop­pelt an das Kind, das ich ein­mal gewe­sen bin und in mir fort­tra­ge, und das den elter­li­chen Schmerz als all­um­fas­send und uner­träg­lich emp­fin­det. Ich hat­te nicht das engs­te, auf­ge­räum­tes­te Ver­hält­nis zu mei­nem Vater, das mach­te die Sache noch schwie­ri­ger. Ande­rer­seits erfor­der­te die Situa­ti­on ohne­hin, unse­re Bezie­hung on the go neu zu den­ken und zu ent­wer­fen. Und das mit mei­ner gan­zen Zurück­hal­tung, mei­ner Zag­haf­tig­keit, mei­nen ängst­li­chen Komplexen.

Ich bin eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für mich selbst. Und wenn mir die Haa­re zu Ber­ge ste­hen, bevor ich eine Büh­ne betre­te, dann auch wegen die­ser Eigen­schaf­ten. Ich war im letz­ten Jahr wirk­lich viel damit beschäf­tigt, mich sehr klein zu füh­len und mich gleich­zei­tig so groß zu machen, wie ich konn­te. Ein Dau­er­spa­gat zwi­schen har­tem Kerl und heu­len­dem Hund. Sich zusam­men­rei­ßen ist ein selt­sa­mes Wort; die Ris­se, die sich in einem auf­ge­tan haben, mit den Fet­zen ihrer Rän­der müh­sam über­de­cken. Auf den Büh­nen und um sie her­um, über­spiel­te ich, was das Zeug hielt. Ein wohl­tu­en­des Ablen­kungs­ma­nö­ver, wenn es mir gelang, mich so in das Über­spie­len hin­ein­fal­len zu las­sen, dass ich mir selbst glaub­te; eine zeh­ren­de Kraft­an­stren­gung, die mich zuse­hends zerschoss.

Wie viel Schmerz kön­nen und dür­fen wir ein­an­der zumu­ten? Wo und wann und wie müs­sen wir ein­an­der Raum für unse­re heu­len­den Hun­de hal­ten? Und wann ist es ange­mes­sen den Schmerz von ande­ren als Zumu­tung zu bewer­ten? Oder als auf­merk­sam­keits­hei­schend? Ist das über­haupt jemals ange­mes­sen? Was wis­sen wir schon über den Schmerz der ande­ren und steht es uns zu über des­sen Insze­nie­rung zu urtei­len? Oder ist es im Gegen­teil eben manch­mal beson­ders ange­bracht, hier ganz prä­zi­se hin­zu­schau­en? Ist es sinn­voll, Schmerz gegen­ein­an­der abzu­wä­gen? Wie kann uns das hel­fen und wie sol­len wir dabei vor­ge­hen? Und zer­schel­len die­se Ska­len nicht spä­tes­tens im eige­nen schmerz­ver­zehr­ten Inne­ren, das sich durch die Erin­ne­rung an den Schmerz der ande­ren auch nicht bes­ser fühlt (und kann einen die­se Per­spek­ti­vie­rung wirk­lich trös­ten?)? Sind wir immer noch viel zu hart zuein­an­der? Wer­ten wir Här­te ins­ge­heim oder ganz offen­sicht­lich immer noch als wah­re Stärke?

Schrei­ben ist das eige­ne Leben betref­fend immer auch ein seis­mo­gra­phi­sches Ver­fah­ren und mich inter­es­sie­ren die­se Inter­fe­ren­zen aus pro­duk­ti­ons­äs­the­ti­scher Sicht sehr. Der kos­mi­sche Witz mei­nes Jah­res: dass ich ein Buch geschrie­ben hat­te, in der eine der Prot­ago­nis­tin­nen andau­ernd damit beschäf­tigt war, die elter­li­chen Pro­ble­me aus­zu­glei­chen und für deren Humor, Trotz und offen­her­zi­ge Power ich in mei­ner Situa­ti­on eini­ges gege­ben hät­te. Gespro­chen habe ich dar­über nicht. Ich sprach über mei­ne Lite­ra­tur als kön­ne man sie ste­ril aus dem Leben schnei­den. Ich fass­te mei­ne eige­nen Tex­te nur mit spit­zen Fin­gern an. Viel­leicht fehl­te mir noch die Distanz zu den Vor­komm­nis­sen. Viel­leicht hielt mich die Befürch­tung zurück, Rezipient*innen könn­ten begin­nen, den Text aus­schließ­lich auto­bio­gra­phisch zu lesen und ich selbst, indem ich die­se Sehn­sucht nach einer auto­bio­gra­phi­schen Auf­lö­sung bedie­ne, zu die­ser unter­kom­ple­xen Les­art bei­tra­gen. Viel­leicht ist es ein Merk­mal die­ser Art von Ver­an­stal­tun­gen, dass man nicht für sich, son­dern für das Publi­kum spricht. Viel­leicht per­form­te ich auch ein­fach wie der Feig­ling, der ich bin.

Es gibt die­se Sät­ze von Sen­th­uran Varat­ha­ra­jah: […] „frag­te ich mich, ob die Din­ge viel­leicht anders lie­gen, anders, als wir anzu­neh­men, und viel­leicht auch zu glau­ben bereit sind: dass nicht unser Unbe­wuss­tes, wie Lacan mit Ver­weis auf Lévi-Strauss sagt, wie eine Spra­che struk­tu­riert sei, son­dern, ob nicht viel­leicht unse­re Spra­che unser Unbe­wuss­tes ist. Was ist, wenn unse­re Spra­che das trägt, was wir nicht ertra­gen kön­nen? Was ist, wenn sie das sagt, was wir nicht sagen dür­fen?“[iii] Ich hat­te geschrie­ben, um den Ver­stri­ckun­gen des Spre­chens zu ent­kom­men, nur um dann wie­der, so scheint es mir, mit der glei­chen Zurück­hal­tung, der glei­chen Angst, den glei­chen Täu­schungs­ma­nö­vern über das Geschrie­be­ne zu spre­chen, die ich dar­in zumin­dest teil­wei­se über­wun­den glaub­te. Ich weiß nicht, ob es mir je mög­lich sein wird, einen Modus des Spre­chens zu fin­den, der sich traut, Unsi­cher­hei­ten, offe­ne Fra­ge­stel­lun­gen, Brü­che, inne­re Anlie­gen, Zwei­fel usw. offen­zu­le­gen und zur Dis­kus­si­on zu stel­len. Viel­leicht eines Tages, wenn ich mich von all die­sen Bil­dern lösen kann, die ich davon habe, wie über Lite­ra­tur zu spre­chen sei, und ich end­lich nicht mehr klug oder cool wir­ken will.

Ich bin alles ande­re als cool[iv]. Ich bin ein emo­tio­na­les Ner­ven­bün­del, ein anfäl­li­ges Sen­si­bel­chen mit einem Kör­per, der was Gefüh­le angeht, ein Ver­rä­ter­schwein ist. Mein gesam­tes Ner­ven­sys­tem über­ak­zen­tu­iert mei­ne Emo­tio­nen. Ich bekom­me Magen­be­schwer­den, mir klap­pern die Zäh­ne, ich begin­ne zu zit­tern und zu schwit­zen, mei­ne Haut ist von roten Fle­cken über­sät und mei­ne Atmung wird flach und kurz. Es fühlt sich dann schnell so an, als gäbe es kei­nen Win­kel mehr in mei­nem Kör­per, der mir Halt und Ruhe bie­tet, und gleich­zei­tig bin ich doch zu mehr in der Lage, als mich die­se psy­cho­so­ma­ti­sche Sym­pto­ma­tik glau­ben las­sen will. Ich kann ein har­ter Kerl sein und damit mei­ne ich, dass ich den Mut auf­brin­gen kann, trotz­dem zu agieren.

Es kann pro­duk­tiv sein, die Gren­zen der eige­nen Ängs­te zu über­schrei­ten, genau­so wie es destruk­tiv sein kann. An die­sem Mon­tag mei­ner Buch­pre­mie­re hät­te es mir sicher auch gut­ge­tan, alles abzu­sa­gen und im Bett lie­gen zu blei­ben, oder aber es wäre mir dann noch schlech­ter gegan­gen, weil ich etwas ver­passt hät­te, was mir trotz aller digi­ta­ler Tris­tesse wich­tig war. Abge­se­hen davon, war es auch schlicht mein Job, mit dem ich mein Geld ver­die­nen muss­te. Nach der Pre­mie­re war ich noch zu einem Video­in­ter­view ver­ab­re­det, wir fuh­ren durch Frank­furt, aßen Pom­mes, ich saß in einer holz­ver­tä­fel­ten Zim­mer­ecke, schau­te auf einen Pfen­nig­baum und sprach über das Schrei­ben. Wenn ich mir das Video heu­te angu­cke, fin­de ich, dass ich müde aus­se­he, aber auch kon­zen­triert und fröh­lich und irri­tiert und ver­schmitzt. Im Hotel schlief ich aus­ge­spro­chen schlecht. Nach dem Auf­wa­chen erhielt ich einen Anruf, weil mein Vater nicht zu einem ver­ein­bar­ten Arzt­ter­min erschie­nen war, trotz star­ker kör­per­li­cher Beschwer­den. Heu­te, ein Jahr spä­ter, habe ich mehr Erfah­rung und ein ande­res Wis­sen, ich könn­te sol­chen Situa­tio­nen mit mehr Ruhe begeg­nen, aber damals hat­te ich das gan­ze Aus­maß des Zustan­des mei­nes Vaters noch gar nicht begrif­fen, geschwei­ge denn, wie damit umzu­ge­hen war, ich begann gera­de erst zu ver­ste­hen. Ich tele­fo­nier­te her­um, ohne etwas zu errei­chen. Mein Ner­ven­sys­tem schlug wil­de Pur­zel­bäu­me. Ich ver­ließ das Hotel ohne Früh­stück und ging zum Haupt­bahn­hof. Bei Star­bucks bestell­te ich mir einen Iced Cof­fee und in dem Moment, in dem mir die Frau hin­ter dem Tre­sen den durch­sich­ti­gen Becher in die Hand drück­te, konn­ten mei­ne Augen nicht mehr dichthalten.

Was ich den Tag zuvor müh­sam unter einer dünn­häu­ti­gen Schicht zurück­ge­hal­ten hat­te, hau­te mich um. Lee­re Fla­schen in Kom­mo­den, tote Zäh­ne im Regal. Mein Blick durch den Tür­spalt, der wack­li­ge Mann, der mal mein Vater war, auf der Bett­kan­te sit­zend, der Kopf in den Hän­den. Der Lebens­ab­grund, in den ich durch die­sen Tür­spalt hinabblickte.

Der Kaf­fee­cup in der shaky Hand, die Trä­nen ein Eis­wür­fel­klir­ren des Kör­pers, neun Uhr sechs, Gleis neun, schoss ich ein Sel­fie. Man sieht mein Gesicht mit schwar­zer Mas­ke, die Haa­re zu einem hohen Zopf gebun­den, der auf der rech­ten Sei­te des Gesichts hin­un­ter­fällt, die Stirn in zar­te Fal­ten gelegt, die lin­ke Augen­braue ein biss­chen tie­fer als die rech­te, die Pupil­len klein in dunk­len Augen, Trä­nen am unte­ren Wim­pern­kranz. Anders als in dem Video vom Tag zuvor sehe ich nur noch trau­rig und besorgt aus.

Im Zug heul­te ich wei­ter. Ein Mann schau­te über die FAZ in sei­nen Hän­den zu mir. A. rief an: die Schat­ten in sei­ner Lun­ge sei­en Meta­sta­sen. Man will das alles nicht und es gehört zum Mensch­sein dazu. Unse­re all­um­fas­sen­de Ver­letz­lich­keit, das gro­ße Ster­ben, die ewi­ge Frech­heit. Ich jaul­te quer durch das Abteil. Drau­ßen Deutsch­land. Zuhau­se leg­te ich eine kur­ze Pau­se ein, dusch­te, schmink­te mich, bewun­der­te, was Con­cea­ler bewir­ken kann und nahm an einer Online­le­sung teil, las, sprach mit den ande­ren teil­neh­men­den Schrift­stel­le­rin­nen und dem Mode­ra­tor über unse­re Bücher, und ver­folg­te den nicht enden­den wol­len­den Fluss der Kom­men­ta­re im Livechat.

So wie die­se drei Tage, Sonn­tag, Mon­tag, Diens­tag, war mein gan­zes Jahr: ein Her­um­sprin­gen zwi­schen Kon­tex­ten und Milieus und Gefühls­zu­stän­den, ich war aus­ge­laugt und auf­ge­wir­belt, scho­ckiert und stau­nend, auf hun­dert­acht­zig und unter null und Lite­ra­tur war bei all dem mein anstren­gen­der Brot­job und mein wun­der­sa­mes Kraft­brot gleichzeitig.

Wie­so schoss ich, wäh­rend ich heu­lend am Gleis stand, ein Sel­fie? Genau kann ich das heu­te nicht mehr sagen. Ich weiß nicht mehr, was ich dach­te, als ich das Sel­fie auf­ge­nom­men habe. Ich habe eini­ge The­sen, sie lau­ten: Alles ist eine Con­tent­ma­schi­ne, auch die Trau­er. Ablen­kungs­ma­nö­ver und Distan­zie­rungs­ver­such. Selbst­ver­ge­wis­se­rung. Ein Ver­spre­chen, das bes­se­re Tage kom­men wür­den, und ich auf den Schmerz zurück­schau­en könn­te, den ich über­wun­den hat­te. Viel­leicht hat­te ich mir vor­ge­stellt, wie ich in der Zukunft die­sen alten Mythos der gro­ßen Erleich­te­rung erzäh­len wür­de. Man kann sagen, dass das ein wenig pein­lich und ziem­lich naiv ist. Dass ich da wohl rein­ge­fal­len bin auf die­se neo­li­be­ra­le Hel­den­ge­schich­te, die über­all lau­ert, von klas­si­schen Erzäh­lun­gen, über Rea­li­ty-TV-For­ma­te bis hin zu eso­te­risch durch­wirk­ten Influencer*innenmindsets a la „alles was einem wider­fährt hat einen Grund“. Man könn­te auch wohl­wol­len­der und mil­der sein und in die­ser Selbst­er­zäh­lung, die sich dem Glau­ben an ein Hap­py End ver­pflich­tet fühlt, an den linea­ren Fort­schritt, der nicht müde wird, ein glo­rio­ses Mor­gen zu behaup­ten, die nach­voll­zieh­ba­re Sehn­sucht erken­nen, mit dem, was aus einem gewor­den ist, aus­ra­die­ren zu kön­nen, was einem wider­fah­ren war. Das kann etwas Tröst­li­ches haben, kann Hoff­nung schaf­fen und in man­chem Moment ist eben jede Form der Hoff­nung hilf­reich, sei sie noch so sehr von Wachs­tums­mind­sets durch­wo­ben und letzt­end­lich nichts ande­res als eine Illusion.

Denn das ist die­se Erzäh­lung, ein untaug­li­ches Mär­chen, dass durch behaup­te­te Kau­sa­li­tä­ten ver­de­cken soll, dass Schmerz Schmerz bleibt, egal, was folgt, und dass das Leben ein gro­ßes, dre­cki­ges Cha­os ist. Es ist so: Es gibt klei­ne Erleich­te­run­gen, es gibt Lie­be und Freu­de, und es gibt Rück­fäl­le und neue Abgrün­de und ehe man sich ver­sieht, steht man am nächs­ten Gleis und heult sich wie­der die Augen aus dem Kopf.

Das Sel­fie hat sich bis in die Gegen­wart hin­ein­ver­län­gert, statt als ihr Gegen­bild zu die­nen. Mei­ne Gedan­ken sind eine ongo­ing con­s­truc­tion site und es gibt Schmerz­spu­ren, die nicht zu ver­wi­schen sind. Die zer­furch­tes­te und deut­lichs­te unter ihnen ist die Angst vor der Ver­wund­bar­keit der ande­ren. Ich fing sie mir im Som­mer ein. Im Frei­bad, Kyra mit Pom­mes auf der Decke, ich das Tele­fon am Ohr in der War­te­schlei­fe der Kran­ken­kas­se, des Arbeits­am­tes, des Kran­ken­hau­ses. Ich fiel zuse­hen­des in mich zusam­men. Kyra hat­te eine Pom­mes neben mich gehal­ten, sie war grö­ßer als ich, am ande­ren Ende der Lei­tung hat­ten sie mir trotz­dem gesagt: Der Mann, der mal dein Vater war, hat viel­leicht schlim­me Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen, aber damit er von uns die Hil­fe bekommt, um die du bit­test, musst du dich klei­ner machen.

Wohnt denn kein heu­len­der Hund in euch drin?

An die Lei­ne gelegt

Abge­knallt

Ganz ein­fach

Boom boom

tot

Aber seid ihr noch nie in einen Abgrund gefallen?

So etwas kann uns nicht pas­sie­ren, vor uns tun sich kei­ne Abgrün­de auf.

Und wenn doch?

Wer in einen Abgrund fällt, das kön­nen wir mit Gewiss­heit sagen, hat ihn selbst gegraben

 In jeder Not­la­ge begreift man, wel­chen Illu­sio­nen man bis­her auf­ge­ses­sen ist, wel­che Wahr­hei­ten man sich zu igno­rie­ren glück­lich schät­zen durf­te und soll­te man sich doch schon mit ihnen befasst haben, wech­selt man vom Abs­trak­ten ins Kon­kre­te des Betrof­fen­seins und das ist ein him­mel­wei­ter Unter­schied. Mich ver­stör­te die Über­heb­lich­keit man­cher, die ich um Aus­kunft und Hil­fe bat. Die Käl­te, Igno­ranz und Ableh­nung. Sie gaben mir sehr deut­lich zu spü­ren, was sie von mir und mei­nem Vater hiel­ten. Das ist nicht die Schuld die­ser Men­schen allein. Ihr Ver­hal­ten ist ver­an­kert in einem Sys­tem, das Pro­fit über das Men­schen­wohl stellt, dass man­chen Men­schen mehr Wür­de zuge­steht als ande­ren, man­che Leben als schüt­zens­wer­ter betrach­tet und das Armut immer bestraft. Das man­chen erfolg­reich vor­gau­kelt, sie selbst sei­en davor gefeit, in irgend­ei­ne Art mensch­li­che Not­la­ge zu gera­ten, und sie so zu aus­füh­ren­den Lakai­en sei­ner Men­schen­ver­ach­tung macht. Aber nie­mand ist sicher vor dem Schick­sal und das Sys­tem wird nicht zurück­schre­cken, die eige­nen Vertreter*innen zu fres­sen. Die Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen kön­nen uns alle tref­fen; nicht nur als Indi­vi­du­en, auch als Gesell­schaf­ten. „Wenn die Mög­lich­keit besteht, dass die Ereig­nis­se zusam­men­bre­chen, dann ist es eine Mög­lich­keit, mit der wir alle leben. Wir sind ver­traut mit dem Gedan­ken, dass wir als mensch­li­che Wesen von Natur aus ver­letz­lich sind: durch Ver­wun­dun­gen, Krank­hei­ten, das Altern, den Tod – und aller­lei Krän­kun­gen aus unse­rer Umge­bung.  Aber die Ver­letz­lich­keit, mit der wir es hier zu tun haben, ist von einer ande­ren Art. Wir schei­nen sie dadurch zu erwer­ben, dass wir an einer bestimm­ten Lebens­wei­se teil­ha­ben. […] Doch unse­re Lebens­wei­se – wor­in auch immer sie bestehen mag – ist auf vie­le Arten ver­letz­lich. Und uns, als Teil­neh­men­den an jener Lebens­wei­se, wird dadurch eben­falls Ver­letz­lich­keit zuteil.“[v]

Die mat­schi­gen Pom­mes im Mund und den Ohr­wurm irgend­ei­nes ent­stell­ten Klas­si­kers im Ohr, press­te sich ein Ohn­machts­ge­fühl kalt zwi­schen mich und den Som­mer­tag. Es hat sich ein Grau­en in mir ein­ge­nis­tet, das nicht müde wird, mir in plas­ti­schen Hor­ror­sze­na­ri­en aus­zu­ma­len, wie sich vor allen, die ich ger­ne habe, der Boden auf­tun wird. Die­ser bro­ken gaze auf die Welt zeigt mir nur noch die Ver­let­zun­gen auf, die Soll­bruch­stel­len, die Trau­rig­keit, die unlös­bar schei­nen­den Verstrickungen.

Der heu­len­de Hund sagt zu mir: wenn man Arsch ist, ist man noch mehr am Arsch, das sind die Regeln der Struk­tu­ren und Ver­hält­nis­se. Und natür­lich hat er recht. Ich gehe in den Wald und zäh­le die Bäu­me. Ich weiß, ich wer­de nicht genug Holz haben, um alle Abgrün­de abzu­de­cken. Der heu­len­de Hund zählt mir mei­ne Unzu­läng­lich­kei­ten auf: Zu wenig Wis­sen, zu wenig Kon­tak­te, zu unbe­deu­tend, zu wenig Ein­fluss, zu arm, viel zu arm. Das alles auf die­sem ver­wun­de­ten Pla­ne­ten, in die­ser gewalt­vol­len Welt, vor dem Pan­ora­ma unse­rer Unmenschlichkeit.

Kathe­ri­na May schreibt in Über­win­tern: „Jeder durch­lebt irgend­wann mal einen Win­ter. Und bei man­chen kehrt er immer wie­der. Win­ter ist nicht ein­fach nur eine kar­ge Jah­res­zeit. Auch im Leben kann es Pha­sen geben, die sich wie Win­ter anfüh­len. Kar­ge Pha­sen, in denen man sich aus­ge­son­dert, aus­ge­schlos­sen und aus­ge­bremst fühlt, in eine Außen­sei­ter­rol­le gedrängt. Das kann die Fol­ge einer Erkran­kung sein oder eines Lebens­er­eig­nis­ses wie zum Bei­spiel des Ver­lus­tes eines gelieb­ten Men­schen oder der Geburt eines Kin­des; aber auch das einer Demü­ti­gung oder eines Schei­terns. Man kann sich in einem Umbruch befin­den und vor­über­ge­hend zwi­schen zwei Wel­ten schwe­ben. […] Doch ganz gleich, wie sanft oder unsanft der Win­ter sich auf uns legt: in der Regel haben wir nicht dar­um gebe­ten, und er ist mit dem Gefühl von Ein­sam­keit und gro­ßem Schmerz ver­bun­den.“[vi]

Im Herbst begann der Win­ter sei­nen Tri­but zu for­dern. Die Erschöp­fungs­an­zei­chen mehr­ten sich. Der har­te Kerl hat­te sich mit ein­ge­klemm­tem Schwanz in die Untie­fen ver­zo­gen. Der heu­len­de Hund hat­te die Wor­te gefres­sen. In der Ver­äu­ße­rung war mir der Zugang zur Inner­lich­keit ent­glit­ten. Mein Kör­per war taub gewor­den, mein Atem ende­te knapp zwi­schen mei­nen Brüs­ten und die Wor­te hat­ten mich auf­ge­ge­ben. Ich fühl­te mich bis zur Unkennt­lich­keit müde und frag­te mich gleich­zei­tig, womit ich mir die­se Müdig­keit erlau­ben durf­te. Die­ses Gefühl wur­zelt in einer in mich hin­ein­in­dok­tri­nier­ten leis­tungs­ori­en­tier­ten Anspruchs­hal­tung genau­so wie in dem Gedan­ken, es gehe mir doch trotz allem in Rela­ti­on zu ande­ren immer noch sehr gut, was wahr ist, aber die Erschöp­fung auch nicht ver­schwin­den lässt. Hei­ke Geiß­ler schreibt: „Mei­ne Emp­find­lich­keit ist kei­ne Schwach­stel­le. Man kann sich mit einer Anspie­lung dar­auf nicht über mich erhe­ben.“[vii] Immer wie­der stel­le ich fest wie nötig ich die­se Wor­te habe, dass ich sie mir am bes­ten selbst auf­sa­gen soll­te, als Erin­ne­rung, als Bit­te an mich selbst

Ich füh­le mich immer noch, als sei ich grund­le­gend durch­ein­an­der­ge­ra­ten, eine ver­wach­se­ne Ver­si­on des Bil­des. Trotz­dem bin ich das Gefühl nicht los­ge­wor­den, über die­ses Sel­fie schrei­ben zu müs­sen, geschrie­ben haben zu müs­sen. Wie eine Wahn­vor­stel­lung: du musst dich offen­le­gen, du musst die Bil­der gera­de­rü­cken, du musst von die­sem Bild spre­chen so wie man ein magi­sches Ritu­al aus­führt. Es gibt eine Stel­le bei Mar­cus Stein­weg, in der er Beckett zitiert, der über das Schrei­ben sagt: „[…] weil es die ein­zi­ge Mög­lich­keit ist, es auf die­sem Scheiß­pla­ne­ten aus­hal­ten.“[viii] Die­ser Scheiß­pla­net kann wirk­lich am wenigs­tens etwas dafür, aber alles ande­re ist wahr. Und Stein­weg schreibt in Wei­ter­füh­rung zu Beckett: „Schrei­ben ist ein Exis­tenz­akt, des­sen Unab­schließ­bar­keit des Lebens im Modus des Wei­ter­le­bens bezeugt. Immer wie­der die­ses Wei­ter. Nichts legi­ti­miert das Schrei­ben als das Schrei­ben selbst. […] So lan­ge leben heißt, wei­ter­zu­le­ben, sein Leben zu über­le­ben, bedeu­tet Schrei­ben, auf der Fort­set­zung der Schreib­be­we­gung zu behar­ren.“[ix]  Viel­leicht war ich an die­sem Mor­gen in Frank­furt, durch­ge­schüt­telt von mei­ner ver­zwei­fel­ten Trau­rig­keit, auch viel wei­ser, als ich es mir im Nach­hin­ein zuge­ste­hen will. Viel­leicht hat­te ich intui­tiv begrif­fen, dass es mir die Spra­che ver­schla­gen und dass die­ser Zustand lan­ge andau­ern wür­de, und hat­te gleich­zei­tig Ver­trau­en in mei­ne eige­ne Beharr­lich­keit. Und so habe ich mir die­ses Sel­fie hin­ge­wor­fen wie einen Köder. Das Leben über­steigt, das Leben über­schlägt mich und ich stel­le immer noch an mei­nen zehn Fin­gern mei­ne Milch­mäd­chen­rech­nun­gen auf. Ich übe mich in Beharr­lich­keit und hal­te mich an Wun­der – und hier, mit­ten­drin in die­sem gro­ßen, dre­cki­gen Cha­os, unter die­sem pfir­sich­far­be­nen Him­mel, ist das alles, was mir mög­lich ist und doch wirk­lich eine gan­ze Menge.

[i] Adnan, Etel: Nacht. Ham­burg 2016, S.65

[ii] Car­rè­re, Emma­nu­el: Yoga. Ber­lin 2022, S.180

[iii] https://www.praeposition.com/text/vorzeichen/14-senthuran-varatharajah

[iv] Im Wort­sinn von „[stets] die Ruhe bewah­rend, kei­ne Angst habend, nicht ner­vös [wer­dend], sich nicht aus der Fas­sung brin­gen las­send; kühl und läs­sig, gelassen“

[v] Lear, Jona­than: Radi­ka­le Hoff­nung. Ethik im Ange­sicht kul­tu­rel­ler Zer­stö­rung. Ber­lin 2020, S. 26

[vi] May, Kathe­ri­na: Über­win­tern. Wenn das Leben inne­hält. Ber­lin 2021, S.21

[vii] Geiß­ler, Hei­ke: Die Woche. Ber­lin 2022, S.126

[viii] Stein­weg, Mar­cus: Meta­phy­sik der Lee­re. Ber­lin 2020, S.38

[ix] Ebd.

Lisa Kru­sche, *1990, lebt als freie Schrift­stel­le­rin in Braun­schweig. Sie stu­dier­te Kunst­wis­sen­schaf­ten und Lite­ra­ri­sches Schrei­ben. 2021 erschie­nen ihr Debüt­ro­man “Unse­re anar­chis­ti­schen Her­zen” bei S.Fischer und das Kin­der­buch “Das Uni­ver­sum ist ver­dammt groß und super mys­tisch” bei Beltz. Für ihre Arbei­ten erhielt sie ver­schie­de­ne Prei­se und Sti­pen­di­en, dar­un­ter der Edit Radio Essay­preis 2019, der Deutsch­land­funk-Preis bei den 44.Tagen der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur in Kla­gen­furt und das Kra­nich­stei­ner Kin­der­buch­sti­pen­di­um 2022.