Juli Zeh — Schilf

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Ein Nach­den­ken über das Wesen der Gegen­wart kommt natür­lich nicht ohne das Phä­no­men der Zeit aus. Das wis­sen auch die Figu­ren in Juli Zehs neu­em Roman Schilf. So das Phy­si­ker­kind Liam: “Frü­her lag ich oft im Bett und habe ver­sucht, einen Augen­blick zu fan­gen. Ich habe gelau­ert und dann auf ein­mal “jetzt” geflüs­tert, aber der Augen­blick war immer ent­we­der noch nicht da oder schon vor­bei. Heu­te weiß ich natür­lich, dass die Zeit ganz anders ist.”

Sebas­ti­an beschäf­tigt sich mit der Vie­le-Wel­ten-Theo­rie und glaubt dar­an, dass alles Vor­han­de­ne zeit­gleich und damit zeit­los statt­fin­det. Oskar bezeich­net ihn dar­um als “Eso­te­ri­ker” und wirft ihm vor, sich im Leben nicht ent­schei­den zu wol­len. Gemein­sam brach­ten sie ihr Stu­di­um hin­ter sich, zwei eli­tä­re und genia­le Phy­si­ker­freun­de, die sich geben, als sei­en sie einem Roman des 19. Jahr­hun­derts ent­sprun­gen. Eine Bezie­hung hart an der Gren­ze zur Homo­se­xua­li­tät. Doch Sebas­ti­an hei­ra­tet Mai­ke und grün­det eine Familie.

Alle Mög­lich­kei­ten und Wel­ten schrump­fen zu einer grau­sa­men Wahr­heit zusam­men, als Sebas­ti­ans Sohn Liam plötz­lich ent­führt wird: “Der freie Fall beginnt”. Ein Rad­fah­rer wird ermor­det, Rita Sku­ra und Kom­mis­sar Schilf tre­ten auf. Der gut­mü­ti­ge und eigen­ar­ti­ge Kom­mis­sar hält nicht viel von her­kömm­li­chen kri­mi­na­lis­ti­schen Metho­den. Er ver­steht das Leben als einen “Quell­text”, in dem er liest, eine Art “Ursub­stanz von Rea­li­tät”. Schon das Auf­tau­chen eines Vogels ist da von größ­ter Bedeu­tung. Wie ein Leit­mo­tiv durch­zieht die Idee vom Zufall den Roman:

“Neh­men wir an, der Mensch steht vor der Wirk­lich­keit wie ein Spa­zier­gän­ger am Ufer eines ruhi­gen Sees. Die glat­te Ober­flä­che spie­gelt eine ihm bekann­te Welt und ver­birgt die Ereig­nis­se am Grund. Nun schwimmt ein gro­ßer Ast unter die­ser Ober­flä­che, und nur die Spit­zen von zwei ein­zel­nen Zwei­gen tau­chen an ver­schie­de­nen Stel­len aus dem Was­ser. Unser Spa­zier­gän­ger wird das nicht als ein gro­tes­kes Zusam­men­tref­fen emp­fin­den. Er wird zutref­fend davon aus­ge­hen, dass die Zwei­ge unter Was­ser mit­ein­an­der in Ver­bin­dung ste­hen. Ohne es zu mer­ken, hat er begrif­fen, was Zufall ist.”

Juli Zehs Buch liest sich somit wie eine Ver­suchs­an­ord­nung der ver­schie­de­nen Theo­rien, die von den ein­zel­nen Figu­ren ent­wor­fen wer­den, und der Leser wird mit dem aktu­el­len Stand der Phy­sik ver­traut gemacht. Zuletzt ist es dann aber doch die erbar­mungs­lo­se Bana­li­tät der Wirk­lich­keit, die unwi­der­ruf­lich Leben verändert.

Das Ergeb­nis ist ein Kri­mi, der mehr bie­tet als das Gen­re übli­cher­wei­se bereit­hält: es geht nicht dar­um, den Mör­der zu ent­lar­ven, denn die­ser ist bekannt. Viel­mehr sehen wir zwei Män­ner, die anläss­lich eines Mor­des erst erwach­sen wer­den. Es begeg­nen uns vor allem mit dem Kom­mis­sar Schilf und Oskar exzen­tri­sche und außer­ge­wöhn­li­che Figu­ren. Gera­de auf die­se bezog sich der Vor­wurf der Kon­stru­iert­heit und Über­zo­gen­heit von Sei­ten der Kri­tik. Doch ist es eine Qua­li­tät der Lite­ra­tur, den Blick zu wei­ten, bis­wei­len auch Unge­wöhn­li­ches und Eige­nes zu erschaf­fen. Das gelang Juli Zeh und das macht den Roman auch lesenswert.