von Jona Kron und Clara Eisenreich
Es braucht keine wissenschaftliche Expert*innenmeinung, 2022 ist definitiv vorbei. Dabei war das Jahr gleich einem Pendel, das endlich langsamere Kreise zog über etwas, von dem wir uns möglicherweise Normalität versprachen. Letztendlich sollte dieses Pendel jedoch ein ums andere Mal aus den Fugen geraten, konfrontiert mit der erschütternden Härte des Weltgeschehens. Eine besondere Zeit, durch die uns ebenso besondere Werke begleitet haben. Ihnen widmen wir auch dieses Jahr wieder unseren etwas anderen, mehrteiligen Jahresrückblick.
Jona (29) studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und möchte mehr physisch Lesen.
Everything Everywhere All At Once (2022)
2022 war für mich wie sicherlich für viele geprägt von jeder Menge Einflüssen, die stetig um ungeteilte Aufmerksamkeit gebuhlt haben. Als wäre das Studierendenleben nicht schon erfüllend und ausfüllend genug, wurde ich von einem auf den anderen Tag vom Arbeitstier zum Arbeitssuchenden, zum Neuen im Büro, vom Sohn zur Begleit‑, und Pflegeperson und dann obendrein war ich auch noch schauinsblau Redakteur. Sag mir, dass du überfordert bist, ohne mir zu sagen, dass du überfordert bist. Zugegeben, bin ich da vielleicht gegen Ende etwas überdramatisch geworden. War das Jahr privat schon Herausforderung genug, erwies sich außerdem die gesellschaftliche Lage als ausgesprochen erdrückend. Pandemie, Krieg in Europa, teures Gas, steigende Miete, teureres Essen, erhöhte Studierendenwerkbeiträge und nicht zu vergessen Klimaziele, die denen weiterhin egal sein durften, die am meisten zum Klimawandel beisteuern – alles in allem: mehr Kopfschmerzpotenzial als eineinhalb Stunden Social Media Doom Scrollen. Verständlich also, wer im Angesicht dieser Flut einen Schritt zurück tun musste, aus Angst, selbst weggespült zu werden. Es bei diesem kurzen und temporären Sicherheitsabstand zu belassen, dabei nicht in Zynismus und destruktiven Nihilismus zu verfallen, ist eine Kunst. Eine Kunst, mit der sich Everything Everywhere All At Once befasst und gleichzeitig fragt, wie sich trotz Reizüberflutung wieder ein eigener oder gemeinsamer Fokus finden lässt.
Im Zentrum der Handlung steht Evelyn, eine in die USA immigrierte Mutter und Waschsalonbetreiberin, die spät mit ihren Steuern dran ist. Während einer Belehrung im Steuerbüro besucht sie eine Version ihres Mannes aus einem anderen Universum. Dieser eröffnet ihr, dass sie die Version von sich ist, die am wenigsten aus sich gemacht hat. Erschöpft, unglücklich verheiratet und finanziell unsicher hat sie das größte ungenutzte Potenzial unter allen Evelyns. Deswegen soll sie, indem sie durch das Multiversum springt, die Fähigkeiten anderer, erfolgreicherer Evelyns übernehmen. Warum? Weil Evelyns Tochter Joy Jagd auf sie alle macht. Joy hat dieselbe Fähigkeit wie Evelyn, ist allerdings viel zu oft durch die Dimensionen gesprungen. Sie hat zu viele Universen erlebt, sodass sie immer zynischer wurde. Solange, bis sie den Bezug zu den Realitäten, in denen sie existiert, komplett eintauscht gegen absoluten Nihilismus.
Evelyns Abenteuer ist dagegen eine Suche nach Bedeutung in den verschiedenen Leben, die hätten sein können. So muss Evelyn einen Weg finden nicht wie Joy das Konzept vom Leben an sich aus den Augen zu verlieren. Alles in der Hoffnung für ihre Tochter selbst der fehlende Bezugspunkt zu werden. Etwas viel vielleicht auf einmal, aber das ist gerade auch der Punkt. Wer sich mit dem Gedanken an einen weiteren Viele-Welten-Theorie-Film anfreunden kann, wird mit einer besonders mitreißenden Umsetzungen des Konzepts belohnt.
Everything Everywhere All At Once ist ein zweistündiger Trip von einem Film, der so bunt und überdreht wie tief menschlich und emotional geladen ist. Zwar liefert der Film keine direkte Antwort auf die Frage: Was tun, wenn alles zu viel und nichts mehr Sinn zu ergeben scheint? Aber was der Film befähigen kann, ist, den Antrieb zu geben, sich den aktuellen Baustellen des Lebens gezielt und gemeinsam zu stellen.
Clara (23) studiert Vergleichende Literaturwissenschaft, ihr persönliches Jahreshighlight war neben einem Live-Auftritt von Edwin Rosen die Abgabe ihrer Bachelorarbeit
Auch 2022 war wieder ein turbulentes Jahr und ich hoffe sehr, dass wir alle 2023 wieder etwas mehr Ruhe finden werden. Um mich im vergangenen Jahr von den Geschehnissen abzulenken, haben mir der Podcast Auf eine Tüte von Hengameh Yaghoobifarah und der Roman 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel geholfen.
Auf eine Tüte
Hengameh Yaghoobifarah kennen einige vielleicht als Redakteur*in des Missy Magazins, ehemalige*r Taz- Kolumnist*in, Instagram-Icon oder als Autor*in des Romans Ministerium der Träume, der es definitiv auch verdient hätte, hier in diesem Jahresrückblick zu stehen.
Viel zu spät entdeckte ich den Podcast Auf eine Tüte, in dem Gäst*innen sich mit Hengameh Yaghoobifarah auf eine Tüte treffen und dabei unter anderem über ihr emotional baggage oder ihre It-Bag sprechen. Die Gäst*innen reichen dabei von Moderatorin Aminata Belli über Kolumnistin Debora Antmann und Autorin Olga Grjasnowa (die auch bereits Gästin bei hörinsblau war) bis zu Meme-Künstler*in Sodastreamfan, Indie-Künstlerin Ilgen-Nur und Rapperin Nura.
Der Podcast erstreckt sich über zwei Staffeln von April 2020 bis November 2021 und überzeugte mich nicht nur durch die Gäst*innen und die einzigartige Gesprächsführung, sondern vor allem auch durch das perfekt durchdachte Konzept: Bereits über den Inhalt der Tüte, die die Gäst*innen selbst mitbringen sowie den Inhalt ihrer Handtaschen (What’s in your bag?) kann man den Alltag und besondere Leidenschaften der Eingeladenen auf spezielle Art kennenlernen. Über ihre „It-Bags“ erzählen sie, was sie gerade begeistert und sprechen im Kontrast dazu in der Rubrik „emotional baggage“ über ihren emotionalen Ballast, lassen mit der Katze alte Schamgefühle aus dem Sack, sprechen unter „eingetütet“ über persönliche Erfolge und geben mit dem Inhalt einer Schultüte Tipps fürs Leben. Gerade weil der Podcast keine aktuellen Folgen mehr veröffentlicht und die Interviews jeweils nur mit einem*einer Gäst*in geführt werden, eignet er sich bestens zum Binge-Hören am Jahresanfang!
1000 serpentinen angst
1000 serpentinen angst ist im April 2022 erschienen und ist für mich einer der einzigartigsten Romane, die ich nicht nur 2022, sondern jemals gelesen habe. In drei Teilen beschreibt der Roman mit Erzählungen über die Wahl Donald Trumps, Begegnungen in der brandenburgischen Heimat und dem Treffen mit der Mutter der Protagonistin die Lebensrealität einer Schwarzen Frau. Der Roman spielt mit Groß- und Kleinschreibung und gliedert nur durch Absätze verschiedene Themenabschnitte. Die Handlung wird primär durch einen Dialog mit einem unbekannten Gegenüber angetrieben. Der Ursprung dieser Stimme bleibt unbekannt und könnte sowohl eine innere Stimme als auch eine*n Therapeut*in oder die Autorin selbst darstellen. Die gestellten Fragen wie „WO BIST DU JETZT?“, „BIST DU VERLIEBT IN DEINE BEWEGUNGSFREIHEIT“ oder „WÜRDEST DU GERNE VERGESSEN WER DU BIST?“ beantwortet die Protagonistin, stellt Gegenfragen, lässt sie ganz unbeantwortet oder entgeht ihnen geschickt – ebenso wie sie es auch in der Kommunikation mit anderen Charakteren tut. Die Handlung wird dabei primär durch den Perspektivwechsel zwischen Dialog mit der Fremde und Ich-Erzählung aufgebaut, während mehrere Handlungsstränge parallel verlaufen und der*die Leser*in diese selbst chronologisch einordnen muss.
Olivia Wenzel spricht in dieser besonderen Romanform Mikroaggressionen als Form von Rassismus an und beschreibt die Lebenswirklichkeit der mehrfach marginalisierten Schwarzen Protagonistin. Hinterfragt wird in 1000 serpentinen angst ihre gesellschaftliche Position zwischen Ausgrenzen und Ausgegrenzt-Sein. Der Roman ist definitiv nichts für Menschen, die sich gerne in einer Handlung verlieren, lässt aber viel Raum, um über zwischenmenschliche Beziehungen nachzudenken und das besondere Format zu bewundern.