von Jasmin Siebert
“Liebe ist ein Tuwort” proklamiert Arnold Stadler in seinem neusten Roman Komm, gehen wir. Aber können seine Figuren diese Forderung wirklich einlösen?
Die im Folgenden präsentierte Rezension entstand im Rahmen der von
Dr. Evi Zemanek an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angebotenen Übung “Rezensionen schreiben”. Zum Zweck einer kontrastiven Beleuchtung der besprochenen Neuerscheinungen ebenso wie zur Demonstration verschiedener kritischer Betrachtungsweisen sind je zwei von StudentInnen verfasste Rezensionen einander gegenübergestellt.
L(i)eben oder Schreiben?
“Liebe ist ein Tuwort” proklamiert Arnold Stadler in seinem neusten Roman Komm, gehen wir. Aber können seine Figuren diese Forderung wirklich einlösen?
Über die Liebe kann man nicht so richtig nachdenken und deshalb auch nicht so einfach darüber schreiben. Aber Stadler versucht es und entfaltet auf knapp 400 Seiten die Geschichte einer Dreierbeziehung mit Schwangerschaft, die im italienischen Capri beginnt, sich in Freiburg und im Himmelreich — ein kleines Dörfchen im Schwarzwald — fortsetzt und sich schließlich in der “Ortlosigkeit” des großstädtischen Berlins und Miami verliert.
Einfach nur am Strand liegen und braun werden und doch schon so etwas wie eine vorgezogene Hochzeitsreise sollte der Urlaub auf Capri für Rosemarie und Roland werden. Es ist schon der letzte Tag der beiden 23-jährigen, als ein junger Amerikaner sie um einen Schluck Wasser bittet. “So hätte auch eine Liebesgeschichte beginnen können” schreibt Stadler über diesen Augenblick, der das restliche Leben der Protagonisten prägen soll. Das Pärchen lädt den hübschen Jim mit italienischen Vorfahren in ihr Hotel ein und was dann zwischen den dreien passiert, erfährt der Leser nur in Andeutungen.
Doch der Plot wird keineswegs so linear erzählt, wie man an dieser Stelle vermuten könnte. Der Erzählstrang ist von ausgiebigen Rückblicken durchbrochen und so wird der Leser erst einmal über die Vergangenheit der Protagonisten und deren Vorfahren informiert, bis der Erzähler endlich bei dieser besagten ersten Nacht angelangt ist. Es scheint fast so, als wolle sich der Erzähler vor der eigentlichen Geschichte drücken und so sind wir schon auf Seite 155 angelangt, als es erstmals zu sexuellen Handlungen kommt. Doch die Bettszenen, worauf der Leser nach langen Seiten der Vergangenheitsbeschreibung vielleicht heimlich gewartet haben mag, bleiben aus. Dennoch geht es immerzu um “Geilheit” und “schmutzige Gedanken”, womit Stadler vielleicht all diejenigen anspricht, “die am Verkehr teilnehmen” und “in der Rauschzeit” sind, doch das Entscheidende wird in Nebensätzen abgehandelt.
Man könnte den Roman auch “erotogen” nennen, aber doch bleibt manchmal der Eindruck, dass hier Liebe und Triebe irgendwie verwechselt werden. Es ist doch Jims Attraktivität, welche die beinahe-Vermählten anspricht und warum dies gleich in Liebe umgemünzt wird, bleibt teilweise schleierhaft. Und dass die Beziehung von Rosemarie und Roland diesen Dritten, der sogar mit in die gemeinsame Wohnung nach Freiburg zieht, so einfach und unkompliziert in sich mit aufnimmt, erscheint auch vor dem Hintergrund der 1970er Jahre manchmal zu verklärend-unwirklich.
Homosexualität — in Rolands hinterwäldlerischer Familie verdammt — wird vom Erzähler stets positiv dargestellt, wohingegen die Ehe als “offenen Auges [ins] Unglück rennen” bezeichnet wird. So findet die frühe Heirat von Rosemarie und Roland ihre Begründung explizit im Praktischen und latent im Überspielen von Rolands homosexuellen Neigungen. Und dies alles in einem Roman, wo neben dem Bett auch stets eine Bibel liegt und der neue Papst eine wichtige Rolle im Leben der Hauptfiguren spielt.
Auffällig im Roman ist auch die Stimme des Erzählers, hinter der sich der Autor selbst verbirgt. Dieser schaut aus einer zukünftigen Perspektive — das mag unser Heute im Jahr 2007 sein — auf einen Sommer im Jahr 1978 zurück. Für die Erzählung selbst scheint dies keine besondere Bedeutung zu haben und es bleibt die Frage, welchen Zweck Kommentare verfolgen, die davon sprechen, dass es damals im Gegensatz zu heute noch keine Handys gab. Erklärt wird diese Zeitkonstellation allein dadurch, dass Stadler 1978 eben selbst 24 Jahre alt war und der Roman autobiographische Elemente verarbeitet — aber vielleicht hat sich Stadler auch einfach nicht zugetraut, den Roman im Jahr 2007, wo es keine Tabus mehr gibt und über alles geredet wird, anzusiedeln.
Denn über die Liebe schreiben — sei es auch nur in ihrer sexuellen Ausprägung — vermag Stadler nicht und hält sich damit konsequent an seine eingangs genannte Prämisse, die ja impliziert, dass Lieben getan und nicht gesagt oder geschrieben werden muss. Doch gerade der Protagonist Roland droht an der Liebe als Tuwort zu scheitern und bevorzugt die vermeintlich leichtere Variante: “Vielleicht war es einfacher, einen Liebesroman zu schreiben, als zu lieben oder zu leben.” Ob dies Stadler mit seinem etwas “linkshändigen” Roman gelungen ist, mag der Leser, der sich an langen, ausschweifenden Sätzen und zahlreichen Anspielungen nicht stört, selbst herausfinden, denn Raum zur Spekulation bietet dieser Roman genug.