Robert Schneider — Die Offenbarung — (2)

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von Caro­lin Hensler

Lost City Radio — die­se drei Wor­te sind ein Appell. Sie ste­hen für die Auf­ar­bei­tung der Geschich­te eines trau­ma­ti­sier­ten Lan­des, für den Kampf gegen das Ver­drän­gen, das Ver­ges­sen und für den ver­zwei­fel­ten Ver­such einer Bevöl­ke­rung, mit ihrem Leid umzugehen.

Die im Fol­gen­den prä­sen­tier­te Rezen­si­on ent­stand im Rah­men der von Dr. Evi Zema­nek an der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg ange­bo­te­nen Übung “Rezen­sio­nen schrei­ben”. Zum Zweck einer kon­tras­ti­ven Beleuch­tung der bespro­che­nen Neu­erschei­nun­gen eben­so wie zur Demons­tra­ti­on ver­schie­de­ner kri­ti­scher Betrach­tungs­wei­sen sind je zwei von Stu­den­tIn­nen ver­fass­te Rezen­sio­nen ein­an­der gegenübergestellt. .

Die verlorenen Bach-Partitur

Wer ist der größ­te euro­päi­sche Kom­po­nist? Beet­ho­ven? Mozart? Tschai­kow­sky? Wenn es nach Robert Schnei­der geht, ist es Johann Sebas­ti­an Bach — denn was der Autor in sei­nem neu­en Werk “Die Offen­ba­rung” an geball­ter Bewun­de­rung für den Kom­po­nis­ten auf­fährt, ist fast etwas unheim­lich: Schon allein das Lesen der Noten einer ver­ges­se­nen Bach-Par­ti­tur ver­setzt den Prot­ago­nis­ten und ande­re Akteu­re des Buches, die mit dem mys­te­riö­sen Stück in Berüh­rung kom­men, in schwin­del­erre­gen­de Zustän­de der Eupho­rie und Halluzination.

Die Geschich­te beginnt im Naum­burg an der Saa­le der DDR-Zeit, mit dem Rück­blick auf das ver­korks­te Leben des Prot­ago­nis­ten. Die­ser, Sohn eines Bürs­ten­bin­ders, träumt von klein auf von einer grö­ße­ren Rol­le im Leben als der, die ihm letzt­lich zuge­dacht wird. Eine ein­zi­ge Krän­kung sei sein Leben gewe­sen (Schnei­der spricht viel im Kon­junk­tiv); sei­ne ein­zi­ge Lie­be, eine üppig geform­te Schön­heit namens Eva, hei­ra­tet aus­ge­rech­net sei­nen Vater und bekommt oben­drein auch noch ein Kind von ihm. Doch Jakob Kem­per, genannt “der Stüm­per”, lässt sich nicht beir­ren und lässt sich in die hohe Kunst der Kom­po­si­ti­on und des Orgel­spiels ein­wei­hen und ist fort­an ent­schlos­sen, zeit­wei­lig Kom­po­nist, Diri­gent oder Kir­chen­mu­si­ker zu wer­den — sehr zum Miss­fal­len sei­nes Vaters, der ihm, statt ihn zu för­dern, eine Bürs­ten­bin­der­leh­re aufzwingt.

Doch Jakob Kem­per macht sei­nen Weg: Er kom­po­niert, diri­giert und musi­ziert. Ers­te­res nur ein­mal, für sei­ne Eva, die in schal­len­des Geläch­ter aus­bricht beim Anblick der ihr gewid­me­ten Par­ti­tur, Zwei­te­res für wohl­tä­ti­ge Zwe­cke in der Kir­che, was in einem Fias­ko endet, Drit­te­res aus Lie­be zur Musik lang­jäh­rig und mit Erfolg, wenn auch unent­gelt­lich. Mal ist er moti­viert, mal will er alles hin­schmei­ßen. Mal schwärmt er für die Wer­ke berühm­ter Bach­for­scher, mal hält er sie für auf­ge­bla­se­ne Schnö­sel, näm­lich, als sie nach Naum­burg kom­men, um die bau­fäl­li­ge Orgel zu begut­ach­ten. Schließ­lich, an Hei­lig­abend (der gleich­zei­tig sein Geburts­tag ist, auch das ein übler Streich der Natur) ent­deckt er im Orgel­ge­häu­se eine Leder­ta­sche, die eine ver­schol­le­ne Par­ti­tur aus der Feder kei­nes Gerin­ge­rem als Kem­pers gro­ßem Vor­bild Johann Sebas­ti­an Bach ent­hält. Lang ringt Kem­per mit sich, ob er das Werk den Schnö­seln von der Bach­ge­sell­schaft über­ge­ben soll. Er beschließt, es erst selbst zu stu­die­ren und schon bald gehen merk­wür­di­ge Din­ge mit ihm vor.

Eins gleich vor­weg: Wer kei­ne Ahnung von Musik­theo­rie hat, soll­te Die Offen­ba­rung ent­we­der mit einem Musik­le­xi­kon in Griff­wei­te oder gar nicht lesen. Wer sich aller­dings rudi­men­tär mit Begrif­fen wie Kon­tra­punkt, Chro­ma­tik oder Fuge aus­kennt, der wird sich wun­der­bar in den bild­ge­wal­ti­gen Beschrei­bun­gen ver­lie­ren können.

Schnei­der ist in der Tat ein stil­mäch­ti­ger Autor. Wenn er den Klang die­ser ver­lo­re­nen Bach-Par­ti­tur — die übri­gens nie ein Orches­ter ver­tont, son­dern deren Umset­zung ganz allein im Kopf Kem­pers statt­fin­det — beschreibt, dann hört man selbst die Musik, und das ist eine Kunst, die nicht vie­le Schrift­stel­ler beherr­schen. So sprach­lich gewandt Schnei­der auch die Musik beschreibt, so wenig drei­di­men­sio­nal kom­men einem die Figu­ren vor. Kem­per ist eine Mischung aus Grill­par­zers armen Spiel­mann und Tol­ki­ens Gollum, sein Vater ist ein ver­bohr­ter Ego­ma­ne und natio­na­lis­ti­scher Oppor­tu­nist, sei­ne Eva eine arche­ty­pi­sche Frau, allein Lucia aus dem Rei­se­bü­ro erscheint der Wirk­lich­keit entnommen.

Von der Kon­stru­iert­heit der Geschich­te und der Figu­ren abge­se­hen, ist Die Offen­ba­rung aber ein recht packen­des Lese­er­leb­nis. Wenn man nach ein­dring­li­chen Schil­de­run­gen der mys­te­riö­sen kör­per­lo­sen Figur, die Kem­per jedes Mal auf­lau­ert, wenn er in der Par­ti­tur gele­sen hat, das Buch aus der Hand legt, möch­te man am liebs­ten in jedem Schrank nach­schau­en und bei bren­nen­dem Licht einschlafen.