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Zum aktuellen Buch von Ferdinand von Schirach
von Michaela Lübcke
Nur rund ein Jahr nach der Veröffentlichung seines Erzählbandes Nachmittage meldet Ferdinand von Schirach sich im Herbst 2023 mit einem neuen Text zurück. Regen heißt das neue Werk, das sich direkt auf dem Cover selbst als Eine Liebeserklärung identifiziert. Wie vom Autor, einem ehemaligen Strafverteidiger, gewohnt, widmet es sich juristischen Themen und nutzt die Chance, hin und wieder den ein oder anderen Rechtsbegriff zu erklären.
“Mögen Sie Regen?”
Direkt zu Beginn wirft der Text diese augenscheinlich an seine Leser*innen gerichtete Frage auf. Doch bevor man überhaupt Zeit findet, über seine eigene Haltung zum Thema Regen nachzudenken, setzt auch schon der Monolog ein, der den gesamten Text ausmacht. Der namenlose Protagonist sucht in einer Bar Schutz vor dem Regen und berichtet dort einer anonymen, nicht zu Wort kommenden zweiten Person davon, wo er vom Regen erwischt wurde und wie es dazu kam, dass er sich überhaupt an diesem Ort aufhielt: Er ist zwar eigentlich Schriftsteller, hat allerdings seit fast 20 Jahren kein Wort mehr geschrieben und wurde jüngst als Schöffe im Prozess um einen Tötungsdelikt berufen. Diese Aufgabe hatte er zunächst versucht auszuschlagen, sie dann allerdings, um seiner Bürgerpflicht nachzukommen, widerwillig angenommen. Nach dem ersten Verhandlungstag und genau einer dem Angeklagten gestellten Frage sitzt er nun als von der Verteidigung abgelehnter Schöffe in einer Bar und schiebt die Aufgabe vor sich her, eine Erklärung zu seiner Befangenheit in der Sache zu schreiben.
Gedankensprünge und ein zappelnder roter Faden
Dass sich ein roter Faden durch den Text zieht und somit das Interesse der Leser*innen weckt, daran bleibt kein Zweifel. Es geht schließlich um die Befangenheit des namenlosen Schriftstellers in seiner Schöffentätigkeit: Man möchte wissen, was es damit auf sich hat, ob er wirklich befangen ist, und was der Gerichtsprozess mit der Frau zu tun hat, die er einmal auf der Dachterrasse eines Hotels in Athen kennengelernt hat. Der rote Faden ist definitiv da, nur wird er durch die weiten Gedankensprünge des Erzählers in starke Schwingungen versetzt. Faktisch erfährt man nur, dass eine Frau ganz in der Nähe der Bar im Streit von ihrem Mann getötet wurde, dass der Erzähler eine andere Frau zu einer anderen Zeit in Athen kennengelernt hat, und dass er sehr, wirklich sehr gerne abschweift. Der gute Mann hat Einiges erlebt, eine Menge Zitate parat, und viele philosophische Gedanken mitzuteilen.
Anfangs fragt man sich beim Lesen zugegebenermaßen, ob er denn demnächst mal zum Punkt kommt. Und das ist eine berechtigte Frage, wenn man fälschlicherweise erwartet, der Text würde Details zum Kriminalfall präsentieren. Da Regen aber nunmal kein Kriminalroman ist, sondern Eine Liebeserklärung, wartet man darauf vergeblich. Man bekommt einen groben Umriss dessen, was sich zwischen Opfer und Täter zugetragen hat, und der Rest ist unwichtig. Denn um die Frau, der von ihrem Mann ein Messer in den Körper gerammt wurde, geht es letztendlich nicht. Vielmehr geht es um das Leben an sich, um Erfahrungen, Gedanken, Gefühle, Eindrücke, um die Endgültigkeit des Todes und die Erinnerung — und um eine Frau auf einer Athener Dachterrasse, die für den Erzähler die Verkörperung all dessen darstellt.
Zuhören und lautes Nachdenken
Hat man einmal akzeptiert, dass man weder zu der getöteten Frau noch zu der aus dem Athener Hotel mehr erfahren wird, kann man sich auf das einlassen, was Regen meiner Meinung nach ausmacht: Die Gedanken des Erzählers. Denn obwohl er von einem Thema zum nächsten springt, sind es keine unangenehmen oder verwirrenden Sprünge, ganz im Gegenteil. Man wird mitgenommen auf eine Reise durch die Überlegungen eines abgelehnten Schöffen bezüglich seiner Befangenheit, man lernt das Innere dieses namenlosen Schriftstellers kennen und bekommt philosophische Fragen zum eigenen Leben, zum Tod, zur Liebe und zum Begriff “zu Hause” präsentiert. Ein Mann in einer Bar denkt laut nach, und wir hören zu. Wir müssen nicht antworten, keinen Ratschlag geben. Seine Gedanken stehen im Raum, und wir können sie aufgreifen und weiterdenken, oder sie eben liegen lassen. Nichts ist eindeutig, alles ambivalent. Und das ist eine sehr angenehme Eigenschaft des Textes.
Fazit
Regen macht Freude beim Lesen. Ein angenehmer Textfluss führt durch die Gedanken des Protagonisten, während er den Begriff der Befangenheit an sich in Frage stellt und über Leben und Tod philosophiert. Mit seinen gerade einmal 58 Seiten ist der Text schnell gelesen und hat Potenzial, ein weiteres Mal zur Hand genommen zu werden. Um die 108 Seiten der Hardcover-Ausgabe zu füllen, folgt auf den Text ein Interview mit dem Autor, das ursprünglich in gekürzter Fassung in der SZ erschien. Dieser plötzliche Bruch mindert die Wirkung des Textes und reißt die Leser*innen abrupt aus dem Lesefluss des Textes und wirft sie in eine recht starr wirkende Gesprächssituation. Vielleicht tut man gut daran, zwischen dem Lesen des Textes an sich und dem darauffolgenden Interview etwas Zeit verstreichen zu lassen.
Regen — Eine Liebeserklärung ist für 20€ bei Luchterhand erhältlich und wird noch bis April 2024 vom Autor selbst im Rahmen einer Bühnentournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz als Theaterstück inszeniert. Unter anderem kann die Aufführung am 26.11. oder 02.12. in der Isarphilharmonie München besucht werden.