Die Einsamkeit lärmt

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von Heidrun Rietzler

Steh auf, los, steh auf!

Jetzt!

Der Wecker spielt die­sel­be Melo­die bereits zum wie­der­hol­ten Mal. Mor­ning has bro­ken, ein simp­les Acou­stic Cover für einen simp­len Song. Kein Pro­blem, ihn in die Schwär­ze hin­ter den Lidern einzuflechten.

Du öff­nest dein lin­kes Auge einen Spalt. Nach der Dun­kel­heit ist das Son­nen­licht glei­ßend hell.

Dei­ne Keh­le kratzt, du schluckst. Die Zun­ge hebt und senkt sich, kleb­rig löst sie sich vom Gau­men. Was­ser. Doch die Küche kommt dir mei­len­weit ent­fernt vor.

Die Decke liegt schwer auf dei­nen Glie­dern. Läh­mend wie die gan­ze beschis­se­ne Welt, die dich mit ihrer Last nie­der­drückt. Heu­te ist ein wich­ti­ger Tag – der Tag, um tat­säch­lich eine Ände­rung zu errin­gen. Du musst nur auf­ste­hen, dich hin­set­zen und schrei­ben, dann wäre dein Abschluss in greif­ba­rer Nähe. Aber die Decke … schluckt … alle … Energie.

Los, gib dir einen Ruck, steh auf, steh auf, steh auf!

Du wen­dest all dei­ne Kraft auf, um die Arme auf­zu­stel­len und dich nach oben zu drü­cken. Dir wird schwin­de­lig und übel,doch du gibst nicht auf, nicht heu­te. Lang­sam bewegst du dei­ne star­ren Bei­ne. Wie unge­lenk und fremd sie dir sind. Du nimmst sie in die Hand, hebst sie an und setzt sie auf dem Boden ab. Die Bei­ne in die Hand neh­men. Was für ein idio­ti­scher Aus­druck. Die Bei­ne in die Hand neh­men bedeu­tet eben nicht los­zu­ren­nen, in einem Affen­zahn, um sei­ne Frei­heit zu spü­ren und alle Hemm­nis­se hin­ter sich zu las­sen. Die Bei­ne in die Hand neh­men bedeu­tet, sie tat­säch­lich zu umklam­mern, zu heben und in die Posi­ti­on zu brin­gen, die sie eigent­lich von selbst ein­neh­men soll­ten. Tun sie aber nicht, schließ­lich bewegst du dich zu sel­ten, die läh­men­de Star­re dei­ner Gedan­ken scheint sich auf dei­nen gan­zen Kör­per aus­ge­dehnt zu haben.

Du kennst dei­ne Woh­nung in und aus­wen­dig. 12 Schrit­te vom Bett zur Couch. 15 Schrit­te von der Couch zum Küchen­stuhl. 8 Schrit­te vom Küchen­stuhl zur Toi­let­te. Die wich­tigs­ten Ruhe­po­le in dei­nem engen Raum. Aber er gehört dir, dir ganz allein. Er ist dei­ne bedeu­tends­te Errun­gen­schaft auf dei­nem Weg in die Selbst­stän­dig­keit. Du machst dich also auf den Weg.

Eine unheim­li­che Anzie­hungs­kraft geht von der Couch aus. Aber zuerst Was­ser. Dann darfst du dich auf die wei­chen Pols­ter set­zen. Aus­ru­hen. Du blickst auf den gro­ßen Flach­bild­schirm. Auto­ma­tisch schal­test du ihn ein, gehst auf das Strea­ming Por­tal. Nicht, weil du etwas sehen willst. Du willst ein­fach ein Hin­ter­grund­ge­räusch in dei­nem Raum. Etwas, das die dröh­nen­de Ein­sam­keit über­tüncht. Etwas, das dich ver­ges­sen lässt, in wel­chen Umstän­den du hier drin­nen haust. Net­flix. Das ist das Opi­um des Vol­kes, scheiß auf Religion.

Du nippst an dei­nem Glas. Irgend­wel­che Ali­ens wol­len wie­der Mal die Erde aus­lö­schen, haben aber kei­ne Chan­ce gegen unse­re Super­hel­den. Super­hel­den. Das waren Mal Comic­fi­gu­ren mit Super­kräf­ten, heu­te kann das jeder sein: Nach­barn, Kin­der, ein­mal sogar eine Sprach­wis­sen­schaft­le­rin. Allen gemein sind die sinn­lo­sen Dia­lo­ge mit dem Daseins­zweck, nicht eine Action-Sze­ne nach der ande­ren anein­an­der­zu­rei­hen oder wenn doch, um wenigs­tens etwas Humor ein­zu­streu­en, der fla­cher ist als Knock-Knock-Wit­ze. Die Love-Sto­ry darf natür­lich auch nicht feh­len: Einer der unzäh­li­gen Män­ner fängt etwas mit der ein­zi­gen weib­li­chen Haupt­rol­le an, Dra­ma oder Hap­py End, egal, sie ist jeden­falls hin und weg von dem Typen.

Die Son­ne blen­det, das Fens­ter spie­gelt sich auf dem Bild­schirm. Müh­sam kommst du zum Ste­hen. Du könn­test das nut­zen, zum Schreib­tisch gehen und schrei­ben, doch du schließt nur die Vor­hän­ge. Beglei­tet von Maschi­nen­ge­weh­ren und einer ver­zwei­fel­ten Frau, die um ihr ver­lo­re­nes Kind weint, wankst du in das Bade­zim­mer. 1, 2, 3, … Du schal­test das alte Radio ein, das du aus dem Sperr­müll gezo­gen hast, Oldies erschal­len aus dem Gerät. So ist es doch gleich besser.

Dein Han­dy sagt, dass du den hal­ben Tag geschafft hast. Kein Anruf, kei­ne Nach­richt, nichts. Gut. Du gehst in die Küche. Du kennst die Hand­grif­fe. Box an, irgend­ein Pod­cast, Ramen auf­ko­chen. Dro­gen, Deutschrap, das Übli­che. Du spürst wie­der Übel­keit in dir hoch­kom­men. Lie­ber set­zen. Du legst den Kopf auf den Küchen­tisch und war­test, bis dein Essen end­lich auf­ge­quol­len ist und aus den selt­sa­men Plas­tik­nu­deln eine ess­ba­re Pam­pe wird. Mit dem Essen in der Hand schleppst du dich auf die Couch zurück, wo der Super­held irgend­ei­ne geist­lo­se Rede hält. Die Erde braucht uns und so. Dra­ma­ti­sche Musik dar­un­ter­ge­legt und alle sind beein­druckt. Du schal­test die Audio­spur auf Pol­nisch, ein­fach so. Man soll sich schließ­lich wei­ter­bil­den, neue Spra­chen ler­nen. Lei­der hat jetzt kei­ner mehr was zu sagen, weil alle damit beschäf­tigt sind, zu ster­ben oder zu töten. Dir kommt das Essen hoch. Im Bade­zim­mer über­gibst du dich zu Capi­tal Bra, der von der Küche aus gegen Abba ankämpft.

Du zwingst dich zu dei­ner täg­li­chen Gas­si-Run­de in der Außen­welt. Kopf­hö­rer auf, Hör­buch an. Du meis­terst die unzäh­li­gen Trep­pen­stu­fen des Haus­flurs, bis du end­lich drau­ßen ankommst. Du wankst über den Teer, Blick gesenkt. Karl May ver­sucht, den Wil­den Wes­ten in Besitz zu neh­men, wäh­rend du ver­suchst, die letz­te Park­bank zu ergat­tern. Geschafft. Eine Ansamm­lung von Ziga­ret­ten­stum­meln unter dir, teil­wei­se nur halb geraucht, was für eine Ver­schwen­dung. Kin­der zer­ren an den Hosen ihrer Eltern, um Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, ihre hohen, schril­len Stim­men drin­gen trotz dei­nes Abschir­mungs­ver­suchs an dein Ohr.

Im nächs­ten Super­markt holst du dei­ne Beloh­nun­gen. Wein, mehr Ramen. Dei­ne Schät­ze umar­mend, machst du dich auf den Heim­weg, May geht dir end­gül­tig auf die Ner­ven, du bringst ihn zum Schwei­gen. Die Stil­le trifft dich hart, trotz der Lärm­quel­len der Außen­welt. S‑Bahn, zan­ken­de Pas­san­ten, das lang­an­hal­ten­de Hupen eines Auto­fah­rers, der nun wirk­lich kei­ne Lust mehr hat, hin­ter dem lang­sa­men Fahr­rad­fah­rer her­zu­rol­len. Fast geschafft, da ist schon die Haus­tür, du schleppst dich über die letz­ten Meter, bist schließ­lich da.

Der Schlüs­sel zur Haus­tür passt nicht. Oder das Schloss. Schlüs­sel-Schloss-Prin­zip, was auch immer, es funk­tio­niert nicht. Hat es noch nie. Schweiß­per­len flie­ßen zu dei­nen Augen­brau­en, trop­fen von dort aus in die Augen. Es brennt, der Schlüs­sel erscheint nur noch ver­schwom­men. Du schüt­telst den Kopf, um den Schweiß aus den Augen zu bekom­men. Schwin­del. Schweiß, Schlüs­sel, Schloss, Schei­ße. Du fällst, liegst vor dem Ein­gang dei­nes Ziels, so nah.

Du öff­nest dein lin­kes Auge einen Spalt. Ein Schlei­er vor den Augen ver­hin­dert die kla­re Sicht, ver­mut­lich bes­ser so. Geräu­sche drin­gen an dein Ohr. Stim­men, so vie­le Stim­men. Sie sind gekom­men, um dich zu holen. Dein lin­kes Auge ist schon ein Spalt offen. Nein, Fehl­alarm. Es geht alles sei­nen gewohn­ten Gang, über dich hin­weg, um dich her­um. Du kannst förm­lich deren Gedan­ken hören: »Bloß nicht hin­se­hen, ist ver­mut­lich besof­fen oder so.« Du schließt die Augen wie­der, begrüßt die Schwärze.

Dei­ne Schät­ze lie­gen um dich ver­streut, der Schlüs­sel zur Woh­nung liegt fest in dei­ner Hand. Du fischst mit den Füßen nach dei­ner Habe. Alles da, gut, dass du kei­ne Glas­fla­sche genom­men hast. Schwei­gen um dich rum, alles ver­sucht krampf­haft, dich zu igno­rie­ren. Egal. Du gibst die­sen Men­schen Namen, Geschich­ten. Stellst dir vor, wie abge­fuckt ihr Pri­vat­le­ben ist, das sie so ver­zwei­felt ver­su­chen, hin­ter ihrer Klei­dung zu ver­ste­cken. Es gab Zei­ten, da woll­test du Kon­takt zu ihnen, hast dich in ihre Mit­te gesehnt. Dann woll­test du sie anbrül­len, um ihre Auf­merk­sam­keit zu bekom­men. Inzwi­schen las­sen sie dich kalt. Du brauchst sie nicht, sie brau­chen dich nicht. Du hast alles, was du brauchst, all den Zuspruch, den du brauchst. Du wirst unru­hig, du warst zu lang drau­ßen, der Unmit­tel­bar­keit der Welt aus­ge­setzt. Zeit, wie­der zur Ruhe zu kom­men, die gewohn­ten Beschal­lun­gen zu erdul­den, zu sein. Du stellst dir dei­nen Platz auf der Couch vor – ein­ge­dellt und fle­ckig – und nutzt die Sehn­sucht, um wie­der hoch­zu­kom­men und den Kampf mit der Haus­tür auf­zu­neh­men. End­lich schaffst du es.

Das Knar­zen der Holz­trep­pe im Trep­pen­haus hat dich schon immer gestört, am schlimms­ten ist es, wenn es sich mit dem Quiet­schen von Hart­gum­mi­soh­len dar­auf paart. So wie heu­te. Du bekommst Kopf­schmer­zen von dem Gekreische.

Dein Raum umfängt dich, wegen der Vor­hän­ge dun­kel und etwas muf­fig, ein Geräusch­cha­os aus Radio und Fern­se­hen, das dich mehr trös­tet als jede mensch­li­che Begrü­ßung. Sicher­heit, die durch die­sen Kokon aus Dun­kel­heit, Töne und Stim­men ent­steht, die wabert, dich ein­lullt, dich auf­nimmt. Du gehst wie fern­ge­steu­ert auf die Couch, Auto­play sorg­te für irgend­ei­ne neue Serie.

Dir fällt ein, dass heu­te ja etwas war. Ein wich­ti­ger Tag, der Tag. Wel­cher Tag? Du weißt den Wochen­tag nicht, geschwei­ge denn das Datum. Trotz­dem. Es nagt an dir, dass du nichts getan hast, die Abschluss­ar­beit immer noch unbe­ar­bei­tet in den Untie­fen dei­nes PCs ruht. Ein Blick auf die Uhr bestä­tigt dir, dass es ver­mut­lich schon zu spät ist, heu­te zu einem loh­nen­den heu­te wer­den zu las­sen. Genervt, aber auch etwas erleich­tert, nimmst du es hin, trinkst und siehst zu, wie die Welt geret­tet wird.

Heid­run Rietz­ler, gebo­ren 1997, ist begeis­ter­te Viel­le­se­rin. Beson­ders Zwi­schen­räu­me, ‑töne und Unge­reimt­hei­ten fas­zi­nie­ren sie. Ihr Schrei­ben stellt einen Ver­such dar, ein wei­te­res Echo in die­se Grau­zo­nen einzuflechten.