von Herbert Heinzelmann
Versucht man einen Panoramablick auf die globale Comic-Szene, so wird man rasch feststellen, dass er keine Übersicht verschafft. Die kulturelle Globalisierung — primär unter US-amerikanischen Vorzeichen — scheint nicht dort zu funktionieren, wo Comics produziert und konsumiert werden. Erstaunlicherweise erhalten sich da nationale Kulturen und schotten sich vehement gegeneinander ab. Sogar ein scheinbar so evidenter Globalisierungserfolg wie der internationale Siegeszug japanischer Mangas hat tatsächlich etwas mit dem Zustand nationaler Comic-Kulturen zu tun. In Frankreich, das eine kultivierte Comic-Landschaft vorzuweisen hat, ist er weit weniger durchschlagend als in Deutschland, das den Bilderzählungen stets unsicher gegenüberstand. Hierzulande haben Mangas geholfen eine Mangelsituation zu beseitigen und den Comicmarkt für eine weibliche Klientel aufzuschließen, die sich offensichtlich jahrzehntelang thematisch unterversorgt fühlte. Japanische Mädchen-Mangas mit ihrer Tendenz zur Erfüllung weiblich-pubertärer Allmachtsphantasien und romantischer Träumereien stießen in die Lücke und wurden begeistert nachgefragt.
Tatsächlich jedoch ist die Nachfrage von Übersetzungen unkalkulierbar. Zwei Beispiele: Im Hamburger Carlsen Verlag sind soeben die Abschlussbände der hoch spannend erzählten Geheimdienst-Serie XIII von Vance und van Hamme erschienen. In Frankreich hat sie Millionen-Auflagen erzielt, in Deutschland ging sie nur defizitär durchs Ziel. Genauso verhält es sich mit dem grandios postmodernen Medienspiel der Detektiv-Serie Dylan Dog aus Italien. Dort mit höchsten Auflagezahlen verbreitet, hatte der Carlsen Verlag die deutsche Ausgabe wegen Unrentabilität vor Jahren eingestellt. Das kleine Label Schwarzer Klecks führt sie für eine winzige Fangemeinde fort. In Italien ist Dylan Dog Gesprächsstoff in Intellektuellen-Kreisen. In Deutschland scheinen solche Kreise gegenüber grafischer Erzählkultur hermetisch verschlossen zu sein. Man hält sich allenfalls zugute, Donaldist zu sein oder sich über die schwulen Knollennasen von Ralf König zu amüsieren, die nach jahrelangem Gebrauch zu einer gewissen Stereotypie tendieren. Der derzeit wegen seines 100. Todestages im Jahr 2008 überall als Comic-Vater gefeierte Wilhelm Busch hat mit dieser Vaterschaft gerade in Deutschland die Bilderzählung als humoristische Gattung etabliert. Für die Comic-Kultur dieses Landes erweist sich der Zeugungsakt von Busch im Nachhinein womöglich als verhängnisvoll.
Schließlich wurde sogar der erste renommierte Comic-Preis in Deutschland nach den Busch-Figuren Max und Moritz benannt. Seit 1984 werden die Max und Moritz-Preise alle zwei Jahre auf dem Internationalen Comic Salon Erlangen vergeben. Ungefähr seit diesem Zeitpunkt kann man das Wachsen einer nationalen deutschen Comic-Kultur beobachten. Gewiss gab es Vorläufer im durch den Nazi-Hass auf Bildergeschichten wieder einmal verspäteten Comic-Deutschland: Hansrudi Wäscher mit seinen unermüdlichen Serienhelden von Sigurd bis Buffalo Bill, Rolf Kauka mit dem zweidimensionalen Disney-Abklatsch Fix und Foxi, Ausnahmefälle wie Helmut Nickel mit Robinson, Don Pedro und Winnetou oder Manfred Schmidt mit Nick Knatterton. In der DDR gab es Hannes Hegens Mosaik mit den Digedags als Helden und später ihren illegitimen Nachfahren, den Abrafaxen. Doch erst in den 1980er Jahren traten deutsche Comic-Künstler mit dem Anspruch auf, Anschluss zu finden an den Entwicklungsstand der grafischen Erzählkunst in anderen Nationen. Ein früher Vertreter dieses Anspruchs war mit realistischen Abenteuergeschichten Matthias Schultheiß, der auf dem zweiten Erlanger Salon zum besten deutschsprachigen Comic-Künstler gekürt wurde und tatsächlich eine kurze internationale Karriere startete. Schultheiß stand für das, was man damals Erwachsenencomics nannte — eine Wortfindung der 1970er gegen die Abqualifizierung der Comics als Kinderkram.
Die deutschen Max und Moritz-Preisträger der folgenden Jahre schienen die eingesessene Meinung über die deutsche Comic-Kultur allerdings wieder zu bestätigen: Sie sei gut vor allem im komischen Bereich (aber eben nicht ernst zu nehmen). Ausgezeichnet wurden Franziska Becker (1988), Gerhard Seyfried (1990) und Ralf König (1992), alle drei Protagonisten des karikierenden Strichs und satirischer Erzählstrukturen. Das änderte sich 1994. Mit Hendrik Dorgathen als bester deutschsprachiger Künstler gewann diese Kategorie ein Grafiker mit einer Ästhetik, die nicht auf den ersten Blick gefällig war und vielmehr von Graffiti und Pop Art beeinflusst ist. Dorgathen erzählte keine Geschichten, die am Lachnerv kitzelten, sondern mutete vielmehr offene Formen zu.
In dieser Zeit wurde Martin tom Diecks Der unschuldige Passagier heftig diskutiert. Ein labyrinthisch versponnenes Buch, dicht am genialischen Wahnsinn der Melancholie. Guido Sieber fiel auf mit Blättern, die keinesfalls gefallen wollten, eine Ästhetik des Hässlichen praktizierten und mit den Mitteln der Comics auf Comics eindroschen, um Micky Maus als Junkie und Pit und Piccolo als schwul zu denunzieren. Nach dem Zusammenbruch der DDR etablierten sich in Berlin Künstlervereinigungen wie die „PGH Glühende Zukunft” und präsentierten Arbeiten in Comic-Nähe mit ganz eigenwilliger Handschrift, mit neuen Themen, mit unerwarteten Horizonten. Darunter waren Namen wie Atak, Lilian Mousli, Tom, Holger Fickelscherer, OL und Anke Feuchtenberger. Die Namen haben Dauer bekommen in der Szene und die Namensträger sind zu Begriffen geworden in der deutschen Comic-Entwicklung. Es zeigte sich, dass regionale Biotope die besten Klimazonen für eine nunmehr wirklich neue deutsche Comic-Kultur bildeten. Auf dem ersten von nur zwei Hamburger Comic-Salons zeigte sich 1993 ein munter hanseatischer Kiez, der zu vielen Entdeckungen verführte. Und 2002 präsentierte der zehnte Erlanger Salon die Stuttgarter Szene mit dem Befund einer großen Vielfalt von Stilen und Ideen. Das Namenspektrum reichte von Peter Puck über Naomi Fearn zu Martin Frei. Überall wucherte eine Vielfalt von Stilformen und Erzähltechniken: vom Humorismus bei Puck oder Tom über den Realismus bei Frei zu Zitaten exotischer Kultbilder bei Anke Feuchtenberger. Die deutsche Comic-Kultur entfaltete sich als Kaleidoskop. Sie war aber nicht unter einen Nenner zu bringen und zeigte kein charakteristisches Nationalgesicht.
Zur Jahrtausendwende zog Christian Gasser mit einer Ausstellung und deren veritablem Katalog unter dem Titel Mutanten eine Bilanz der jüngsten deutschen Comic-Kultur. Er sprach von der „deutschsprachigen Comic-Avantgarde der 90er Jahre”. Unter dieser Überschrift präsentierte er Martin tom Dieck, Atak, Anna Sommer, M.S. Bastian, Henning Wagenbreth, Markus Huber, Jim Avignon, Anke Feuchtenberger, Hendrik Dorgathen, Christian Huth, Christian Farner, Holger Fickelscherer und Thomas Ott. Nahezu alle diese Künstler waren beeinflusst von dem, was sich international aus dem amerikanischen Underground der 1960er Jahre heraus als Independent-Szene entfaltet hatte. Ihre Arbeiten bezogen sich auf Vorgaben der bildenden Kunst außerhalb der Pop-Art. Denn die Pop-Art, allen voran Roy Lichtenstein, hatte den Mainstream der Comics als Kunstvorlage entdeckt. Die Independent Comics hingegen attackierten den Mainstream durch Rückgriffe auf Expressionismus und Primitivismus. Die Mutanten-Künstler beschworen in ihren Formen das Hässliche, das Schmerzhafte, das Verstörende. Sie erzählten surreale, verletzende und verletzte Geschichten.
Die deutsche Comic-Szene bezog endgültig Exil außerhalb von Entenhausen und auch außerhalb von Supermans Metropolis oder Batmans Gotham City. In den Städten der Superhelden begann man, sich nach früheren Irritationen (Frank Millers Die Rückkehr des dunklen Ritters oder Arkham Asylum von Grant Morrison und Dave McKean) gerade wieder in heilen Traditionen einzurichten. Zwar litten die amerikanischen Mainstream-Verlage Marvel und DC an einbrechendem Leserinteresse, jedoch entdeckten sie nun die Filmindustrie als Rettungsanker. Die neuen digitalen Produktionstechniken erlaubten es erstmals, den Bewegungskanon der Superhelden ohne Effekt und Affekt von Karikaturen auf Kinoleinwände zu übertragen. Außerdem war das (internationale) jugendliche Filmpublikum durch die Popcorn-Ästhetik des Blockbuster-Kinos auf das Vergnügen von purer Action ohne sinnlichen Zusammenhang und intellektuellen Anspruch konditioniert worden. Für diese Art des Kinos bot die Konfrontations-Epik der Superhelden-Geschichten ideales Augenfutter. Wenn es eine Erfolgsstory des Hollywoodfilms im 21. Jahrhundert gibt, dann liegt sie im Ausstoß und in der Nachfrage von Comic-Adaptionen. Im Kontext des globalisierten Mediennexus aus Comics, Kino, TV, Presse, Internet und Merchandising scheint es gelungen zu sein, die Gattung der Superhelden-Comics erstmals auch in Deutschland durchzusetzen. In Comic-Läden und Bahnhofsbuchhandlungen dominieren sie jedenfalls die Verkaufsflächen. Tatsächlich kennen die meisten deutschen Jugendlichen die Superhelden vor allem aus den audiovisuellen Medien, und der unangefochtene Superhero-Marktführer Panini kann seine Alben auf dem deutschen Markt nur halten, weil er international agiert. Die Verkaufszahlen in der Bundesrepublik würden die Auflagen in den meisten Fällen nicht tragen. Insofern wird auch hier das eingangs festgestellte Phänomen bestätigt, dass eine Globalisierung der Comic-Kultur nicht funktioniert.
Dennoch ist inzwischen auch in Deutschland ein Splitting des Marktes in internationalen Mainstream und die Produkte der deutschen Comic-Kultur zu konstatieren. Gassers Wort von der Comic-Avantgarde könnte ein Indikator für das Auseinanderfallen sein, denn Avantgarde ist nie und nirgends marktgängig. Trotzdem ist das Wort fragwürdig, wenn man es als Begriff für Vorhut und Speerspitze versteht. Gab es denn in den 90er Jahren in Deutschland überhaupt etwas anderes als Avantgarde? Gab es die marktförmige Comic-Literatur? Ja, da waren Walter Moers, Ralf König und Tom. Aber hinter deren klassischen Strichen verbargen sich häufig wenigstens ätzende Inhalte. Es gab Anbiederungsversuche beim Massengeschmack wie Unser Schumi von Kim Schmidt, Das Geheimnis der Lindenstraße von Eckart Breitschuh und vielleicht sogar Indigo von Dirk Schulz. Aber ganz ohne Nabelschnüre zum Massenkörper kann kein Medium überleben — und Riesenerfolge wurden auch damit nicht eingefahren. Interessant, dass sich die großen epischen Comics sogar mit solch exzellenten Erzählern wie Andreas Dierßen (Liebe, Tod und andere Grausamkeiten), Reinhard Kleist (Lovecraft), Isabel Kreitz (Die Entdeckung der Currywurst) oder Martin Frei (Gregor Ka) nicht durchsetzen konnten. Die jungen deutschen Comic-Künstler etablierten sich vielmehr mit Strips, Kleinformen und bibliophilen Ausgaben oder im Internet. In diesen Segmenten fanden sie die Basis ihres Schaffens, das fast immer ein Experiment war.
Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen der Aura des Avantgardistischen und der zunehmenden Präsenz der Comic-Strips an Kunst- und Fachhochschulen. Als 1996 mit der Bildergeschichte Businessmen die Abschlussarbeit von Axel Voss an der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste erschien, war das tatsächlich noch ein avantgardistischer Vorgang. Inzwischen rühmen sich manche Hochschulen der Comic-Künstler, die aus ihnen hervorgegangen sind. Zahlreiche Nominierte für die Max und Moritz-Preise der letzten Jahre haben eine Hochschulvergangenheit hinter sich und manchmal ihre Diplomarbeit als Comic gestaltet. Dazu gehören Mawil, Flix, Ulf K. und Jens Harder. Sie stehen für die jüngste Generation der deutschen Comic-Kultur und verfügen mit großer Freiheit über die Möglichkeiten des Mediums: Mawil mit expressivem Gestus, Flix mit Funny-Charakteren voller Alltagssorgen, Ulf K. mit klassisch reduzierter Poesie, Jens Harder mit altmeisterlichen Fähigkeiten. Diese Öffnung in viele Erzählströme einerseits und diese Akzeptanz und Förderung des Mediums im Bereich akademischer Ausbildung zum anderen, sind die auffälligsten Resultate der 24 Jahre deutscher Comic-Geschichte seit 1984.
In diesem Zeitraum hat die Comic-Kultur in Deutschland ein Niveau erreicht, das es ermöglicht, mit internationalen Tendenzen gleichzuziehen. Außerhalb des Mainstreams bewegen sich die Tendenzen hin zur Aufhebung der Dichotomie Literatur und Comic — ein Prozess, wie er sich in dem Begriff der Graphic Novel niederschlägt. Exemplarisches Beispiel dafür ist die amerikanische Autorin und Zeichnerin Alison Bechdel. Ihr autobiografisches Buch Fun Home ist auf Deutsch in keinem Comic-Verlag erschienen, sondern im renommierten Literaturhaus Kiepenheuer & Witsch. Als Übersetzer fungieren zwei prominente Literatur-Journalisten: Sabine Küchler vom Deutschlandfunk und Denis Scheck, Moderator der TV-Sendung Druckfrisch. Fun Home selbst erzählt eine komplexe Geschichte vom lesbischen Coming Out und von der schwierigen Trauerarbeit um den toten Vater. Eine Lektüre voller literarischer Querverweise und in einem grafischen Duktus zwischen Karikatur und Realismus. Eine Lektüre, die nach der Anstrengung des Lesens verlangt, genau wie das Buch Die heilige Krankheit, in welchem der Franzose David B. von der Epilepsie seines Bruders erzählt, die Krankheit als Kulturphänomen beschreibt und Kritik an den haltlosen Versprechungen esoterischer Heilmethoden übt. Mit dieser internationalen Entwicklung können deutsche Graphic Novels wie Die Sache mit Sorge von Isabel Kreitz oder die Johnny Cash-Biografie I See a Darkness von Reinhard Kleist uneingeschränkt mithalten.
Trotzdem wird aus den Deutschen kein Volk von Comic-Lesern werden. Das totale Comic-Verbot unter den Nationalsozialisten (ganz anders war es im faschistischen Italien Mussolinis) zeitigt immer noch verheerende Folgen. Die Deutschen sind, was ihre Bereitschaft zur Comic-Lektüre und ihren Geschmack an der Comic-Lektüre betrifft, eine verwirrte Nation. Viele haben noch immer nicht begriffen, dass man auch im Zustand des Erwachsenseins Bild-Text-Kombinationen dechiffrieren kann, die mehr inspirieren als ehedem Asterix und Donald Duck, und selbstverständlich in der Wahrnehmungsarbeit noch viel mehr fordern. Jene, die Comics für eine künstlerisch-literarische Gattung halten, haben stets auf die nachrückenden Generationen gehofft: auf jene, die mit den Comics von Hansrudi Wäscher und Carl Barks sozialisiert worden sind, dann auf die von Uderzo, Goscinny und Herge Geprägten, jetzt auf die Manga-LeserInnen. Denn auf dem Manga-Sektor konnten die deutschen Comic-Künstler vor allem weiblichen Geschlechts in den letzten Jahren sogar an den Mainstream andocken, insofern Mangas zum Comic-Mainstream gehören. Talente wie Anike Hage oder Christina Plaka vertreten deutsche Comic-Qualität auf dem breiten Markt der Mangas ganz selbstverständlich und setzen dort durchaus nationale Akzente. Doch alle Hoffnung war bislang vergeblich. Erwachsen geworden, meiden die Deutschen die Comic-Lektüre heftiger als ein unanständiges Angebot, mögen auch Goethe-Institute im Ausland mit deutscher Comic-Kultur längst reüssieren. Comic-Künstler und ihre Arbeiten als Botschafter des Landes — darüber sollten all die sogenannten Erwachsenen in Deutschland vielleicht einmal nachdenken.