© Maïscha Souaga
von Natalie Diga, Valeriya Petrova, Franciska Schulze und Sophia Altmayer
Im Rahmen des alljährigen Poetik-Seminars haben Studierende der Germanistik sich in diesem Jahr mit der deutschen Autorin Katharina Mevissen und ihren literarischen Werken auseinandergesetzt. Höhepunkt der Lehrveranstaltung bildete die Lesung von Katharina Mevissen in der Stadtbibliothek Erlangen zum Abschluss des Semesters.
Das Besondere am Poetik-Kolleg ist, dass die Gast-Schriftstellerinnen und Schriftsteller keine Vorlesungen halten, sondern Texte vorschlagen und diese gemeinsam mit den Studierenden diskutieren. Dabei stammen nicht alle Texte aus dem Werk des Gastes: Auch literarische und wissenschaftliche Texte anderer Autorinnen und Autoren werden gemeinsam besprochen.
Zur Aufgabe der Studierenden gehört außerdem ein Interview, das in diesem Jahr Natalie Diga, Valeriya Petrova, Franciska Schulze und Sophia Altmayer mit der Schriftstellerin Katharina Mevissen geführt haben.
Ihre Bücher fühlen sich schön an, weisen eine bestimmte Form, durchdachten Farbeinsatz und interessantes Design auf. Legen Sie auch während Ihres Schreibprozesses Wert auf Materialität? Arbeiten Sie mit Notizzetteln und analog oder digital?
Grundsätzlich bin ich ein sehr analog arbeitender Mensch. Ich mag Material und würde sagen, dass das Material immer darauf Einfluss hat, wie man arbeitet, welche Gedanken einem kommen. Das Analoge hat ja oft den Ruf, dass es sperrig ist. Wenn ich zum Beispiel mit einem Notizblock im Park sitze und nichts im Internet nachschauen kann, verändert das den Gedankengang, weil er an dieser Stelle anders weitergeht, ohne Suchmaschine. Ich gehöre natürlich zu der Generation, die nicht mehr ihre Romane auf der Schreibmaschine schreibt, ich bin das digitale Dok gewöhnt. Ich frage mich manchmal mit leichtem Exotismus, wie die früher wirklich auf der Schreibmaschine arbeiten konnten! Gerade was das Schreiben von längeren Fließtexten angeht. Aber nur weil ich mit einem digitalen Gerät schreibe, bin ich nicht darauf beschränkt: Ich brauche einen großen Tisch, hänge viele Zettel an die Wand, arbeite mit Bildmaterialien. Was ich produziere, findet sich auch physisch im Raum wieder. Mein Schreibprozess braucht einen Mix aus verschiedenen Medien und Materialien, die man gar nicht so einfach voneinander trennen kann.
In Ihrem Buch ‚Mutters Stimmbruch‘ schreiben Sie über eine Frau, die ganz neu beginnt, als ihr Leben schon fast vorbei zu sein scheint. Es geht um inneren Aufbruch und Neuanfang trotz des Älterwerdens. Was macht Ihrer Meinung nach der Prozess des Älterwerdens mit einem Menschen im Hinblick auf die Zukunft?
Das Älterwerden, das Altwerden, das der Figur Mutter in dem Text widerfährt, habe ich als Verwandlungsgeschichte angelegt. Das ist schon ungewöhnlich, weil Älterwerden oft einseitig als Verfallsgeschichte erzählt wird, als ein Weniger werden, Vergehen, ein Ablaufen von Zeit – und das ist bestimmt auch wahr, aber es ist eben nicht alles. Deswegen war es mir wichtig eine Figur zu erzählen, mit der es nicht einfach zu Ende geht, sondern die sich verwandelt. In eine neue Lebenssituation und eine neue körperliche Verfassung hinein – die zwar Aspekte von Vergänglichkeit hat, aber eben auch Veränderung und Erneuerung bedeutet, Erfahrungen, die neu sind, ganz zentral dabei die neue Stimme. Es ging mir darum, die Lebendigkeit einer alten Figur zu erzählen.
Was genau hat Sie dazu veranlasst, über eine Mutterfigur, über die Protagonistin ‚Mutter‘, zu schreiben?
Die große Frage nach den Figuren – da gibt es immer viele Antworten drauf. Ich finde, die langweiligste ist, wenn Autor*innen erzählen: Dann war die Figur irgendwie plötzlich da und dann hat die in mir gearbeitet und ich habe so eine Stimme gehört, wie die Figur spricht, und da wusste ich noch gar nicht so genau, aber ich bin dem dann nachgegangen… (lacht) Ich denke dann immer: Och nee! Trotzdem sagen wir Schriftsteller*innen das ständig.
Was das Publikum gerade bei diesem Buch besonders interessiert: Wie das Verhältnis ist der Figur Mutter zu meiner eigenen Mutter? Diese Frage enttäusche ich immer sehr gerne und antworte darauf, dass Mutter keine biografische, sondern eher eine kollektive Figur ist, die aus vielen Persönlichkeiten und strukturellen Erfahrungen von Mutterschaft oder Rollen alternder Frauen gespeist ist. Mir ist wichtig zu sagen, dass Figuren sich im Schreibprozess zusammensetzen und dass man sie nicht verwechseln sollte mit Menschen, die in unserer nicht-fiktionalen Realität herumrennen. Dass Figuren aus Sprache bestehen, aus Entscheidungen für eine bestimmte Sprache. Und es geht dabei auch um Phänomene und Erfahrungen, die sich mit der Figur erzählen lassen, wie der Stimmbruch oder diese surreale Logik des Zahnausfalls. Es gibt bestimmte Prozesse, die eine Figur durchmacht – und durch diese Erfahrungen nimmt die Figur Gestalt an.
Stimme und Sprache haben einen hohen Stellenwert in Ihrem Buch. Die Protagonistin hat verschiedene Sprachen, wie die Erwachsenenstimme, die Haussprache, die Körpersprache oder die Milchstimme. Man könnte sagen, dass in jeder Sprache eine Art und Weise zu denken und zu handeln liegt. Wie kann man die Sprachen Mutters einzeln definieren oder darf man das überhaupt?
Leser*innen dürfen das. Ich finde, Autor*innen sollten so etwas nicht machen. Sie sollten nicht die Mehrdeutigkeit, die möglichen Bedeutungen, die sie in ihren Texten geschaffen haben, durch Definitionen wieder festlegen, so lektüreschlüsselmäßig. Und ich denke, es wäre schade um den Text und die Leseerfahrungen, die man machen kann. Aber was ich zu den neun Sprachen sagen kann: Mir war wichtig, dass Mutter, die als verschwiegene Figur eingeführt wird, die einen Stimmverlust durchmacht, nicht als sprachlos dargestellt wird. Ich wollte einen Kontrast schaffen: Mutter zieht sich zurück, ihre Stimme schwindet, irgendwie krächzt es. Aber sie ist keine Figur, die die Sprache verloren hat. Mutter hat eine große Sprachmacht, einen gewaltigen Wortschatz im Rücken. Sie hat diese neun Sprachen durch ihr Leben erworben, die sie prägen und in sich trägt. Trotzdem entscheidet sie sich am Anfang, erstmal zu schweigen — trotz ihres Sprachreichtums.
Mutter macht im Verlauf des Buches eine große Entwicklung durch und erlangt am Ende ihre neue Stimme. Sie haben das vorhin als ‚Verwandlungsgeschichte‘ aufgefasst. Warum wird Mutter kein eigener Name gegeben? Warum wird sie trotz ihrer persönlichen Entwicklung weiterhin ‚Mutter‘ genannt?
Ja, das löst häufig Reibung aus, dass Mutter ihren Namen behält, warum kann sie den denn nicht loswerden? Dass Mutter diesen Namen — obwohl sie sich in ihrem Tun und ihrer Entwicklung denkbar weit entfernt hat von dem, was man mit Mutterschaft so verbindet — trotzdem nicht loswird. Auch wenn er für mich fast zu einem Eigennamen geworden ist, der das Mütterliche verloren hat. Am Anfang des Buches heißt es „Mutter hatte viele Namen und keiner davon lautete Mutter“. Das beschreibt eine Verarmung, dass sie auf den einen Namen beschränkt wird. Mit Namen ist es eigentlich wie mit Sprachen – wir haben wahrscheinlich alle mehrere oder sogar viele. Für mein Gefühl wäre das metaphorisch ein bisschen too much gewesen zu sagen: Sie bekommt die neue Stimme und dann auch noch einen neuen Namen. Das war mir irgendwie zu rund. Sie kann nicht das nicht alles abstreifen.
Haben Sie sich während des Entstehungsprozesses Gedanken gemacht, ob man das Buch auch analog mit einer Vaterfigur gestalten hätte können?
Nein! Ich denke nicht, dass das möglich gewesen wäre. Aber der Text lässt immer wieder aufscheinen, wie die biologischen Kategorien von Mutter, von Geschlecht oder von Weiblichkeit verunsichert und geöffnet werden. Sie sollen als Fiktion erscheinen. Das heißt, in Mutters “Mutterschaft” ist auch die Möglichkeit von Vaterschaft, Vaterrollen, männlichen Rollen enthalten. Mutter nimmt sich diese Rollen auch, sie wirken aber ganz anders, weil die Art, wie ihr Körper gelesen wird, nicht zu diesem Verhalten passt, zu den Rollenerwartungen. Auf diese Art sind Vaterschaft und Männlichkeit auch Teil des Buches, aber eben ohne Vaterfigur. Ein alter Vater, der in den Stimmbruch kommt? Das hätte nicht wirklich subversives Potenzial entfaltet. Deswegen musste Mutter Mutter sein.
Das Buch wird mit Illustrationen, den Monotypien von Katharina Greeven begleitet. Gab es einen bestimmte Idee, die Sie da reinbringen wollten? Außerdem würde es uns auch interessieren, wie bei Ihnen die optimale Leserin dieses Buches aussieht? Verweilt man in diesen Illustrationen im Optimalfall?
Also die optimale Leser*in kenne ich nicht! Ich gebe diese Frage gerne zurück – wie seid ihr denn mit den Illustrationen beim Lesen umgegangen? Ich frage mich das tatsächlich, wie die Leser*innen das so machen. Ich halte bei Lesungen manchmal das Buch hoch und sage: “Schauen Sie her, das kann ich nicht vorlesen“. Ich glaube, da gibt es verschiedene Wege, mich würde das interessieren, wenn ihr spontan dazu etwas sagen könnt? Ob ihr das überblättert habt oder wie…?
N: Also bei mir war es so, dass ich das Buch erstmal durchgeblättert habe und mal Textfetzen gelesen, mal Bilder angeschaut habe. Als ich es mir näher durchgelesen habe, Seite für Seite, bin ich auf den Doppelseiten, die so angelegt sind, dass auf einer Seite Text, auf der anderen Bild ist, zwischen den Medien hin- und hergeswitcht. Manchmal muss man aber länger blättern, bis das nächste Bild kommt und liest erstmal nur Text. Also ich glaube, es hängt auch viel vom typografischen Dispositiv — das hatten wir mal im Seminar — ab, also dass das eigene Leseverhalten dadurch vorgesteuert und gelenkt wird, wie Bilder und Text auf einer Seite oder im Buch allgemein angeordnet sind.
F: Ich habe es tatsächlich ein bisschen anders gemacht. Ich habe angefangen das Buch zu lesen und habe dann, während ich auf die Illustration gestoßen bin, mir sie genau angeguckt und dann schon ein bisschen erkannt, warum diese Illustration da jetzt drin ist, was das mit dem geschriebenen Text ungefähr zu tun hat und habe dann eine Parallele auch für mich gezogen, warum das jetzt da drin ist und auch den Sinn dahinter erkannt. Aber ich habe nicht, wie jetzt Natalie zum Beispiel vorher durchgeblättert und mir nur die Illustrationen an sich vorher angeschaut, sondern ich habe die dann auch direkt mit meinem Lesefluss verbunden.
Wie verstehen Sie Ihre Schriftstellerinnenrolle? Verbinden Sie ein bestimmtes Selbstverständnis mit Ihrer Rolle als Autorin? In Ihrem Roman ‚Ich kann dich hören‘ wird beispielsweise kritisiert, dass es für Gehörlose keine Universität gibt. Ist es Ihnen ein Anliegen, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen?
Ja, diese Frage treibt mich um, wie viele Autor*innen: Wie ist das Verhältnis von Gesellschaft und Text, von gesellschaftlicher Veränderung und den Texten, die wir schreiben? Man muss sich ja nur umschauen, wo wir leben, was für politische Verschiebungen im Gange sind und zugleich was für emanzipative Prozesse, die auf vielen gesellschaftlichen Ebenen und auch in den Künsten ausgetragen werden. Diese politischen Fragen sind jeden Tag mit am Schreibtisch und ich denke, es ist immer eine Abwägung: Gehört das in diesen Text? Oder in einen anderen, in welchen Rahmen? Welche Sprache und Aktionsform braucht es wofür? Ja, das Aktivistische kann im Text stattfinden, aber als Autorin kann ich auf viele Arten Position beziehen, nicht nur durch literarisches Schreiben. Natürlich sind meine Texte geprägt von einer Perspektive auf Welt und Gesellschaft und von dem Wunsch, das zu erzählen, was in einer mehrstimmigen und vielfältigen Gesellschaft da ist, aber nicht unbedingt repräsentiert wird in der Literatur. Dennoch gibt es eine Autonomie des literarischen Textes. Diese Dinge lassen sich nicht 1:1 übersetzen. Anders als in Projektkontexten, wie bei der gebärdensprachlichen Literaturinitiative handverlesen, wo klar war: wir organisieren diese Veranstaltungsreihe zu diesem Thema, darum geht es, das wollen wir sichtbarer machen. Oder im Bündnis Verlage gegen Rechts, das sagt, wir treten explizit gegen Rechtextremismus in der Buchbranche ein. Es ist also immer wieder die Frage: an welcher Stelle, mit welchen Mitteln, mit welcher Sprache kann ich eine Aussage treffen?
Ergebnis oder Prozess?
Prozess!
Telefonzelle oder Fax?
Telefonzelle!
Poetryslam oder Lesung?
Lesung!
Danke für das schöne Interview, Katharina Mevissen!
Katharina Mevissen wurde 1991 geboren und hat bereits mit ihrem Debütroman Ich kann dich hören große Aufmerksamkeit erregt. Sie erhielt den Kranichsteiner Literaturförderpreis und 2021 wurde der Roman vom Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel adaptiert. Die studierte Kultur- und Literaturwissenschaftlerin lebt und arbeitet als Autorin in Berlin, wo sie aktuell zu dem Zusammenhang von Mündlichkeit und Literatur an der Freien Universität Berlin forscht. Ihre Werke zeichnen sich durch eine feine Beobachtungsgabe und ein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche aus. Mutters Stimmbruch ist ihr zweiter Roman, mit dem sie sich nicht nur endgültig in der deutschen Literaturszene etabliert hat, sondern der auch ihre Entwicklung als Autorin zeigt, die es versteht, gesellschaftlich relevante Themen in literarisch anspruchsvolle Texte zu verwandeln. In ihrem Roman setzt sich Katharina Mevissen einfühlsam mit den Themen Schweigen, Trauma und familiäre Beziehungen auseinander.
2023 veröffentlichte Katharina Mevissen Mutters Stimmbruch, Verlag Klaus Wagenbach. 22 €