von Carina Aigner
Berühr mich so wie niemand zuvor.
„Ich glaube, ich komme heute nicht mehr mit hoch.“
„Warum?“
Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich in deinen Augen wider, meinen Schmerz überblicktest du jedoch. Den Schmerz, welchen ich seit Monaten mit mir herum trug, den deine sanften Berührungen davonwischten, als wäre er nichts, eine Feder im Wind. Der Himmel färbte sich erst orange, dann rot und danach violett. Ich atmete ihn ein, schmeckte seine Farben und ließ sie auf meiner Zunge schmelzen – verschmelzen, mit dir. Sie verdrängten die Worte, die ich dir gerne sagen wollte. Wie lange wir vor deiner Haustür standen weiß ich nicht. Niemand von uns wagte es, sein Handy herauszuholen, um auf die Uhr zu blicken. Warum, fragst du mich, warum wollte ich nicht mit zu dir hochkommen? Du wolltest wissen, ob es an dir liegt, ob du etwas falsch gemacht hättest, ob etwas nicht stimme? Ich glaube, dass du eigentlich nur wissen wolltest, ob das zwischen uns vorbei ist. Warum konntest du das nicht einfach aussprechen, dachte ich, ohne es anzusprechen.
Berühr mich so wie niemand zuvor.
Wie eine Welle, die ans Ufer prescht.
Wie tausend kleine Feuer unter der Haut.
Sei hemmungslos und ungestüm
Bleib vorsichtig und aufmerksam
Zerbrich mich nicht.
„Gehst du jetzt?“
„Ja, ich denke schon.“
Mein Tagebuch spricht Bände, ich wünschte ich könnte es dich lesen lassen. Könnte ich nur den Mut aufbringen, dir zu sagen, wie ich fühle oder was ich liebe. Ich liebe das Rauschen des Meeres, den Geruch von Lavendel, Mamas Spaghetti, Zitronen, den Frühling, lange Kleider, Zugfahrten, Himbeereis, klassische Literatur, Männer mit Dreitagebärten, Filmfotos, bunte Lichter, Papas Geschichten von seiner Zeit bei der Bundeswehr, Kreuzworträtsel, Städtetrips, Surfen (lernen), laute Musik und dazu wild Tanzen, gemeinsame Kochabende, Leipzig, das kühle Nass auf meiner Haut spüren, Kindersekt, laue Sommerabende – und irgendwie liebe ich auch dich. Doch all diese Dinge weißt du nicht, du hast mich nie danach gefragt. Ich habe sie dir aber auch nicht gesagt. Hättest du sie überhaupt wissen wollen? Ich habe mich nie getraut dich danach zu fragen, weil ich feige war, weil du zu feige warst.
Berühr mich so wie niemand zuvor.
Doch nicht meinen Körper,
sondern mein Herz.
Worte brechen so leicht.
Wie Glas zersplittern sie beim seichtesten Widerstand.
Du wirst bei mir auf Mauern treffen.
Reiß sie nieder und finde mich.
„Soll ich dich noch nach Hause bringen?“
„Ich glaube, das passt schon.“
Als du mich das letzte Mal begleitet hast, haben wir die Nacht zusammen verbracht, bis du dich dazu entschieden hast, doch schon früher zu gehen. Du wärst müde, hast du zu mir gemeint, als du neben mir im Bett lagst. Ich habe dir gesagt, dass du hier schlafen könntest. Du hast verneint, du wärst müde, hast du gemeint. Ich habe deine Berührungen noch Stunden später auf meiner Haut gespürt. Sie prickelte und mein Herz pochte. Du hast sie mit Küssen bedeckt, meinen Hals, meine Beine, meine Stirn. Du sagtest zu mir, kurz bevor wir miteinander schliefen, dass ich doch schon so erfahren sei und meintest eigentlich damit, dass ich mich schnell hergeben würde. Wenn du wüsstest, dass ich meine Erfahrungen an einer Hand messen kann, dass meine Beziehung, die ich führte, bevor ich dich kennenlernte, nach vier Jahren zerbrach, weil mein Partner verstarb. Wenn du nur wüsstest, dass du die erste Person warst, die mir wieder näherkommen durfte. Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich mir gewünscht hätte, dass du bleibst, doch ich hatte Angst, weil du Angst hattest. Good enough to fuck, not good enough to love. Ich mag meine Angst, meine Feigheit nicht. Es gibt viele Dinge, die ich nicht mag. Ich mag nicht: Wenn Autos plötzlich hupen, wenn sich Mama und Papa streiten, Netzstrumpfhosen, Manspreading in der Bahn, etwas vergessen, vergessen werden, Quiche, meine letzte Therapeutin, wahrscheinlich auch den Therapeuten meiner Therapeutin, dunkle Straßen, Bahnhöfe, Paulaner Spezi, wenn ich mich einsam fühle, lustig gemeinte Anrufbeantworter, Fahrstühle, Sudokus, Pseudomelancholie und ich mag nicht, wie dein Verhalten mich verletzt, wie mein Verhalten mich verletzt. Ich mag es auch nicht, wenn du gehst und mich mit den Gedanken, die ich nach deinem Abschied habe, alleine lässt. Doch du kannst nichts dafür, weil du nichts von mir weißt.
Wir umarmen uns und ich frage mich, ob ich dich nicht lieber hätte küssen sollen. Du gehst und ich denke darüber nach, wie es wäre, wenn ich dir gleich wieder schreiben würde, unterlasse es jedoch, weil ich nicht weiß, ob das das möchtest. Du drehst dich noch einmal um, lachst etwas verlegen und wir sehen uns an. Ich träume von Gefühlen in deinen Augen, doch du richtest den Blick nach vorne und verschwindest durch die Haustür.
Berühr mich so wie niemand zuvor.
Proteste zwecklos, wenn deine Lippen meinen Hals berühren.
Buchstaben gehen unter die Haut, werden zu Tinte
und verblassen nie.
„Dann sehen wir uns nächste Woche?“
„Ich weiß nicht, wahrscheinlich ja, vielleicht auch nein.“
Du bist an mir vorbeigegangen und hast so getan, als würdest du mich nicht sehen, offenbar vielleicht weil du dachtest, dass ich dich nicht gesehen habe. Bestimmt warst du dir unsicher darüber, was du mich fragen solltest, wolltest vielleicht auch einfach nicht mit mir sprechen. Wie meine Woche lief, wusstest du ja bereits und dass es mental bei mir gerade schwierig war, ebenfalls. Aber dass es mir nicht so gut ging, deinetwegen, wusstest du nicht. Woher solltest du das auch? Vielleicht wusstest du es auch doch, weil es dich auch belastet. Wie ging es dir die letzten Wochen? Also mit uns, meine ich. Ging dir das alles auch so nah wie mir? Oder ist das alles nur ein Spiel für dich, würde ich dich gerne fragen. Was fühlst du, wenn du mich irgendwo in der Menge erblickst? Wirst du nervös? Don’t hate the Player, hate the Game. Strategiespiele waren noch nie meine Stärke. Ich denke mit dem Herzen.
Berühr mich so wie niemand zuvor.
Zeig mir wie sich fliegen anfühlt,
ohne an den Fall zu denken.
Für einen kurzen Moment wie Ikarus sein.
„Dann komm gut nach Hause, schätze ich.“
„Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“
Das Licht der Straßenlaterne spiegelt sich in deinen Augen und zum ersten Mal erkennst du meinen Schmerz. Der Himmel färbt sich erst violett, dann blau und dann schwarz. Du versuchst, die richtigen Gedanken zu finden, während ich mit meinen Worten ringe. Haben uns all die Kreuzworträtsel nicht geholfen? Das mit dem Worte suchen und finden haben wir eigentlich geübt. Warum konnte keiner von uns das lesen, was zwischen den Zeilen geschrieben stand? Ich hätte meine Brille öfter nutzen sollen und sie nicht als Akt der Rebellion verleugnen. Vielleicht hätte ich dann alles schärfer gesehen. Weißt du noch damals, unser erstes ‚richtiges‘ Date in dieser Bar, die, kurz nachdem wir dort waren, für immer geschlossen wurde? Als wir an dem viel zu kleinen Tisch mit der viel zu großen Zeitung saßen? Wie auf der Getränkekarte ein kleines Herz aufgeklebt war? Oben in der rechten Ecke?
Berühr mich so wie niemand zuvor.
Aber das war alles nur ein Hirngespinst. Mein Kopf war wieder voller wilder Farben und bunter Emotionen. Tatsächlich standen wir uns einfach nur gegenüber. Der Wind zerzauste mir das Haar, während du deine Mütze unsicher zurechtrücktest. Deine grünen Augen richteten ihren Blick erst auf die graue Straße, dann auf den Boden. Du überlegtest kurz, hieltst jedoch inne. Ob du mir etwas sagen wolltest? Danach hast du dich am Hals gekratzt und dir mit der gleichen Hand über den Kopf gestrichen. Das machst du immer, wenn du unsicher bist. Das letzte Mal habe ich diese Reaktion gesehen, als du in meiner Wohnung auf meinem Bett an der Kante saßst. Du hast mich angeblickt, als würde ich in meinen Gedanken über etwas urteilen, für das du dich gerade selbst richtest. Du bist viel zu kritisch zu dir selbst. Die Salzkristalllampe tauchte den Raum in ein warmes Licht. Unsere Schatten tanzten zusammen an der Wand, während zwischen uns die Distanz wuchs. Hätte ich dich in den Arm nehmen sollen? Dir einfach von meiner Unsicherheit erzählen? Ich glaube, dass du auch einfach Angst hattest. Ich weiß nicht warum, du hast es mir nie gesagt, ich habe dich auch nie danach gefragt. Irgendetwas sagt mir, dass ich das Gefühl hatte, dass du mich auf Distanz hältst, während ich dir ungewollt das gleiche Gefühl vermittelt habe. Vielleicht weißt du auch einfach nur nicht, was du willst. Und vielleicht geht es mir ähnlich.
Ein Auto fuhr an uns vorbei. Das Scheinwerferlicht erhellte dein Gesicht für einen kurzen Moment und holte uns in die Realität zurück.
„Dann komm gut nach Hause, schätze ich.“
„Du auch.“
Wir umarmten uns und ich überlegte, ob ich dich nicht hätte küssen sollen, ob ich dir nicht einfach hätte sagen sollen, wie sehr ich das Gefühl liebte, wenn sich unsere Lippen berührten. Ich hätte dir davon hätte erzählen sollen, dass ich das gern öfter machen würde, dass ich dich gerne in meinen Armen halten wollen würde — nur länger und inniger. Ich hätte dir einfach sagen sollen, dass ich dich mag. Vielleicht magst du mich ja auch. Und wenn nicht, wüsste ich es wenigstens. Doch ich entschied mich dazu, zu gehen, ohne dich all diese Dinge zu fragen. Ich ging ohne jemals zu erfahren, was das zwischen uns war.
Bild: Vincent Möckl, Cyanotypie (erstellt beim Blaudruckworkshop 2024 von schauinsblau)
Carina Aigner, geboren 1999 in Altötting, begann 2017 ein Studium des Grundschullehramtes an der Universität Regensburg. Nach ihrem Staatsexamen wechselte sie in einen literaturwissenschaftlichen Bachelor und studiert seit dem Oktober 2024 im Master Perimortale Wissenschaften, ebenfalls in der nördlichsten Stadt Italiens. Im Rahmen der Schreibwerkstatt 2022/2023 konnte sie sich zum ersten Mal kreativ mit dem Schreiben auseinandersetzen — seit der Teilnahme an der Bayerischen Akademie des Schreibens 2023/2024 hat sie erneut Blut geleckt und arbeitet bereits seit mehreren Monaten an ihrem ersten Großprojekt.