Adolescence — Willkommen in der Incelosphere

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© Net­flix

(Heran-)wachsende misogyne Maskulinität in vier Akten

von Nina Gretschmann

Die­se Rezen­si­on ent­hält Spoiler!


Die Ado­les­zenz – der Zeit­raum, in dem Kin­der zu Erwach­se­nen her­an­rei­fen – mar­kiert eine Pha­se im Leben, die mit­un­ter als sehr auf­re­gend beschrie­ben wer­den kann. Der Kör­per ver­än­dert sich, vie­le neue Gefüh­le wer­den zum ers­ten Mal wahr­ge­nom­men – das kann beflü­geln und gleich­zei­tig voll­ends verunsichern.

 Die seit dem 13. März auf Net­flix ver­füg­ba­re bri­ti­sche Serie Ado­le­s­cence wid­met sich auf­wüh­lend und nach­hal­lend jener ers­ten Zäsur, wenn Kin­der „abrupt“ kei­ne Kin­der mehr sind und zeit­gleich noch nicht zu den Erwach­se­nen gehö­ren, son­dern sich in die­ser ado­les­zen­ten Zwi­schen­stu­fe befinden.

 

Wer nun eine tra­gi­ko­mi­sche Coming-of-Age-Geschich­te ver­mu­tet, muss an die­ser Stel­le ent­täuscht wer­den. Die vier­tei­li­ge Serie aus der Feder von Jack Thor­ne und Ste­phen Gra­ham (letz­te­rer ist auch ein­präg­sam in einer der Haupt­rol­len zu sehen) kreist um einen drei­zehn­jäh­ri­gen Jun­gen, der bereits zu Beginn der ers­ten Fol­ge von einem bewaff­ne­ten Poli­zei­ein­satz­team sei­nem Kin­der­zim­mer ent­ris­sen und fest­ge­nom­men wird. Grund hier­für: drin­gen­der Tat­ver­dacht wegen Mordes.

 

Durch den Ein­stieg in medi­as res wer­den die Zuschauer*innen direkt in die Hand­lung hin­ein­ge­so­gen. Inten­si­viert wird die­ser Zug­kraft-Effekt durch die her­aus­ra­gend ein­drucks­vol­le Film­wei­se der Serie. Jede der vier ein­stün­di­gen Epi­so­den wur­de in einem One-Take-/One-Shot-Ver­fah­ren gedreht. Das bedeu­tet, alle Fol­gen wur­den ohne Schnitt und statt­des­sen in Echt­zeit gefilmt. Die­se Tech­nik geht mit einem erhöh­ten Auf­wand für die gesam­te Film­crew sowie für die Dar­stel­len­den ein­her und erfor­dert ein Höchst­maß an Orga­ni­sa­ti­on, Ein­satz und eine exak­te, minu­tiö­se Pla­nung. Vor­ge­se­hen war, jede Fol­ge in maxi­mal 10 Takes zu dre­hen. In der Theo­rie soll­te von Mon­tag bis Frei­tag jeweils mor­gens und nach­mit­tags ein Ver­such gemacht wer­den, sodass man sich nach fünf Dreh­ta­gen für einen geglück­ten Take ent­schei­den könn­te. In der Pra­xis reich­ten 10 Takes nicht immer aus. Man­che Ver­su­che muss­ten abge­bro­chen und neu gestar­tet werden.

 

Das Ver­bre­chen – der Mord an einem drei­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chen, mut­maß­lich began­gen vom gleich­alt­ri­gen Mit­schü­ler Jamie Mil­ler – wird aus vier ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven the­ma­ti­siert. Die ers­te Fol­ge wid­met sich der Fest­nah­me und spielt größ­ten­teils auf der Poli­zei­wa­che an Tag 1 nach dem Mord. Epi­so­de zwei zeigt die Ermitt­lun­gen an der Schu­le zwei Tage nach der Straf­tat. Die drit­te Fol­ge ist als auf­wüh­len­des Kam­mer­spiel, sie­ben Mona­te nach dem Delikt in einem Schu­lungs­heim insze­niert, in wel­chem Jamie bis zur Gerichts­ver­hand­lung unter­ge­bracht ist. Sie wird stark gespielt vom selbst drei­zehn­jäh­ri­gen Owen Coo­per, der den Ange­klag­ten ver­kör­pert, und Erin Doh­erty, wel­che die ihm zuge­teil­te Psy­cho­lo­gin Brio­ny Aris­ton mimt. Die abschlie­ßen­de Epi­so­de nimmt Jamies Fami­lie, sein Eltern­haus, drei­zehn Mona­te nach dem Mord an Katie in den Blick.

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Das Ver­bre­chen hängt wie ein Damo­kles­schwert über jeder Fol­ge und rückt den­noch gleich­zei­tig in den Hin­ter­grund. Der Serie geht es nicht um die prä­zi­se Auf­klä­rung des Tat­her­gangs. Es geht um die wach­sen­de radi­ka­li­sier­te Männ­lich­keit, die durch Social Media und ande­ren Inter­net-Platt­for­men bis in die Kin­der­zim­mer vor­drin­gen kann, ohne dass Eltern oder Behör­den davon etwas mitbekommen.

Die Serie nimmt sich die­ser The­ma­tik an und taucht stel­len­wei­se tief ein in die „Manos­phe­re“ bzw. die „Ince­los­phe­re“. Man­che Zuschau­en­de dürf­ten mit die­sen Begrif­fen bis­her noch nicht in Kon­takt gekom­men sein. „Alpha-Män­ner“ oder „Incels“ gehö­ren eben­falls nicht zum Voka­bu­lar der Mehr­heits­ge­sell­schaft. Popu­lä­re Ver­wen­dung fin­den die Ter­mi­ni vor allem bei einer wach­sen­den Grup­pe an (cis-)Männern, die patri­ar­cha­le Struk­tu­ren (zurück)fordern und sich gegen eine wahr­ge­nom­me­ne männ­li­che Unter­drü­ckung durch Frau­en radikalisieren. 

 

Was steckt hin­ter die­sen Bezeich­nun­gen, die sich in den letz­ten Jah­ren gebil­det haben oder sich von bestimm­ten Grup­pen zu eigen gemacht und umge­deu­tet wurden?

Selbst­er­nann­te Alpha-Män­ner­/­Männ­lich­keitsin­fluen­cer pro­pa­gie­ren in der Manos­phe­re, einem anti­fe­mi­nis­ti­schen Netz­werk, über Social Media, Blogs, Foren, etc., die Rück­kehr zu männ­li­cher Domi­nanz und hege­mo­nia­ler Männ­lich­keit. Der Mann hat stark zu sein, darf kei­ne Gefüh­le zei­gen und steht an der Spit­ze der Gesell­schafts­py­ra­mi­de. Frau­en wer­den als Objek­te, als Besitz, als Unter­ge­ord­ne­te angesehen. 

 

Die Ince­los­phe­re – ein nicht nur anti­fe­mi­nis­ti­sches, son­dern viel­mehr miso­gy­nes Netz­werk, baut auf die­sen pro­pa­gier­ten Wer­ten und Ansich­ten auf, fokus­siert aller­dings den Stand­punkt der Incels. „Incel“ ist eine Selbst­zu­schrei­bung, die mitt­ler­wei­le vor­wie­gend von cis-Män­nern ver­wen­det wird und dient als Abkür­zung für „Invol­un­t­a­ry Celi­ba­te“ (dt. „unfrei­wil­li­ge sexu­el­le Ent­halt­sam­keit“). Die Ince­los­phe­re erzeugt ein unter­stüt­zen­des Gemein­schafts­ge­fühl für die­je­ni­gen Män­ner, die unwil­lent­lich zöli­ba­t­är leben, weil sie für Frau­en nicht attrak­tiv genug sind – eines der Nar­ra­ti­ve, das sich dort eta­bliert hat. Frau­en sind das Fein­din­nen­bild – Hass, Wut, Selbst­be­mit­lei­dung und Radi­ka­li­sie­rung durch­zie­hen die Incelosphere.

 

Männ­lich­keitsin­fluen­cer haben vor allem unter her­an­wach­sen­den Jungs und jun­gen männ­li­chen Erwach­se­nen einen beson­ders hohen Bekannt­heits­grad und neh­men einen nicht zu unter­schät­zen­den Ein­fluss auf jene. In die­sem Text wird bewusst auf eine nament­li­che Erwäh­nung ver­zich­tet. Das gilt nicht nur für die Männ­lich­keitsin­fluen­cer, son­dern auch für die­je­ni­gen Incels, die in der Ince­los­phe­re eine Art „Hel­den­sta­tus“ erlangt haben, indem sie unter Beru­fung auf den Incel-Kult zu Atten­tä­tern wur­den und ande­ren sowie sich selbst das Leben nahmen. 

 

Ado­le­s­cence benennt selbst­re­fe­ren­ti­ell, dass die Opfer, Mäd­chen oder Frau­en, ver­ges­sen wer­den. In Erin­ne­rung bleibt der Täter. In den vier Epi­so­den erfah­ren die Zuschau­en­den nur sehr wenig über das weib­li­che Opfer. Der Fokus liegt auf Jamie und sei­ner Fami­lie. Katie gleicht einer Leerstelle. 

 

Was eben­falls in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist und vie­le nicht wis­sen, ist der Ursprung der Incels. Die Platt­form „Invol­un­t­a­ry Celi­ba­cy“ wur­de 1997 von einer jun­gen Kana­die­rin in ihren Mitt­zwan­zi­gern gegrün­det. Ihr Ziel war es, einen vir­tu­el­len Raum mit Gemein­schafts­cha­rak­ter zu schaf­fen für alle Men­schen, die, wie sie selbst zum dama­li­gen Zeit­punkt, zu den soge­nann­ten Late Bloo­mers (dt. Spätzünder*innen) gehö­ren. Was als Mai­ling­lis­te begann, soll­te einen Aus­tausch sowie Unter­stüt­zung in der Grup­pe ermög­li­chen. Men­schen, die sich von der Mehr­heits­ge­sell­schaft aus­ge­schlos­sen fühl­ten, soll­ten end­lich einer Gemein­schaft angehören. 

Incel, wie die Platt­form auf Anra­ten eines Users spä­ter abge­kürzt wur­de (die Grün­de­rin selbst hat­te zuvor „Invcel“ vor­ge­schla­gen, was aller­dings nicht so leicht aus­zu­spre­chen war), war anfangs ein über­wie­gend har­mo­ni­scher digi­ta­ler Ort für Per­so­nen jeg­li­chen Geschlechts. Ein Pär­chen lern­te sich sogar über Incel ken­nen und hei­ra­te­te in der Fol­ge. Wie sich aus die­sem Ursprungs-„Incel“ ein radi­ka­li­sier­tes, miso­gy­nes Netz­werk ent­wi­ckeln konn­te, kann die Grün­de­rin nicht beant­wor­ten. In einem Inter­view mit der BBC aus dem Jahr 2018 erklärt sie, dass sie sich nach eini­ger Zeit, als sie die ers­te roman­ti­sche Bezie­hung ein­ging, aus der Incel-Gemein­schaft zurück­ge­zo­gen hat­te und nicht mehr ver­folg­te, was dar­aus wur­de. Erst als im Jahr 2014 das ers­te Atten­tat mit Beru­fung auf die Incel-Ideo­lo­gie ver­übt wur­de, setz­te sie sich damit auseinander. 

 

Trägt sie Schuld dar­an? — Die­se Fra­ge stell­te sich die Incel-Grün­de­rin damals. Eben­so fra­gen sich Jamies Eltern in der vier­ten Epi­so­de, wel­chen Anteil sie dar­an haben, dass ihr Sohn eine so grau­en­vol­le Tat began­gen hat. 

Eine ein­deu­ti­ge Ant­wort hier­auf gibt es nicht. Dafür ist die zugrun­de­lie­gen­de Pro­ble­ma­tik zu kom­plex und viel­schich­tig. Die Bri­sanz der The­ma­tik soll­te in jedem Fall nicht ver­kannt wer­den. Ado­le­s­cence macht scho­nungs­los und für die Zuschau­en­den unaus­weich­lich auf eine ernst­zu­neh­men­de Ent­wick­lung aufmerksam.

 

Dies gelingt vor allem auf­grund der prä­zi­se umge­setz­ten Film­tech­nik, des star­ken Dreh­buchs sowie der her­aus­ra­gen­den Leis­tung der Darstellenden. 

Ado­le­s­cence hebt sich deut­lich von gegen­wär­ti­gen Pro­duk­tio­nen ab und setzt neue Maß­stä­be, was die Mög­lich­kei­ten fil­mi­scher Nar­ra­ti­on betrifft. Eine beson­ders emp­feh­lens­wer­te Serie. 5 von 5 One-Takes.

 

Auf Net­flix seit 13. März.

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