Ästhetischer Schluckauf im Transitorischen des Alltags

You are currently viewing Ästhetischer Schluckauf im Transitorischen des Alltags

© Satyr Verlag

Zu Timo Brunkes Gedichtband Mitteleuropapperlapapp. Verse aus dem Zusammenhang

von Vincent Möckl

Was kann die Lyrik, was kann ein Gedicht im Mit­tel­eu­ro­pa der Gegen­wart leis­ten?
Es ist unter Ande­rem die­se so leicht gestell­te und zugleich unmöglich abschlie­ßend zu beant­wor­ten­de Fra­ge, der sich Timo Brun­ke in sei­nem Gedicht­band Mit­tel­eu­ro­pap­per­la­papp. Ver­se aus dem Zusam­men­hang (Satyr 2023) zu wid­men scheint, auch wenn er sich sowohl dem kul­tur­pes­si­mis­ti­schen Unter­ton als auch dem lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Anspruch der Fra­ge gegenüber recht ein­deu­tig ver­wehrt: „‘haupt­sa­che du hältst die sicht.‘/ weil durch­blick wäscht dir schnell mal das gehirn […]“,¹ schreibt Brun­ke in Obdach­lo­sen­mo­no und bringt damit womöglich sei­ne persönliche Ant­wort auf den Punkt. Viel­leicht reicht es aus, die Kunst oder das Gedicht als ein Werk­zeug zu begrei­fen, mit dem es möglich wird, die Sicht zu hal­ten. Eine Art Schluck­auf im tran­si­to­ri­schen Trott, der uns lehrt, wie­der wirk­lich hin­zu­schau­en auf die Lebens­wirk­lich­keit des All­tags und der uns durch das Stol­pern über des­sen unver­hoff­te Poetizität wie­der auf­merk­sam und empfänglich für sei­ne Rele­vanz machen kann.

Bereits die Struk­tur des Ban­des lädt eher zum wahl­los zufälligen Schmökern, denn zum kon­zen­trier­ten Durch­ar­bei­ten mit phi­lo­so­phi­schem Erkennt­niss­in­ter­es­se ein. Die sie­ben Kapi­tel erin­nern mit Titeln wie Kul­tur­rund­schau, Stadt­ku­rier oder Rei­se Maga­zin an eine loka­le Tages­zei­tung und auch inhalt­lich zie­len die Gedich­te im Grun­de auf nicht mehr und nicht weni­ger als das Mensch­li­che, All­zu­mensch­li­che, das einem*r durchschnittliche*n Mitteleuropäer*in jeden Tag begeg­net. Die zei­tungs­ar­ti­ge Auf­ma­chung erweist sich vor dem Hin­ter­grund die­ser Rezeptionsästhetik des All­tags durch­aus als nach­voll­zieh­bar. So scheint es ein Anlie­gen des Buches zu sein, sei­ne eige­nen Rezipient*innen gewis­ser­ma­ßen auch zu akti­ven Leser*innen der Zei­tung des alltäglichen Lebens zu erzie­hen, die ihr tägliches Erle­ben als Mate­ri­al­samm­lung für eine mögliche wei­ter­ge­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit dem kon­tin­gen­ten Ein­zel­nen begrei­fen. Die­ser Cha­rak­ter einer Etüde des Hin­schau­ens erweist sich dabei als Stärke und Schwäche des Ban­des glei­cher­ma­ßen. Zum einen ist die ästhetische Erzie­hung des Men­schen und das Anspor­nen sei­ner intrin­si­schen Moti­va­tio­nen durch das Schärfen sei­ner je indi­vi­du­el­len Wahr­neh­mung an der Poe­sie ein bemer­kens­wer­tes Ziel, zumal es durch die Alltäglichkeit des Inhal­tes so nie­der­schwel­lig wie möglich zu errei­chen ver­sucht wird. Auf der ande­ren Sei­te droht gera­de ein so heh­rer Anspruch an der Grat­wan­de­rung zur Banalität zu schei­tern. Während sich Brun­ke beson­ders in den ers­ten bei­den Kapi­teln als geschick­ter Seiltänzer erweist, läuft bei­spiels­wei­se das Kapi­tel Forum Mobilität dem Kon­zept sei­ner pädagogischen Ästhetik zuwi­der, neh­men hier doch zu ein­fa­che Wahr­hei­ten und ein sehr ange­streng­tes und pla­ka­ti­ves Enga­ge­ment der ein­zel­nen Tex­te den Rezipient*innen gera­de die Möglichkeit des eigenständigen Wahr­neh­mens und Aus­ein­an­der­set­zens mit den ange­schnit­te­nen The­men. Die star­ke Präsenz einer präfigurierten, schlich­ten Moral unter­mi­niert hier das eige­ne Kunstverständnis, das über jenes einer Hil­fe­stel­lung beim Hin­se­hen nicht hin­aus­ge­hen möchte und das Feld einer etwa­igen wei­te­ren Aus­ein­an­der­set­zung und möglichen geis­ti­gen Durch­drin­gung ganz den Lesen­den überlässt. Während also in den Kapi­teln Stadt­ku­rier und Kul­tur­rund­schau recht überzeugend eine Stolpersteinästhetik eta­bliert wird, die an die Lite­ra­tur den Maß­stab der Rele­vanz des täglichen Erle­bens anlegt, kommt etwa der bereits erwähnte Abschnitt Forum Mobilität über den moral­apos­to­li­schen Gruß eines noto­ri­schen Fahr­rad­fah­rers lei­der kaum hinaus.

Auch sprach­lich und for­mal erwei­sen sich Brun­kes Gedich­te als Balan­ce­akt zwi­schen lebens­welt­li­cher Poetizität und dem Abglei­ten ins Alber­ne. Die inten­si­ve Arbeit mit der Spra­che, die Brun­ke zu eben­so poe­ti­schen wie eingängigen Wort­kom­po­si­tio­nen wie „Paprikatomatepeperonibutterbrot“² als Ergeb­nis eines aus dem All­tag gegrif­fe­nen Nach­den­kens über kul­tu­rel­le Anrei­che­rung ver­hilft, lässt sei­ne poe­ti­sche Idio­syn­kra­sie an eini­gen Stel­len auf­blit­zen. Das Aus­stel­len der Materialität von Spra­che bis hin zu dada­is­ti­schen Ele­men­ten bleibt dabei zumeist auf eine Wei­se zugänglich, dass sie die Welt, aus der sie ent­nom­men sind, nicht in den Hin­ter­grund rücken, son­dern im Gegen­teil, zugänglicher, verständlicher, im bes­ten Sin­ne zu aller­erst sicht­bar wer­den las­sen. Dass das Papri­kato­ma­te­pe­pe­ro­ni­but­ter­brot dabei die poe­tisch abs­trak­te Tie­fe etwa der Goethe’schen „Knabenmorgenblütenträume“ ent­behrt, erscheint dabei eher als Prin­zip und Leis­tung Brun­kes denn als Man­gel. Wie aller­dings die Erzie­hung zum Hin­se­hen leicht dem Aus­brei­ten mora­li­scher Gemeinplätze weicht, so befin­det sich auch die sprach­ma­te­ria­le Poe­tik des All­tags in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft der Her­me­tik des Banalen.

Bei­spiel­haft sei hierfür das Gedicht Inter­mez­zo genannt, das nach vier Sei­ten unzusammenhängender Reim­sta­fet­ten sei­nen eige­nen Selbst­zweck pos­tu­liert und sich in Wohl­ge­fal­len – „Falalala./ La. La.“³ – auflöst, was die zunächst ent­fal­te­te und nach­voll­zieh­ba­re Poe­tik kon­ter­kar­riert. Auch die bei­den Tex­te Knie­bel Grübel und Sehn­sucht, die sich mit ihrer Rhyth­mik und Metrik wei­test­ge­hend auf die Melo­dien von dazu ange­ge­be­nen Musikstücken lesen lassen,⁴ blei­ben amüsante Kabinettstückchen, die ange­sichts des ange­deu­te­ten Poten­ti­als Brun­kes lei­der eher enttäuschen, oder viel­mehr nicht so recht zur anfangs geschürten Erwar­tungs­hal­tung pas­sen wol­len. Ele­men­te wie die­se sind sicher­lich vor dem Hin­ter­grund von Brun­kes Wer­de­gang als Brettl­dich­ter im lite­ra­ri­schen Kaba­rett und sei­ner Exper­ti­se sowohl in der Spo­ken-Word-Lyrik als auch bezüglich der Verknüpfung von Musik und Spra­che, zu der er auch pädagogische Handbücher für den Deutsch­un­ter­richt publi­ziert hat, zu lesen und zu ver­ste­hen. Nicht umsonst verfügt der Band zu den Tex­ten über einen Anhang, der über QR-Codes zu von Brun­ke selbst gespro­che­nen Auf­nah­men ausgewählter Tex­te führt. Die ent­spre­chen­den Gedich­te gewin­nen durch den Vor­trag unge­mein und man­cher Reim, der die Lektüre eher behin­dert als berei­chert, wird akus­tisch frag­los gerechtfertigt.

Brun­kes unbe­streit­ba­res Talent als Sprech­dich­ter, das beson­ders im zwei­ten Teil des Buches immer mehr zu Gel­tung drängt, scheint so auf dem Papier bis­wei­len ver­geu­det – ohne Not, ent­wi­ckelt er doch gera­de zu Anfang des Ban­des eine viel­ver­spre­chen­de Poe­tik des ästhetischen Schluck­aufs im Tran­si­to­ri­schen des All­tags. Während die­se bei­den Pole sich kon­zep­tio­nell wohl nur schwer zwi­schen die­sel­ben Buch­de­ckel pres­sen las­sen, nimmt sich jeder für sich doch viel­ver­spre­chend aus.

© Paul Kischkat

Mit­tel­eu­ro­pap­per­la­papp. Ver­se aus dem Zusam­men­hang ist im März 2023 bei Satyr erschie­nen und für 22 Euro erhältlich.

¹ Brun­ke, Timo: Obdach­lo­sen­mo­no, in: ders., Mit­tel­eu­ro­pap­per­la­papp. Ver­se aus dem Zusam­men­hang, Ber­lin 2023, S. 23.

² Brun­ke, Timo: Kul­tu­rel­le Anrei­che­rung, a.a.O., S. 49.

³ Brun­ke, Timo: Inter­mez­zo, a.a.O., S. 180.

Knie­bel Grübel ist les­bar zu Erik Saties Gnos­si­en­ne Nr. 3; Sehn­sucht zur Méditation aus Jules Mas­se­nets Oper Thaïs.