© Jörg Steinmetz
Ein Interview mit der Schriftstellerin Eva Menasse
von Natalie Diga, Dimilne Koubodena und Felix Schels
schauinsblau: Viele Ihrer Texte tragen kurze, prägnante Titel, die ein Element der Irritation aufweisen, so zum Beispiel Ihr Buch Lässliche Todsünden. Auch der Titel Ihres neuesten Romans Dunkelblum löst solch eine Irritation aus. Wie passen die beiden Motive, die dieser Titel vereint – die Blume und die Dunkelheit – zusammen? Und warum stehen sie namensgebend für den Roman und dessen fiktiven Handlungsort?
Eva Menasse: Das überlege ich mir gar nicht so konkret, sondern ich finde ein Wort oder einen Namen wie „Dunkelblum“ und denke: Der ist aber schön, der würde gut passen, weil er einen metaphorischen Rückraum hat. Das Dunkle und die Blumen sprechen jeden sofort an. Das sind einfach Fundstücke, die man arrangiert. Es ist also mehr ein emotionaler Prozess. Für mich hat das Wort „Dunkelblum“ etwas dunkelrot Samtiges wie eine Stoffblume. Dann wählt man das Wort aus, guckt, ob es passt, und wenn man es länger als Titel benutzt hat, lässt man es stehen.
schauinsblau: Zum Inhalt: Im Hintergrund des Romans steht das Massaker von Rechnitz im März ‘45, an das Sie die Handlung Ihres Romans anlehnen. Dieses ist im kulturellen Gedächtnis Österreichs relativ gut verankert. Im Jahr 2008 wurde beispielsweise Elfriede Jelineks Theaterstück zu diesem Ereignis uraufgeführt. Wann und aus welchen Gründen haben Sie sich dazu entschieden, dieses Thema literarisch aufarbeiten zu wollen? Warum gerade jetzt?
Eva Menasse: Ich habe mich eigentlich nicht dazu entschieden; das Thema hat mich gefunden. Wenn ich auf der Suche nach einem neuen Roman oder Thema bin, blättere ich durch Bücher in einem ganz freien Sinn, später kann ich mich dann in eine Recherche richtig verbeißen. So bin ich auf das mir alt bekannte Thema Rechnitz gestoßen, habe aber dann gemerkt, wie wenig ich darüber weiß. Ich wusste nicht, warum dort überhaupt Zwangsarbeiter waren, ich wusste nicht, dass es in dieser Gegend schon vorher traditionell viele Juden gegeben hat. So habe ich begonnen, mich in das ganze Thema erst einmal hineinzulesen. Mit dem Reinlesen ist die Geschichte dann schon parallel entstanden. Es handelt sich um Geschichten, die erzählt werden wollen und die sich einem in den Weg stellen.
schauinsblau: An anderer Stelle haben Sie betont, dass Dunkelblum kein „Rechnitz-Roman” und auch kein historischer Roman sei. Stattdessen bezeichneten Sie Dunkelblum als eine „paradigmatische Menschheitsgeschichte” (Deutschlandfunk-Interview vom 18.08.2021 mit Frank Meyer). Können Sie diesen Gedanken näher erläutern?
Eva Menasse: Gemeint war, dass ein Roman nie nur diese eine Geschichte erzählen will, sondern immer etwas, das darüber hinauswirkt – etwas, das für andere Orte und andere Gruppen auch möglich oder typisch wäre. Das allgemein Menschliche zu transzendieren, dafür schreibt man Romane. Dunkelblum ist daher kein Roman für Rechnitz: Ein Rechnitz-Roman würde ja nur die Rechnitzer interessieren. Dunkelblum ist außerdem kein Rechnitz-Roman, weil ich sehr viel recherchiert habe und andere Ereignisse aus der ganzen Gegend im österreichischen Burgendland eingeflossen sind in das fiktive Dunkelblum. Es handelt sich hierbei um Teile der Geschichte, Details, Fakten, gruppendynamische Prozesse, die in Wirklichkeit nicht in Rechnitz, sondern in einem der anderen, vielen anderen, Orte in der Umgebung stattgefunden haben, wo leider sehr viele Massaker zu dieser Zeit vorgekommen sind.
schauinsblau: Ist Dunkelblum ein historischer Roman und wenn ja, warum?
Eva Menasse: Dafür müssen wir definieren, was ein historischer Roman ist: Ein historischer Roman versucht, in die Zeit und in die Begebenheiten einer bestimmten historischen Epoche einzudringen und sie sozusagen „aus sich heraus zu erklären“, die Verhaltensweisen der Menschen aus der Logik der Zeit heraus zu beschreiben. Das ist, glaube ich, wirklich ein Versuch, den ich zumindest angestellt habe mit Dunkelblum. Ob er gelungen ist, weiß ich nicht. So gesehen würde ich immer sagen, dass Dunkelblum ein historischer Roman ist – also auch ein historischer Roman.
schauinsblau: „Auch ein historischer Roman“, sagen Sie. Es gibt sehr viele fiktive Elemente neben den historischen Fakten. Können Sie etwas näher beschreiben, wie dieser Prozess abgelaufen ist? Wie würden Sie den Zusammenhang von Fiktionalität und Faktualität für Ihren Roman beschreiben?
Eva Menasse: Es gibt zum Beispiel ein paar Stellen mit Nazi-Sprache. In dem Fernseh-Interview, das der Ferbenz ganz am Schluss gibt, handelt es sich um akkurate Sätze. So etwas würde ich nie erfinden. Sie stammen aus Interviews mit eminenten Nazis, die nach dem Krieg gemacht worden sind. In diesem Fall ist es sogar ein Interview, das das historische Vorbild der Figur Ferbenz, also der „echte Ferbenz“, im Fernsehen gegeben hat. Ich würde keine Szenen ausfabulieren wollen, die in KZs oder in vergleichbaren Situationen spielen. Deshalb kommt das Massengrab und das Massaker selbst immer nur sehr am Rande, sehr vermittelt vor. Die kreative Freiheit besteht in dem Roman eigentlich darin, dass ich all diese historischen Fakten in einen von mir erfundenen Rahmen gestellt habe. Dieser Rahmen heißt: Dunkelblum. Der Rahmen besteht aus persönlichen Zusammenhängen: Ich habe hier den echten „Ferbenz-Nazi“ genommen, der einen anderen Namen hatte, von dort den echten „Horka-Nazi“, und von da einen Arzt, der einen Ort betreut seit 1933, also von Anfang an bis zum Massaker dabei war. Ich „stopfe“ sie alle in das von mir erfundene fiktive Dunkelblum hinein, aber die Sachen an sich stimmen. Um noch ein anderes Beispiel zu geben: Es gibt relativ am Anfang eine Szene mit dem Wehr in der Donau, auf das die Juden getrieben und dort einfach stehen gelassen wurden, im Wasser, die ganze Nacht. Das ist eine historisch akkurate Geschichte, die damals in allen internationalen Zeitungen stand und die Sie relativ leicht im Internet nachlesen können. Dieses Ereignis ist also dokumentiert: Man hat soundsoviele Juden aus dieser Gegend auf Lastwagen hinauf in den Norden in das Drei-Länder-Dreieck zwischen Österreich, Slowakei und Ungarn getrieben. Dort hat man sie auf diese Buhnen getrieben, die den Flusslauf der Donau regulieren und die es bis heute gibt. Darauf bin ich bei meinen Recherchen immer wieder gestoßen und habe mich immer wieder gefragt: Warum haben die Nazis das gemacht? Was war der Grund dafür? Das ist mir unbegreiflich. Was soll das? Wem will man da etwas zeigen? Was ist das? Ich habe es bis zuletzt nicht auflösen können, weil es keine vergleichbare Szene in der Geschichte gibt, jedenfalls habe ich keine gefunden. Ich bin, denke ich, zu der Erkenntnis gekommen, dass es einfach reine angewandte Grausamkeit ist, also Sadismus. Ich habe diese Geschichte in den Roman aufgenommen, indem ich sie [die Geschichte] den Antal Grün dem Sterkowitz erzählen lasse und ihn [den Antal Grün] dann sagen lasse: Warum? Warum hat man das gemacht? Und es bleibt so stehen. Ich habe mein eigenes Nicht-Begreifen dieser Tat in den Roman eingeschrieben, aber die Szene selbst ist akkurat. Das „Dort-Rein-Basteln“ in einen erfundenen Antal Grün ist meine kreative Leistung in einer gewissen Weise.
schauinsblau: Versuchen Sie durch dieses Verfahren die Leerstellen aufzufüllen, die die Historiographie nicht füllen kann?
Eva Menasse: Naja, alles Schreiben ist subjektives Sortieren. Wenn Sie Historiker sind, lernen Sie das im ersten Semester. Sie nehmen sich eine Perspektive und schließen viele andere Perspektiven aus. So gibt es eben Zeiten, in denen man über Herrscher und Könige geschrieben hat und Zeiten in den 70er/80er Jahren, in denen man die Gesellschaft von unten betrachten wollte und kollektive soziologische Geschichte geschrieben hat. Meine kreative Leistung ist die, diese Geschichten in einer Weise zu verbinden, dass sie für den, der sie liest, erstens fesselnd und interessant sind und zweitens irgendeine Form von Sinn machen, einen Erklärungsversuch abgeben. Aber das weiß ich ja alles beim Schreiben nicht, das ist nur mein Versuch, während ich es tue.
schauinsblau: Vielleicht noch ein paar Fragen zur Form. Hat sich Ihr Schreibstil in den letzten Jahren verändert? Dunkelblum liest sich sehr anders als Quasikristalle zum Beispiel. Wie würden Sie das begründen und wie würden Sie Ihren Schreibstil definieren?
Eva Menasse: Ich glaube, ich bemühe mich, mit fortschreitendem Alter, immer einfacher zu schreiben. Wenn man jung ist, denkt man, man kommt besonders klug rüber, wenn man sehr kompliziert schreibt, Satzkaskaden entwickelt und sehr abgelegene Adjektive benutzt. Wenn man ein Schreibtalent hat, neigt man umso mehr dazu zu zeigen, was man alles Tolles kann. Dieses sprachliche Pirouettendrehen findet sich bei jungen Autoren immer eher als bei älteren. Das wird vielleicht sogar für Pianisten stimmen oder für Schauspieler, ich weiß es nicht. Das ist etwas, woran ich stärker arbeite. Man wird ja auch besser oder man versteht sich selbst besser. Man lernt das eigene Instrument, das man selbst ist, besser kennen. Ich verstehe, dass manchmal nicht alle meine Assoziationen nachvollzogen werden, die ich beim Schreiben habe. Manchmal ist es lustig, wenn ich etwas assoziiere und nicht alle mitkommen. Aber insgesamt achte ich besser darauf, dass es verständlich bleibt. Mein Schreibstil ist ansonsten, glaube ich, immer ein etwas ironischer. Ich habe immer diesen ironischen Blick, aber der macht mir selbst auch am meisten Spaß als Leserin.
schauinsblau: In Dunkelblum herrscht Schweigen. Dass Sie für wörtliche Reden keine Anführungsstriche verwendet haben, erscheint mir wie ein ästhetisches Mittel, um dieses Schweigen noch mehr zu verdeutlichen. Ist das so?
Eva Menasse: Das habe ich schon in früheren Büchern nicht gemacht.
schauinsblau: Ist es dennoch ein ästhetisches Mittel, um beim Leser eine gewisse Haltung herauszufordern oder geschieht ein solcher ästhetischer Eingriff intuitiv?
Eva Menasse: Mir passiert schon manchmal, dass ich Anführungszeichen setze, aber beim Überarbeiten lösche ich sie wieder. Ich möchte, dass das Gesprochene und das Erzählte mehr ineinanderlaufen. Ich finde, dass das mehr zusammengehört und das ästhetische Mittel der Anführungszeichen diese beiden Ebenen auseinanderzieht. Das kann man wollen und schätzen, aber ich schätze es überhaupt nicht. Bei mir selbst geht das manchmal so durcheinander: Ich sage jetzt etwas zu Ihnen, gleichzeitig denkt mein Kopf auch schon wieder etwas anderes. Ich glaube, ich würde da gerne diesen eher organischen Zusammenhang von Erzählen und Sprechen bewahren. Letztlich ist das eine ästhetische Entscheidung.
schauinsblau: In Ihrem Essay „Aus enttäuschter Liebe“ kritisieren Sie die „Mahnmal-Industrie” in Deutschland. Auch wenn diese Praxis des Erinnerns und Ermahnens weit verbreitet ist, erscheint sie Ihnen nicht als die richtig. Inwiefern bricht Dunkelblum mit dieser Mahnmal-Tradition?
Eva Menasse: Mich interessieren die echten Geschichten der echten Menschen mehr. Ich habe immer das Gefühl, sobald man ein Mahnmal hinstellt, ist die Sache erledigt. Ein Mahnmal ist das Ende einer Debatte und nicht der Anfang, außer es wird ästhetisch angefeindet, wie das ja heute oft passiert. Ich bin so geschichtensüchtig. Ich glaube, dass das die meisten Menschen sind. Wenn ich irgendwo etwas sehe, ein Haus oder ähnliches, will ich gleich die Geschichte hören und möchte mir vorstellen, wie es dort früher war. Jede Gedenktafel stoppt eigentlich diesen offenen Prozess. Ich sage nicht, dass es keine Gedenktafeln geben soll, aber ich finde, das hat etwas Starres. Das ist eigentlich alles.
schauinsblau: Also würden Sie einen eher kreativen Umgang mit der Vergangenheit befürworten?
Eva Menasse: Es gibt keine abschließende Antwort darauf. In Rechnitz, also im wirklichen Rechnitz, gibt es ein Mahnmal mit mehreren Erklärtafeln über die Geschichte des Massakers und der ungarischen Zwangsarbeiter, die dort waren. Die letzte Tafel ist leer. Das finde ich eine sehr schöne Geste, weil die Geschichte nicht abgeschlossen ist, solange man das Massengrab nicht gefunden hat. Ich finde, Mahnmale haben schon einen Sinn, aber sie müssen offen bleiben auf irgendeine Weise. Sie müssen immer die Möglichkeit beinhalten, dass man an ihnen noch etwas machen kann, noch etwas ergänzen kann. Genau dieses Ergänzen mit der leeren Tafel in Rechnitz finde ich schön. Aber wie gesagt, es gibt keine generelle Handlungsanweisung, wie man ein Mahnmal gestalten sollte.
schauinsblau: Wie geht es weiter nach Dunkelblum?
Eva Menasse: Das würde ich auch gerne wissen. Ich weiß es nie. Ich brauche immer Pause. Ich muss andere Texte schreiben, Essays, Artikel (mit Artikeln ist jetzt mal gut), aber Essays und vielleicht eine Erzählung. Ich muss wieder in eine Freiheit kommen. Im Moment bin ich noch sehr besetzt von Dunkelblum, weil ich noch so viele Lesungen damit habe und immer noch viel darüber reden muss. Irgendwann geht das aber langsam weg und dann werde ich einfach wieder in die Bibliothek gehen und schauen, welche Stoffe ich dort finde. Der Stoff generiert ja dann auch die Form. Am Ende geht es darum, dass ich wie ein Angler einen Fisch an den Haken bekomme, der sich lohnt. Sie müssen bedenken: Mit einem Roman verbringt man mehrere Jahre. Das heißt, man sollte sich den Stoff gut aussuchen. Diese Phase ist jetzt noch weit entfernt von mir. Ich kann mir im Moment überhaupt nichts ausdenken, außer dass ich jetzt gerne einen Essay schreiben würde, aber keine Zeit habe. Heute hat den ganzen Tag das Telefon geklingelt!
schauinsblau: Vielen Dank für das Gespräch!
Eva Menasse: Sehr gerne, hat mir echt total Spaß gemacht!
Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, gehört derzeit zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum. Nach Abschluss ihres Germanistik- und Geschichtsstudiums arbeitete sie als Journalistin, unter anderem bei der FAZ. Im Jahr 2000 erschien ihr erstes Buch, die Reportage Holocaust vor Gericht. Seitdem ist sie, mittlerweile in Berlin lebend, als freie Schriftstellerin tätig. Ihre Romane, Erzählungen und Essays wurden in Deutschland und Österreich vielfach ausgezeichnet. 2021 erschien ihr Roman Dunkelblum.