Altern als Verwandlung: Katharina Mevissen im Interview

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© Maï­scha Souaga

von Natalie Diga, Valeriya Petrova, Franciska Schulze und Sophia Altmayer

Ihre Bücher füh­len sich schön an, wei­sen eine bestimm­te Form, durch­dach­ten Farb­ein­satz und inter­es­san­tes Design auf. Legen Sie auch wäh­rend Ihres Schreib­pro­zes­ses Wert auf Mate­ria­li­tät? Arbei­ten Sie mit Notiz­zet­teln und ana­log oder digital? 

Es ist alles auf ein­mal, ehr­lich gesagt. Grund­sätz­lich bin ich ein sehr ana­log arbei­ten­der Mensch. Ich mag Mate­ri­al und wür­de sagen, dass das Mate­ri­al immer dar­auf Ein­fluss hat, wie man arbei­tet und wel­che Gedan­ken ent­ste­hen. Das Ana­lo­ge hat ja oft den Ruf, dass es sper­rig ist – auch das macht etwas. Wenn ich mit einem Notiz­block im Park sit­ze und nicht kurz im Inter­net etwas nach­schau­en kann, ver­än­dert das einen Gedan­ken­gang, weil er an die­ser Stel­le anders wei­ter­geht. Zugleich bin ich natür­lich die Gene­ra­ti­on, die nicht mehr auf der Schreib­ma­schi­ne schreibt. Ich fra­ge mich manch­mal mit einem leich­ten Exo­tis­mus, wie die frü­her auf der Schreib­ma­schi­ne arbei­ten konn­ten – die Text­be­ar­bei­tung ist da eine völ­lig ande­re. Was das Schrei­ben von Fließ­tex­ten, Roman­tex­ten oder Hör­stü­cken angeht, bin ich des­halb eine total digi­tal arbei­ten­de Autorin. Ich bin das digi­ta­le Word-Dok gewöhnt. Nur weil ich auf einem digi­ta­len Pro­gramm schrei­be, bin ich aber nicht auf den Rech­ner beschränkt: Mein Tisch liegt vol­ler Gegen­stän­de, ich hän­ge vie­le Zet­tel an die Wand, arbei­te mit Bild­ma­te­ria­li­en und höre Din­ge an. Was ich pro­du­zie­re, ist auch phy­sisch im Raum. Mein Schreib­pro­zess ist ein Mix aus Medi­en und Mate­ri­al, die zum Ein­satz kom­men und die man gar nicht so ein­fach tren­nen kann.

In Ihrem Buch Mut­ters Stimm­bruch wird von einer Frau erzählt, die ganz neu beginnt, als ihr Leben schon fast vor­bei zu sein scheint. Es geht um inne­ren Auf­bruch und Neu­an­fang trotz des Älter­wer­dens. Was macht Ihrer Mei­nung nach der Pro­zess des Älter­wer­dens mit einem Men­schen im Hin­blick auf die Zukunft? Was ver­baut oder öff­net das Wis­sen um eine Zukunft für die Person?

Das Älter­wer­den oder das Alt­wer­den, das der Figur „Mut­ter“ in dem Text wider­fährt, habe ich sehr stark als eine Ver­wand­lungs­ge­schich­te ange­legt. Das ist ein Stück weit unge­wöhn­lich, weil das Ver­hält­nis von Älter­wer­den und Zukunft oft anhand von Ster­ben, Ver­gäng­lich­keit und Sterb­lich­keit erzählt wird. Das Alter wird aus einer Per­spek­ti­ve von Ver­fall, von Weni­ger­wer­den oder Ablauf der Zeit reprä­sen­tiert – und das ist sicher auch wahr, aber eben auch. Des­we­gen war mir wich­tig zu erzäh­len, dass es sich um eine Figur han­delt, die nicht ein­fach ver­fällt oder ver­geht, son­dern die sich in ers­ter Linie ver­wan­delt in eine neue Lebens­si­tua­ti­on und in eine neue kör­per­li­che Ver­fas­sung, die zwar Aspek­te von Ver­fall auf­weist, aber eben auch von Neue­rung und Ver­än­de­rung. Die neue Stim­me Mut­ters ist da ganz zen­tral. Des­we­gen bedeu­tet die Fra­ge nach der Zukunft in mei­nem Buch ein Erzäh­len von Leben­dig­keit einer alten Figur.

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Was genau hat Sie dazu ver­an­lasst, über eine Mut­ter­fi­gur, über die Prot­ago­nis­tin „Mut­ter“, zu schreiben?

Das ist immer die gro­ße Fra­ge nach den Figu­ren. Da gibt es vie­le Ant­wor­ten. Ich fin­de, die lang­wei­ligs­te ist, wenn AutorIn­nen erzäh­len: Dann war die Figur irgend­wie plötz­lich da und dann hat die in mir gear­bei­tet und ich habe so eine Stim­me gehört, wie die Figur spricht – und dem bin ich dann nach­ge­gan­gen (lacht). Und trotz­dem sagen wir Schrift­stel­le­rIn­nen das stän­dig, weil ein Teil davon wahr ist, glau­be ich. Was das Publi­kum oft inter­es­siert, ist die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis der Figur Mut­ter zu mei­ner Mut­ter oder zu mei­nen Erfah­run­gen von alten Frau­en­fi­gu­ren. Die­se Fra­ge ent­täu­sche ich immer sehr ger­ne und ant­wor­te dar­auf, dass Mut­ter eher eine kol­lek­ti­ve Figur ist, die aus vie­len Per­sön­lich­kei­ten, Erfah­run­gen und auch struk­tu­rel­len Erfah­run­gen von Mut­ter­schaft oder Rol­len altern­der Frau­en gespeist ist. Es ist mir wich­tig zu sagen, dass Figu­ren sich im Schreib­pro­zess zusam­men­set­zen und man sie nicht ver­wech­seln kann mit Per­so­nen, wie wir sie als Men­schen unse­rer nicht-fik­tio­na­len Welt ken­nen. Figu­ren bestehen stark aus Spra­che und aus Ent­schei­dun­gen, eine bestimm­te Spra­che zu wäh­len. Es geht um Phä­no­me­ne, die sich an der Figur erzäh­len las­sen, wie der Stimm­bruch oder die­se sur­rea­le Logik des Zahn­aus­falls. So kann man eben auch zu einer Figur kom­men: Es gibt bestimm­te Din­ge, die pas­sie­ren oder sie wider­fah­ren einer Figur – und über die­se Pro­zes­se fin­de ich die Figur.

Stim­me und Spra­che haben einen hohen Stel­len­wert in Ihrem Buch. Die Prot­ago­nis­tin hat ver­schie­de­ne Spra­chen, wie die Erwach­se­nen­stim­me, die Haus­spra­che, die Kör­per­spra­che oder die Milch­stim­me. Man könn­te sagen, dass in jeder Spra­che eine Art und Wei­se zu den­ken und zu han­deln liegt. Wie kann man die Spra­chen Mut­ters ein­zeln defi­nie­ren oder darf man das überhaupt?

Alle Lese­rIn­nen dür­fen das. AutorIn­nen soll­ten so etwas nicht machen. Sie soll­ten nicht das, was sie in ihren Tex­ten an Mehr­deu­tig­keit erschaf­fen haben, „lek­tü­re­schlüs­sel­mä­ßig“ durch Defi­ni­ti­on fest­le­gen. Das wür­de mir fern­lie­gen und ich den­ke, es ist für den Text und die Lese­er­fah­rung scha­de. Aber ich kann sagen, was mich zu den Spra­chen bewegt hat: Mir war wich­tig, dass eine Figur, die sehr stark als ver­schwie­ge­ne Figur ein­ge­führt wird, als Figur die einen Stimm­ver­lust durch­macht, nicht als sprach­los dar­ge­stellt wird. Ich woll­te einen ganz star­ken Kon­trast schaf­fen zwi­schen: Mut­ter zieht sich zurück, ihre Stim­me ver­ab­schie­det sich, es krächzt unddas ist kei­ne Figur, die die Spra­che ver­lo­ren hat. Mut­ter hat nicht die Spra­che ver­lo­ren, son­dern die Stim­me, was im meta­pho­ri­schen Sprach­ge­brauch sehr oft ver­mischt wird. Mut­ter hat eine gro­ße Sprach­macht, einen gewal­ti­gen Sprach- und Wort­schatz im Rücken. Sie hat neun Spra­chen durch ihr Leben erwor­ben, die sie prä­gen und die in ihr sind – aber sie benutzt sie nicht. Und das ist ihre Ent­schei­dung: Über ihre Stim­me kann sie in man­chen Momen­ten zwar nicht ver­fü­gen, aber über ihre Spra­chen schon und sie ent­schei­det sich, an der Stel­le, an der sie in ihrem Ver­wand­lungs­pro­zess steht, erst­mal zu schwei­gen trotz ihres Sprachreichtums.

Mut­ter macht im Ver­lauf des Buches eine gro­ße Ent­wick­lung durch und erlangt am Ende ihre neue Stim­me. Sie haben das vor­hin als „Ver­wand­lungs­ge­schich­te“ bezeich­net. War­um wird Mut­ter kein eige­ner Name gege­ben? War­um wird sie trotz ihrer per­sön­li­chen Ent­wick­lung wei­ter­hin „Mut­ter“ genannt?

Mir ist auf­ge­fal­len, dass der Name „Mut­ter“ Rei­bung erzeugt und einen Unmut aus­löst. Lese­rIn­nen fra­gen sich, war­um sie den denn nicht los­wer­den kann. Ich glau­be, es ist eine Wahr­heit die­ser Geschich­te, dass Mut­ter den Namen „Mut­ter“ nicht los­wer­den kann, obwohl sie sich in all ihrem Tun und ihrer Ent­wick­lungs­tech­nik weit von Mut­ter­schaft ent­fernt hat. Es ist ein Stück weit ihr Eigen­na­me gewor­den. Mir geht es mitt­ler­wei­le so, dass ich „Mut­ter“ gar nicht mehr mit Mut­ter­schaft ver­bin­de, wenn ich die­sen Text lese oder vor­le­se – weil ich mich so an den Begriff als Eigen­na­men gewöhnt habe. Den­noch kann man sich die [von euch genann­te] Fra­ge stel­len. Es heißt ja auch am Anfang des Buches „Mut­ter hat­te vie­le Namen und kei­ner davon lau­te­te Mut­ter“. Das deu­tet schon an, dass da eine Ver­ar­mung pas­siert ist. Mit Namen ist es ja eigent­lich wie mit Spra­chen – wir haben wahr­schein­lich alle meh­re­re oder sogar vie­le. Ich den­ke, mir wäre es für mei­ne Ver­hält­nis­se meta­pho­risch ein biss­chen too much gewe­sen zu sagen: Sie bekommt die neue Stim­me und dann auch noch einen neu­en Namen. Das war mir irgend­wie zu rund. Sie kann nicht alles abstrei­fen, was sie gewor­den ist.

Haben Sie sich wäh­rend des Ent­ste­hungs­pro­zes­ses Gedan­ken gemacht, ob man das Buch auch ana­log mit einer Vater­fi­gur gestal­ten hät­te können?

Nein, ich habe nicht dar­über nach­ge­dacht und ich den­ke auch nicht, dass es mög­lich gewe­sen wäre. Was sehr mög­lich ist und was der Text ja auch tut, ist, immer wie­der auf­schei­nen zu las­sen, dass die bio­lo­gi­sche Kate­go­rie von Mut­ter, von Geschlecht oder von Weib­lich­keit eigent­lich als Fik­ti­on erschei­nen soll. Das heißt, in Mut­ters Mut­ter­schaft, die kei­ne Mut­ter­schaft ist sozu­sa­gen, soll auch die Mög­lich­keit der Vater­schaft, der Vater­rol­le oder männ­li­cher Rol­len auf­schei­nen. Mut­ter nimmt die­se Mög­lich­kei­ten immer wie­der wahr, sie wir­ken nur anders, weil die Art, wie ihr Kör­per gele­sen wird, nicht zu ihrem Ver­hal­ten passt und nicht zu den Rol­len­er­war­tun­gen. Eine männ­li­che Rol­le oder Vater­rol­le ist also auch Teil des Buches, aber es hät­te ein ande­res Set­ting erfor­dert, den Vater als Figur zu erzäh­len. Die gan­ze Ambi­va­lenz des Stimm­bruchs wäre dann weg­ge­knickt. Mut­ter muss­te Mut­ter sein, sonst hät­te die Geschich­te kein sub­ver­si­ves Poten­zi­al entfaltet.

Wie ver­ste­hen Sie Ihre Schrift­stel­le­rin­nen­rol­le? In Ihrem Debüt­ro­man Ich kann dich hören wird bei­spiels­wei­se kri­ti­siert, dass es für Gehör­lo­se kei­ne Uni­ver­si­tät gibt. Ist es Ihnen ein Anlie­gen, auf sozia­le Miss­stän­de auf­merk­sam zu machen?

Das ist was, was jeden Tag auf dem Schreib­tisch liegt und für mich per­sön­lich immer eine Abwä­gungs­fra­ge: Gehört der­ar­ti­ge Kri­tik in die­sen Text oder in einen ande­ren oder in wel­ches Pro­jekt? In Gen­res wie Essay, Sach­buch oder For­schungs­ar­beit ist es gän­gig zu sagen: Das ist jetzt mein Ziel, mein Anspruch und mei­ne Kri­tik und das steht am Anfang. So funk­tio­niert aber lite­ra­ri­sches oder lyri­sches Schrei­ben für mich nicht. Den­noch sind mei­ne Tex­te durch­drun­gen von einer Per­spek­ti­ve auf Welt und Gesell­schaft und von dem Wunsch, etwas abzu­bil­den, was in einer mehr­stim­mi­gen und viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft da ist, aber nicht unbe­dingt reprä­sen­tiert wird in der Lite­ra­tur. Das alles soll in mei­ne Tex­te ein­flie­ßen. Den­noch gibt es eine Auto­no­mie des lite­ra­ri­schen Texts, in den die­se Din­ge nicht 1:1 über­setzt wer­den. Das Akti­vis­ti­sche kann abso­lut im Text statt­fin­den, aber die Wege sind hier, glau­be ich, ver­win­kel­ter und sub­ti­ler als in der gebär­den­sprach­li­chen Lite­ra­turin­itia­ti­ve oder in Bünd­nis­sen wie Ver­la­ge Gegen Rechts. Die Fra­ge ist immer: An wel­cher Stel­le kann ich wie eine Aus­sa­ge treffen?

Ergeb­nis oder Prozess?

Pro­zess

Tele­fon­zel­le oder Fax?

Tele­fon­zel­le

Poet­rys­lam oder Lesung?
Lesung

Dan­ke für das schö­ne Inter­view, Katha­ri­na Mevissen!

Katha­ri­na Mevis­sen am Poe­tik-Kol­legs der FAU 2024 © FAU Friedrich-Alexander-Universität

Katha­ri­na Mevis­sen wur­de 1991 gebo­ren und hat bereits mit ihrem Debüt­ro­man Ich kann dich hören gro­ße Auf­merk­sam­keit erregt. Sie erhielt den Kra­nich­stei­ner Lite­ra­tur­för­der­preis und 2021 wur­de der Roman vom West­deut­schen Rund­funk als Hör­spiel adap­tiert. Die stu­dier­te Kul­tur- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin lebt und arbei­tet als Autorin in Ber­lin, wo sie aktu­ell zu dem Zusam­men­hang von Münd­lich­keit und Lite­ra­tur an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin forscht. Ihre Wer­ke zeich­nen sich durch eine fei­ne Beob­ach­tungs­ga­be und ein tie­fes Ver­ständ­nis für die mensch­li­che Psy­che aus. Mut­ters Stimm­bruch ist ihr zwei­ter Roman, mit dem sie sich nicht nur end­gül­tig in der deut­schen Lite­ra­tur­sze­ne eta­bliert hat, son­dern der auch ihre Ent­wick­lung als Autorin zeigt, die es ver­steht, gesell­schaft­lich rele­van­te The­men in lite­ra­risch anspruchs­vol­le Tex­te zu ver­wan­deln. In ihrem Roman setzt sich Katha­ri­na Mevis­sen ein­fühl­sam mit den The­men Schwei­gen, Trau­ma und fami­liä­re Bezie­hun­gen auseinander.

© Ver­lag Klaus Wagenbach

2023 ver­öf­fent­lich­te Katha­ri­na Mevis­sen Mut­ters Stimm­bruch, Ver­lag Klaus Wagen­bach. 22 €