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Der Nachtwächter von Louise Erdrich (Pulitzer-Preis 2021)
von Jona Kron
Diese Woche veröffentlicht der Aufbau Verlag Louise Erdrichs Roman Der Nachtwächter zum ersten Mal in deutscher Fassung. Das Timing könnte nicht besser sein, denn im letzten Monat erhielt die englische Version (The Night Watchman) den Pulitzer-Preis für Fiktion. Doch obwohl die letzten fünf Dekaden für Erdrich zahlreiche Werke und Auszeichnungen mit sich brachten, schien sich ihr der Pulitzer stets zu entziehen. So schaffte es das erste Buch ihrer Justice-Trilogie Plague of Doves (2008) nur in die finale Auswahl des begehrten Preises. Die beiden folgenden Teile brachten ihr dafür andere hochkarätige Ehrungen ein. The Round House (2012) wurde mit dem US National Book Award ausgezeichnet und für LaRose (2016) erhielt sie ihren zweiten National Book Critics Circle Award. Für den Pulitzer-Preis wurden diese beiden Teile jedoch nicht mehr in Betracht gezogen. Ein Umstand von dem sich Erdrich nicht entmutigen ließ. Im von ihr gewohnten vier-Jahrestakt veröffentlichte sie mit 65 Jahren nun endlich ihren ersten Pulitzerroman. Es ist angesichts solch langwieriger Unbeirrbarkeit kaum verwunderlich, dass Durchhalten auch in Erdrichs neustem Werk eine tragende Rolle spielt; nämlich das Durchhaltevermögen ihres Großvaters und das der anderen Turtle Mountain Chippewa, im Kampf gegen ihre systemische Auslöschung während den 50ern.
Thomas Wazhashk – basierend auf Briefen von Erdrichs Großvater – ist der titelgebende Nachtwächter. Er übersieht die zum Reservat gehörende Lagersteinfabrik und ist organisatorische Schlüsselfigur im politischen Kampf gegen ein neues indigenes Enteignungsgesetz. Wenn Thomas nebenbei nicht an Politiker und wichtige Stammespersönlichkeiten schreibt oder sich um Unterstützung für die anstehende Reise nach Washington bemüht, leidet er unter Erschöpfung und dem redseligen Geist Roderick. Schnell wird klar, Der Nachtwächter ist nur wenig biographisch. Lieber vermittelt der Roman ein perspektivenreiches Verständnis für das Leben in und um das bescheidene Reservat in North Dakota und warum es sich dafür zu kämpfen lohnt.
So wechselt die Narration stetig ihre Stimme sowie ihren Ausgangspunkt und gibt den Leser*innen gleich ein knappes Duzend glaubhafter, feingezeichneter Protagonist*innen an die Hand. Egal ob Thomas Kampf mit dem Senator oder Wood Mountains Showdown im Boxring, Patrices Suche nach ihrer verschleppten Schwester oder das liebestolle Abenteuer der entlaufenen Pferde Teacher’s Pet und Gringo; Erdrichs abwechslungsreicher Erzählstil – in der Übersetzung gut erhalten – vereinnahmt vollkommen und ist gleichermaßen anregend, bildhaft, humoristisch, furchteinflößend, gefühlvoll, wie poetisch.
Der Nachtwächter erhebt sich über Stereotypen und sprengt die Grenzen zwischen Tier und Mensch, Dies- und Jenseits, Religionen und Traditionen. Gleichzeitig führt Louise Erdrich mit meisterhafter Prägnanz, Humor und Scharfsinn systemische und soziale Probleme vor Augen, welche bis heute nachhallen. Dieser Roman ist ein Paradebeispiel für Erdrichs einzigartige Kunstfertigkeit.
Louise Erdrich, Der Nachtwächter (im Original: The Night Watchman), 496 Seiten, Aufbau Verlag, 24,00 €.