Auf Leben und Tod!

Du betrachtest gerade Auf Leben und Tod!

von Wolf­gang Kubin

Das Über­set­zen, so scheint’s, steht noch immer unter kei­nem guten Stern. The­sen und Theo­rien der inzwi­schen so rei­chen Über­set­zungs­wis­sen­schaft haben mit­un­ter noch nicht ein­mal in Fach­dis­zi­pli­nen wie die Sino­lo­gie hin­rei­chend Ein­zug gehal­ten. Nicht sel­ten wer­den wei­ter ver­meint­lich mög­li­che wört­li­che Über­set­zun­gen ver­langt, wird der Über­set­zer als ein Auto­mat ange­se­hen, in den A, die Aus­gangs­spra­che, ein­zu­ge­ben ist, um blitz­schnell Z, die Ziel­spra­che, erhal­ten zu kön­nen. Der Kampf gegen Miß­ver­ständ­nis­se die­ser Art ist ein Kampf gegen Müh­len. Soll­te sich der Über­set­zer daher nicht bes­ser bei­zei­ten ein inter­es­san­te­res Kampf­feld suchen? Gleich­wohl mag im fol­gen­den das eine oder ande­re hin­läng­lich Bekann­te noch­mals auf­ge­grif­fen wer­den, um mei­ne Haupt­the­se zu unter­mau­ern. Die­se lau­tet: der Über­set­zer ist dem Autoren über­le­gen, mil­der for­mu­liert, er hat die­sem (mit­un­ter) über­le­gen zu sein.

These 1: Der Übersetzer ist sich fremd in zwei Sprachen

Las­sen Sie mich mit einem Bei­spiel aus dem täg­li­chen Elend des Über­set­zers begin­nen, um zu mei­ner ers­ten The­se zu kom­men, die da lau­tet: Der Über­set­zer wird sich fremd in zwei Spra­chen, d.h. in der Aus­gangs­spra­che und in der Zielsprache.

Am 28. Mai 2006 wohn­te ich anläß­lich des all­jähr­li­chen Poe­sie­fes­ti­vals von Ber­lin der Ver­an­stal­tung „Mein Weg in die Welt. Wenn Dich­tung inter­na­tio­nal wird” in den Räum­lich­kei­ten der bekann­ten Lite­ra­tur­werk­statt als Zuhö­rer bei. Auf dem Podi­um saß u. a. der von mir über­setz­te chi­ne­si­sche Dich­ter mit ame­ri­ka­ni­schem Paß Bei Dao (geb. 1949). Der Mode­ra­tor Bern­hard Rob­ben beginnt das Gespräch mit ihm, indem er die eng­li­sche und die deut­sche Fas­sung des Gedich­tes „Lied von unter­wegs” (Lu ge) mit­ein­an­der ver­gleicht und sich den Vers „Du öff­nest die Fächer der Geschich­te” her­aus­klaubt. Im Eng­li­schen ist von „the fan of histo­ry” die Rede. Er faßt mei­ne Über­set­zung „die Fächer der Geschich­te” im Sin­ne von „die Schub­fä­cher der Geschich­te” auf und fragt mit Blick auf die eng­li­sche Fas­sung Bei Dao, wie es zu sol­chen Feh­lern kom­men kön­ne, und was er, Bei Dao, zu sol­chen Feh­lern sagen wür­de. Der Dich­ter ver­weist auf mich im Publi­kum. Man kön­ne mich befra­gen. Befragt wer­de ich aber nicht. Statt­des­sen kann ich, der ich als Fal­sch­über­set­zer ent­larvt wur­de, mir nur mei­nen Teil den­ken. Daß näm­lich das deut­sche Wort Fach bzw. Fächer im Plu­ral unun­ter­scheid­bar ist und im Plu­ral vor jedem Blick ins Lexi­kon zumin­dest drei­er­lei bedeu­ten kann: a) die Schul­fä­cher, b) die Schub­fä­cher und c) die chi­ne­si­schen bzw. japa­ni­schen Fächer, die man zur Küh­lung vor dem Gesicht wedelt. Doch wel­cher der drei Fächer war im Chi­ne­si­schen gemeint? Ich hat­te kein Ori­gi­nal bei mir und mei­ne Erin­ne­rung war auch über­fragt. Ich konn­te also nur über das Eng­li­sche auf einen San­del­holz­fä­cher o. ä. schließen.

Nun ist es eine Tat­sa­che, daß das Chi­ne­si­sche einen Plu­ral oder Sin­gu­lar sel­ten ein­deu­tig zu erken­nen gibt. Dies gilt ins­be­son­de­re für die Poe­sie. Im Fall von Bei Dao las­sen sich ein­zel­ne Nomen, da sie im Deut­schen einen bestimm­ten oder unbe­stimm­ten Arti­kel haben soll­ten, bis zu fünf Mal vari­ie­ren: Pferd, ein Pferd, das Pferd, die Pfer­de, Pfer­de. Der Über­set­zer hat im Deut­schen eine Ent­schei­dung zu tref­fen, ob er will oder nicht. Er kann sich nicht ent­zie­hen. Wo der Dich­ter unbe­stimmt blei­ben möch­te, sieht er sich gezwun­gen, kon­kret zu werden.

Vom Mode­ra­tor zum Schwei­gen ver­dammt, war die Sache mit dem ver­meint­li­chen Feh­ler nicht mein eigent­li­ches Pro­blem an die­sem Abend. Der Mode­ra­tor, der über kei­ne Chi­ne­sisch­kennt­nis­se ver­fügt, hat sich blind dem Eng­li­schen gebeugt. Bekannt­lich ist Eng­lisch die Welt­spra­che Nr. 1, obwohl sie sehr viel weni­ger als das Chi­ne­si­sche gespro­chen wird. Als Nr. 1 scheint ihr auto­ma­tisch jeg­li­che Wahr­heit zuzu­fal­len. Der Hin­ter­grund der eng­li­schen Über­set­zung stand an besag­tem Abend gar nicht erst zur Debat­te. Bei Daos ame­ri­ka­ni­scher Über­set­zer, der Schrift­stel­ler Eli­ot Wein­ber­ger, hat in sei­ner Stu­di­en­zeit zwar ein Jahr lang das moder­ne Chi­ne­sisch erlernt, hat aber, wie er mir letz­ten Herbst wäh­rend einer Rei­se durch Xin­jiang gestand, in den etwa 40 ver­gan­ge­nen Jah­ren so gut wie alles wie­der ver­ges­sen. Was nicht ver­wun­der­lich ist. Über­dies, ein Jahr moder­ner Chi­ne­sisch­un­ter­richt befä­higt nie­mals zur Über­set­zung chi­ne­si­scher Dich­ter, ja nicht ein­mal zur Lek­tü­re einer chi­ne­si­schen Tageszeitung.

Wie über­setzt der gemein­sa­me Freund Eli­ot Wein­ber­ger aber dann? Bei Dao, der nach mehr als zehn Jah­ren Auf­ent­halt in den USA, wei­ter­hin nur bro­ken Eng­lish spricht, berei­tet eine soge­nann­te wört­li­che bzw. ver­meint­lich linea­re Über­set­zung im Eng­li­schen vor, die der Ame­ri­ka­ner glät­tet und dabei stän­dig Rück­spra­che mit dem Dich­ter hält. Das Ergeb­nis kann sich aller­dings sehen las­sen. Kein Wun­der, denn Wein­ber­ger hat mir gegen­über den Vor­teil, daß Bei Dao ihm alles, was eigent­lich unbe­stimmt ist (Nomen, Tem­pus), kon­kre­ti­sie­ren hilft. Ich dage­gen fra­ge sel­ten bei Bei Dao nach. Dies hat einen ein­fa­chen Grund. Auch ich bin Schrift­stel­ler und las­se beim Schrei­ben gern das eine oder ande­re offen. Fragt man mich nach der Lek­tü­re mei­ner Wer­ke, was hast du hier eigent­lich gemeint, reagie­re ich oft­mals wie Bei Dao: Man kann die frag­li­che Stel­le auf­fas­sen, wie man will. Alles sei mög­lich. So oder ähn­lich fällt nicht sel­ten die Ant­wort aus. Ich gebe jedoch gern zu, daß mich Aus­sa­gen wie die­se als Über­set­zer oft­mals beun­ru­hi­gen, beson­ders dann, wenn es mir nicht gelingt, das „Auge des Gedich­tes”, wie man im Chi­ne­si­schen sagt, zu tref­fen. Ich begin­ne dann zu ver­zwei­feln, viel­leicht eher an mei­nen Deutsch- als an mei­nen Chi­ne­sisch­kennt­nis­sen. Ich bin mir dann ein Frem­der in der deut­schen Spra­che, die so viel­deu­tig sein kann, in der chi­ne­si­schen, die so vage blei­ben möchte.

Zu guter Letzt ein lau­ni­ger Blick in den hei­mi­schen Duden (6. Auf­la­ge des Uni­ver­sal­wör­ter­bu­ches, 2007) bestä­tigt mei­ne Befürch­tun­gen. Für das Wort „Fächer” wer­den drei ver­schie­de­ne Bedeu­tun­gen ange­führt, für das Wort „Fach” vier, mehr Bedeu­tun­gen also, als ich an frag­li­chem Abend ahnen konn­te. „Fächer”, ob nun als Sin­gu­lar oder als Plu­ral zu ver­ste­hen, erlaubt ins­ge­samt zumin­dest sie­ben ver­schie­de­ne Deu­tun­gen. Etwas ähn­li­ches läßt sich vom chi­ne­si­schen Pen­dant auch sagen, was hier aber nicht wei­ter aus­ge­führt wer­den muß.

These 2: Die Übersetzung ist weder Kopie noch Schatten

In Chi­na gilt der Über­set­zer nichts. Er wird nicht nur schlecht bezahlt, er wird auch scheel ange­se­hen. Das war im Reich der Mit­te viel­leicht nicht immer so. Alle gro­ßen Lite­ra­ten der Repu­blik-Zeit (1912–1949) sind auch Über­set­zer gewe­sen. Daß Chi­na heu­te kaum einen Ver­tre­ter von Welt­li­te­ra­tur mit chi­ne­si­schem Paß auf­zu­wei­sen hat, ver­dankt sich viel­leicht dem Vor­ur­teil gegen­über dem Über­set­zen und den Fremd­spra­chen. Chi­ne­si­sche Autoren über­set­zen in der Regel nicht, schlim­mer noch, sie beherr­schen kei­ne frem­den Spra­chen und leh­nen mit­un­ter das Erler­nen einer ande­ren Spra­che osten­ta­tiv mit der Begrün­dung ab, eine Zweit­spra­che ver­der­be nur die Mut­ter­spra­che. Wir müs­sen auf den Unsinn sol­cher Ansich­ten hier nicht eingehen.

Ist der Über­set­zer also eine unlieb­sa­me, eine gelit­te­ne Not­wen­dig­keit? Auch in Deutsch­land wur­de er lan­ge Zeit alles ande­re als hofiert. Daher habe ich es vie­le Jah­re abge­lehnt, als Über­set­zer bezeich­net zu wer­den bzw. mich als einen sol­chen zu ver­ste­hen. Erst in letz­ter Zeit habe ich umzu­den­ken begon­nen. Ich habe lan­ge für die Erkennt­nis gebraucht, daß ich nicht ein­fach eine bil­li­ge Kopie schaf­fe und auch nicht ledig­lich der dün­ne Schat­ten eines sich auf­plus­tern­den Meis­ters bin. Gleich­wohl habe ich es zu erdul­den, daß mein Name wei­ter­hin klein­ge­druckt und wie im Fal­le der Lite­ra­tur­zeit­schrift Akzen­te vie­le Sei­ten spä­ter erst an das Ende mei­ner Über­tra­gun­gen gesetzt wird. Bis zur letz­ten Zei­le hat die wer­te Leser­schaft, zu der ich als Leser der Akzen­te in ver­gleich­ba­ren Fäl­len auch gehö­re, den sub­jek­ti­ven Ein­druck, ein deut­sches Ori­gi­nal vor Augen zu haben. Erst zum Schluß scheint sich die­se Illu­si­on auf­zu­he­ben und in mög­li­che Ent­täu­schung umzu­schla­gen. Doch ist der Leser wirk­lich einer Illu­si­on auf­ge­ses­sen? Kom­men wir daher zur drit­ten The­se. Sie mag zunächst über­heb­lich klingen.

These 3: Die Übersetzung ist das Original

Sie lau­tet: die Über­set­zung ist das Ori­gi­nal. Zwei ein­fa­che Bei­spie­le: 1. Das Neue Tes­ta­ment ist uns in grie­chi­scher Spra­che über­lie­fert. Es hat nur weni­ge authen­ti­sche Wor­te von Jesus, der kein grie­chisch, son­dern ara­mä­isch sprach, bewahrt. Wir ler­nen daher Chris­tus nur über die Zweit­spra­che ken­nen, die für Nicht­theo­lo­gen die Erst­spra­che zu sein scheint. 2. Vie­le chi­ne­si­sche Lite­ra­ten der Repu­blik-Zeit, die in zwei Spra­chen schrie­ben, haben sich sel­ber über­setzt wie zum Bei­spiel Zhang Ailing (1920–1995, Bian Zhi­lin (1910–2000) oder Lin Yutang (1895–1976). Doch was wie eine Über­set­zung aus­sieht, ist alles ande­re als eine rei­ne Über­set­zung. Die ver­meint­li­chen Abwei­chun­gen sind zu stark. Nicht sel­ten wirkt das Werk im Eng­li­schen poe­ti­scher als im Chi­ne­si­schen. Die ver­meint­li­che Über­set­zung ist ein Werk von eige­nem Recht. Und damit kom­me ich zu mei­ner vier­ten These.

These 4: Die Übersetzung ist Teil der Nationalliteratur

Die Über­set­zung schafft als Ori­gi­nal einen Bei­trag zur Lite­ra­tur der Ziel­spra­che bzw. sie hat der­glei­chen zu tun. Dies ist eine von dem heu­te in Lon­don leben­den Dich­ter Yang Lian (geb. 1955) vor vie­len Jah­ren bereits erho­be­ne For­de­rung an den Über­set­zer. Der deut­sche Über­set­zer habe im Akt der Über­tra­gung ein Werk zu schaf­fen, das der deut­schen Lite­ra­tur zuzu­rech­nen sei und nicht mehr der chi­ne­si­schen. Auch wenn unser Poet recht haben mag, so bleibt den­noch die Fra­ge offen, ob denn das wer­te Publi­kum einer sol­chen Sicht der Din­ge über­haupt zustim­men mag. Im Fal­le von Kla­bund (1890–1920) oder Hans Beth­ge (1876–1946), den­ke ich, ist das längst erfolgt. Bei­der Über­tra­gun­gen haben mit dem chi­ne­si­schen Ori­gi­nal nicht viel zu tun, und wenn ihnen über­haupt ein Wert zukommt, dann nur als deut­scher Ent­wurf eines gefühl­ten China.

These 5: Die Übersetzung ist das bessere Original

Die Pra­xis der Über­tra­gung aus dem Chi­ne­si­schen bestä­tigt mei­ne viel­leicht anma­ßend erschei­nen­de The­se. Die Kul­tur­po­li­tik der Volks­re­pu­blik Chi­na, vor allem zwi­schen 1949 und 1979, hat u. a. zu einer Zer­stö­rung der moder­nen chi­ne­si­schen Hoch­spra­che als Spra­che des Indi­vi­du­ums geführt. Die Nach­we­hen der offi­zi­ell ver­ord­ne­ten „mao­is­ti­schen Schrei­be” (Mao ti) sind heu­te noch zu spü­ren. Ein übri­ges tut die land­läu­fi­ge Auf­fas­sung im Reich der Mit­te, Spra­che sei ledig­lich ein Trans­port­mit­tel für Inhal­te. Und so lie­ben es chi­ne­si­sche Gegen­warts­au­toren, mit­un­ter hei­ße Eisen ledig­lich als publi­kums­wirk­sa­me Inhal­te anzu­ge­hen und dar­über die sprach­li­che Gestal­tung ihrer manch­mal bri­san­ten Aus­füh­run­gen zu ver­nach­läs­si­gen. Die Ver­mark­tungs­stra­te­gie von Autor, Agent und aus­län­di­schem Ver­lag setzt nicht sel­ten auf ein ver­meint­lich inlän­di­sches Ver­bot. Man liest also immer wie­der von einem Bücher­ver­bot, geschickt auf Umschlä­ge pla­ziert oder rei­ße­risch in Klap­pen­tex­ten ange­führt. Man liest nie von gro­ßem Stil oder gedank­li­cher Tiefe.

Nun ist es eine Tat­sa­che, daß vie­le Autoren trotz aller Öff­nung und Reform seit 1979 die chi­ne­si­sche Spra­che nur sehr unge­nü­gend beherr­schen. Soll, darf, muß der Über­set­zer folg­lich bei der Über­tra­gung aus dem Chi­ne­si­schen unter sei­nem Niveau blei­ben? Wer sich lan­ge mit Lite­ra­tur beschäf­tigt hat, wer lan­ge genug über­setzt hat, ahnt nicht sel­ten, was ein chi­ne­si­scher Autor eigent­lich hat schrei­ben wol­len. Und so über­rascht es wenig, daß sich das chi­ne­si­sche Fräu­lein­wun­der (Mian Mian, Wei Hui, Hong Ying) auf deutsch oft bes­ser liest als im Ori­gi­nal. Ein Über­set­zer, der sich auf die oft arme Spra­che sei­ner Vor­la­gen ein­läßt, ris­kiert Kopf und Kra­gen. Er wird nie wie­der einen Über­set­zer­auf­trag bekom­men und den­je­ni­gen den Weg ebnen, die die chi­ne­si­sche Lite­ra­tur nur aus dem Eng­li­schen (eines Howard Gold­blatt) über­set­zen (kön­nen).

These 6: Der Übersetzer weiß mehr als der Autor, als der Leser

Was aber recht­fer­tigt ansons­ten die Ver­bes­se­rung eines Aus­gangs­tex­tes? Kein Text ist in sich jemals abge­schlos­sen. Gäbe es den­noch einen sol­chen Text, bedürf­te es kei­ner zwei­ten Über­set­zung oder Inter­pre­ta­ti­on. Die Frei­heit des Über­set­zers basiert auf der Mehr­deu­tig­keit sei­ner Vor­la­ge und mit­un­ter auf einem Archiv bzw. sei­ner Erin­ne­rung. Autoren machen Feh­ler oder erin­nern sich nicht mehr an Wor­te und Taten. Leser haben ihre gute Schu­le ver­ges­sen. In einem Text kön­nen sich also Din­ge ver­ber­gen, von denen der Autor nichts (mehr) weiß oder wis­sen will. Der Über­set­zer wird die­se ber­gen und dem Publi­kum durch eine schein­ba­re Mehr­über­set­zung bzw. durch einen Kom­men­tar zugäng­lich machen. Dazu gehört auch die Kor­rek­tur von offen­sicht­li­chen Feh­lern. Als Über­set­zer darf man davon aus­ge­hen, daß ein Autor nicht absicht­lich falsch schreibt und sich auch kei­ne unge­len­ke Über­tra­gung wünscht. Da ich vie­le Kin­der habe und ich bei ihren ers­ten Lauf­übun­gen stets dabei war, ver­zei­he man mir den fol­gen­den Ver­gleich: Wer über­setzt wird, hat in einer frem­den Spra­che gehen zu ler­nen. Der Über­set­zer ist bei die­sen Geh­ver­su­chen lie­be­voll betei­ligt. So wie ein Vater nie­mals spä­ter sei­nem Kind vor­hal­ten wird, nur durch ihn jeg­li­che Fort­be­we­gung erlernt zu haben, so wenig wird ein Über­set­zer einem erfolg­rei­chen Autor spä­ter unter die Nase rei­ben, die­ser oder jener Preis ver­dan­ke sich ein­zig und allein sei­nen über­set­ze­ri­schen Bemühungen.

These 7: Es gibt keine wortwörtliche, keine falsche Übersetzung

Jedem Satz geht ein ande­rer Satz vor­aus, sowohl in der frem­den wie in der eige­nen Spra­che. Daher läßt sich nichts wort­wört­lich über­set­zen, denn nie­mand kann den vor­aus­ge­hen­den Satz gleich­zei­tig auch wört­lich mit­über­set­zen. Da Spa­ni­ens her­me­ti­sche Dich­ter der Vor­kriegs­zeit dem chi­ne­si­schen Her­me­tis­mus Ende der 70er Jah­re Pate stan­den, läuft ein Über­set­zen von Bei Dao zum Bei­spiel auf ein gefühl­tes Mit­über­set­zen sei­nes gro­ßen Vor­bil­des, näm­lich von Feder­i­co Gar­cia Lor­ca (1898–1936), hinaus.

Jedem Satz geht auch eine Ges­te vor­aus. Die­se Ges­te mag das Gegen­teil von dem mei­nen, was sich sprach­lich arti­ku­liert. Und das bedeu­tet, es gibt kei­nen ein­zi­gen ein­deu­ti­gen Satz! Eine simp­le Aus­sa­ge wie „Schön!” oder „Toll!” kann tat­säch­lich „schön” oder „toll” bedeu­ten, doch im täg­li­chen Leben machen wir oft die gegen­tei­li­ge Erfah­rung. Eine ent­spre­chen­de Ges­te oder Mie­ne deu­ten ein gehö­ri­ges Maß an Unmut an: Das ist aber gar nicht schön bzw. toll! Und damit kom­me ich zu mei­ner nächs­ten These.

These 8: Jede Übersetzung ist eine Interpretation

Wer Rück­sicht auf die Geschich­te oder Ges­tik eines Tex­tes nimmt, kann nur inter­pre­tie­ren, aber nicht end­gül­tig über­tra­gen. Alles Über­set­zen erfolgt daher nur in und aus einem schein­bar lee­ren Raum, tat­säch­lich ist der Raum gefüllt mit Geschich­te und Geschich­ten. Der Über­set­zer wird somit zum Erin­nern­den von Tex­ten, aber er kann nur soviel erin­nern, wie es dem Text gut tut. So gese­hen ist eine Über­set­zung nie abge­schlos­sen, son­dern immer nur eine mög­li­che Deu­tung unter vie­len mög­li­chen Deu­tun­gen. Und dar­um über­set­zen und inter­pre­tie­ren wir gern wei­ter, ohne je zu einem Abschluß zu kom­men. Gelan­gen wir den­noch zu einem Abschluß, spricht das für die Armut eines Tex­tes und das Ende eines Inter­es­ses an ihm.

These 9: Übersetzen meint Mut zur Geschichte

Der Satz, der jedem Satz vor­aus­geht, kann (der Erin­ne­rung) ver­lo­ren­ge­gan­gen sein oder darf aus poli­ti­schen Grün­den nicht mit­be­dacht wer­den. Der Über­set­zer, der nicht nur durch sei­ne, das heißt durch eine ande­re Spra­che, son­dern auch durch einen ande­ren Paß geschützt ist, erin­nert einen frag­li­chen Satz viel­leicht nicht ein­mal als ein­zi­ger, wagt es aber, ihn als ein­zi­ger in einer ande­ren Spra­che aus­zu­drü­cken und damit zur Spra­che zu brin­gen. Des­we­gen wird die Über­set­zung nicht sel­ten zum Ort der Wahr­heit, wenn sich das Ori­gi­nal zuvor zu klei­ne­ren Fäl­schun­gen gezwun­gen sah. Bei­spie­le gibt es in Hül­le und Fül­le. Da sind ein­mal Umda­tie­run­gen, wel­che Dich­ter vor­zu­neh­men hat­ten, um ihre Gedich­te in den 80er Jah­ren publi­zie­ren zu kön­nen. Zum Bei­spiel Bei Dao. Da stim­men Dis­si­den­ten, die im Aus­land leben, der Strei­chung von bestimm­ten Pas­sa­gen vor der Druck­le­gung ihrer Wer­ke auf dem Fest­land zu. Zum Bei­spiel Yang Lian. Da unter­schla­gen Her­aus­ge­ber wich­ti­ge Details wie im Fal­le der soge­nann­ten Gesamt­aus­ga­be von Gu Cheng (1956–1993), so daß ein Zyklus wie „Peking — Ich” (Cheng) ohne den Unter­ti­tel 4. Juni 1989 nichts mehr mit der Nie­der­schla­gung der Demo­kra­tie­be­we­gung zu tun zu haben scheint. Da publi­zie­ren chi­ne­si­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ihre vol­len Arbeits­er­geb­nis­se auf korea­nisch oder japa­nisch, so daß eine Lek­tü­re bzw. Über­set­zung ihrer chi­ne­sisch­spra­chi­gen Arbei­ten wenig Sinn ergibt. In allen genann­ten Fäl­len wird Über­set­zen zu einem Akt der Rekon­struk­ti­on nicht nur von Tex­ten, son­dern auch von Geschichte.

These 10:

Über­set­zen ist kei­ne Sache des Elfen­bein­turms, son­dern als poli­ti­sche eine Fra­ge von Leben und Tod. Mein Bei­trag „The Per­spec­ti­ve of Chi­ne­se Lite­ra­tu­re in the 21st Cen­tu­ry” für eine Shang­hai­er Kon­fe­renz (2004) ist längst ins Chi­ne­si­sche über­setzt und wan­dert auf dem Fest­land seit zwei Jah­ren von einer Redak­ti­on zur nächs­ten. Eigent­lich hät­ten mei­ne The­sen der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Chi­nas, aus wel­chen Grün­den auch immer, gut gefal­len und in deren Sicht bestimm­ter Din­ge pas­sen müs­sen, doch hat sie aus­ge­ge­ben, wel­che Per­so­nen, Begrif­fe, Daten in den Medi­en erwünscht sei­en und wel­che nicht. Die Publi­ka­ti­on der chi­ne­si­schen Über­set­zung mei­nes an sich nicht son­der­lich poli­ti­schen Bei­tra­ges wür­de die Schlie­ßung einer Redak­ti­ons­stu­be, die Ent­las­sung von Redak­teu­ren und viel­leicht auch die Maß­re­ge­lung des Über­set­zers nach sich zie­hen. Ähn­li­che Din­ge las­sen sich im übri­gen auch für Hong­kong anfüh­ren, wo unlängst eben­falls eine chi­ne­si­sche Über­set­zung mei­nes deut­schen Bei­tra­ges „Pekin­ger Refle­xio­nen” der (frei­wil­li­gen) Zen­sur zum Opfer gefal­len ist.

Weil Über­set­zen eine Sache auf Leben und Tod sein kann, des­halb ver­öf­fent­li­chen nicht weni­ge chi­ne­si­sche Über­set­zer ihre Über­set­zun­gen unter einem Pseud­onym. Frü­her habe ich dies als Krie­chen vor der Macht bezeich­net, heu­te bin ich vor­sich­ti­ger. Das Über­set­zen an sich ist schon Her­aus­for­de­rung genug. Man braucht kei­ne zusätz­li­che Front.

Wolf­gang Kubin, gebo­ren 1945 in Cel­le, ist Sino­lo­ge an der Uni­ver­si­tät Bonn und Autor-Über­set­zer. Für sei­ne Ver­diens­te als Kul­tur­ver­mitt­ler wur­de er mit dem “Pamir Inter­na­tio­nal Poet­ry Pri­ce”, dem bedeu­tends­ten Lite­ra­tur­preis im chi­ne­si­schen Sprach­raum, geehrt. Her­aus­ge­ber der Zeit­schrif­ten „mini­ma sini­ca. Zeit­schrift zum chi­ne­si­schen Geist”, „Ori­en­tie­run­gen. Zeit­schrift zur Kul­tur Asi­ens” und der „Geschich­te der chi­ne­si­schen Lite­ra­tur” in zehn Bän­den, für die er die Bän­de „Die chi­ne­si­sche Dicht­kunst von den Anfän­gen bis zum Ende der Kai­ser­zeit” (2002) und „Die chi­ne­si­sche Lite­ra­tur im 20. Jahr­hun­dert” (2005) ver­fass­te. Über sein Fach hin­aus erlang­te Kubin Bekannt­heit als Lyri­ker und Über­set­zer. Sei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit gilt dem Begrün­der der moder­nen chi­ne­si­schen Lite­ra­tur, Lu Xun (1881–1936), des­sen Wer­ke Kubin in sechs Bän­den über­setz­te, und dem zeit­ge­nös­si­schen Lyri­ker Bei Dao (gebo­ren 1949). Über­set­zen ist für Kubin eine krea­ti­ve Neu­schöp­fung, die dem über­setz­ten Text eine eigen­stän­di­ge lite­ra­ri­sche Exis­tenz ver­lei­hen soll.