Ausgänge: TEIL I

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Zwi­schen tie­fen­zeit­li­chem Ambi­en­te und Ter­ra­forming könn­te es künst­li­che Land­schaf­ten geben, die Aus­gän­ge aus den ent­zün­de­ten Apo­rien der Gegen­wart ermög­li­chen. Joshua Groß denkt dar­über nach, aus­ge­hend von A Japa­ne­se Hor­ror Film von Ches­ter Wat­son, Rei­se zum Mount Tamal­pais von Etel Adnan und Alti­pla­no von Male­na Szlam. 

von Joshua Groß

A Japanese Horror Film von Chester Watson

 

2018, als es mir schlecht ging (aus Grün­den, die gera­de nicht wich­tig sind), ver­öf­fent­lich­te Ches­ter Wat­son das dunk­le und sich düs­ter vor­anschlep­pen­de Pro­ject 0 und es hat mich getrös­tet – weil mei­ne eige­nen Stim­mun­gen dar­in wie­der­hall­ten; weil Musik dem Emp­fin­den oft homo­gen zur Sei­te steht. Ches­ter Wat­son sag­te damals in einem Inter­view, dass er für Rap eine ähn­li­che Bedeu­tung haben wol­le wie Jimi Hen­drix sie für die Rock­mu­sik hat­te. Das impo­nier­te mir. Im Herbst 2020, an Hal­lo­ween, erschien A Japa­ne­se Hor­ror Film – ein auto­fik­tio­na­les, psy­che­de­li­sches Kon­zept­al­bum, das Songs und hör­buch­ar­ti­ge Sequen­zen ver­bin­det. Ich habe es schon vie­le Male gehört. Was ich ver­stan­den habe, ist u.a. Folgendes.

 

Robert Wal­ser schreibt in Das Traum­ge­sicht: „Bald war der Raum, was er war, bald wie­der war er ein Gedan­ke, so zart, daß der, der ihn dach­te, fürch­ten muß­te, er ver­lie­re ihn. Ist nicht immer der ver­lo­ren gegan­ge­ne Gedan­ke der schöns­te?“ Ches­ter Wat­son ima­gi­niert sich in die­sen traum­haf­ten, schwan­ken­den Raum, der sei­ne For­men ver­än­dern kann; wo sich das Bewusst­sein los­zu­lö­sen scheint, wo sich ver­schie­de­ne Dimen­sio­nen berüh­ren, wo trip­pi­ge Erzäh­lun­gen ent­ste­hen. Wie Etel Adnan schreibt: „Aber wir brau­chen uns nicht von der Stel­le zu rüh­ren. Das Wahr­neh­men selbst wird zur Bewegung.“

 

Will man die Hand­lung von A Japa­ne­se Hor­ror Film nach­er­zäh­len, geht es in etwa so: Ches­ter Wat­son fliegt nach Japan – ein fik­tio­na­les Japan, durch­setzt von Folk­lo­re und Ani­mes und New Age-Ein­flüs­sen: ein para­nor­ma­les, eso­te­ri­sches Ambi­en­te. Am Air­port steigt Ches­ter Wat­son, der sich selbst als „Mono­to­ne Samu­rai“ bezeich­net, high in ein Taxi (in wel­cher Stadt, wis­sen wir nicht); als er auf dem Rück­sitz Platz genom­men hat, bekommt er von einer Por­zel­lan-Gei­sha lila­far­be­nes Gift zu trin­ken; die Rea­li­tät wird durch­läs­sig. Ver­schie­de­ne Geis­ter, Yoka­is, flüs­tern von Ver­hei­ßun­gen und wir­ken auf den Erzäh­ler mit run­ter­g­e­pitch­ten Stim­men ein, immer wie­der fla­ckert ein unheim­li­ches Lachen auf. In einem ver­ne­bel­ten, aggres­si­ven Zustand men­ta­ler Ent­rü­ckung begeg­net er schließ­lich Veerie, die zu sei­ner spi­ri­tu­el­len Füh­re­rin wird und ihm zeigt, wie er durch Astral­pro­jek­ti­on nach Atlan­tis rei­sen kann. Obwohl er es unbe­dingt schaf­fen will, schei­tert er immer wie­der. Dann, nach meh­re­ren Ver­su­chen, gelingt es ihm end­lich, nach Atlan­tis zu gelan­gen – und er trifft auf die Herr­sche­rin der ver­sun­ke­nen Stadt.

Ruhe oder Selbst­fin­dung oder Kathar­sis über­wäl­ti­gen ihn: 
 
„Tho­se wеre the days I would repеat and relive
Empress offe­red me a cup of tea and a spliff
now I’m somehow bur­ning under sea, it’s surreal …“ 
 
Durch die­se Erfah­rung schwingt sich Ches­ter Wat­son zum Rōnin auf. Sei­ne Angst­zu­stän­de ent­kop­peln sich von den Gewalt­zu­sam­men­hän­gen der Welt; so kehrt er zurück nach Hau­se, ver­wan­delt – los­ge­löst, als Abtrün­ni­ger in einer erkennt­nis­feind­li­chen Welt.
 

In sei­nem Buch Das Selt­sa­me und das Gespens­ti­sche schreibt Mark Fisher: „Die Per­spek­ti­ve des Gespens­ti­schen eröff­net uns die Kräf­te, die unse­ren All­tag regie­ren, die aber nor­ma­ler­wei­se ver­bor­gen sind, so wie es uns auch Zutritt zu Räu­men jen­seits des All­täg­li­chen über­haupt gewäh­ren kann. Es ist die­se Ent­las­sung aus dem All­täg­li­chen, die­se Flucht aus dem, was wir gewöhn­li­cher­wei­se für die Rea­li­tät hal­ten, die ein Stück weit den eigen­tüm­li­chen Reiz des Gespens­ti­schen erklärt.“ Nach Fisher bezieht sich das Gespens­ti­sche immer auf das Unbe­kann­te; bei­spiels­wei­se, wenn unse­re Auf­merk­sam­keit ohne erkenn­ba­ren Aus­lö­ser pro­vo­ziert wird, von außer­halb der Kau­sa­li­tä­ten qua­si; als wür­de ein Jen­sei­ti­ges an uns rüh­ren vielleicht.

 

Aber es gibt kein Jen­sei­ti­ges; wir sind nur zu ver­stie­gen in das, was wir gewöhn­li­cher­wei­se für die Rea­li­tät hal­ten. Das All­täg­li­che, es scheint für Fischer das Gewohn­te zu sein, das Geron­ne­ne, das immer­zu Gerin­nen­de – das, wor­auf wir uns meis­tens beschrän­ken. Dar­über setzt sich Ches­ter Wat­son hin­weg. Und sobald das pas­siert ist (auf meh­re­ren Ebe­nen: die fik­ti­ve Rei­se nach Japan, dort die geis­ter­haf­ten Begeg­nun­gen, die Astral­pro­jek­tio­nen), beginnt ein Weg­drif­ten in traum­haf­ter, ver­schwom­me­ner Prä­zi­si­on; eine ande­re, tie­fer­füh­ren­de Offen­heit wird mög­lich. Plötz­lich tritt ein, was Mar­cus Stein­weg denkt: „Die Rea­li­tät ist selbst gespens­tisch. Sie zer­fällt vor dem genau­en Blick. Ihre Kon­sis­tenz löst sich auf.“ Inso­fern lässt sich das Wirk­li­che in der Umnach­tung anders aus­lo­ten: dadurch, dass Ches­ter Wat­son eine künst­li­che Distanz auf­baut, indem er dem All­täg­li­chen ent­flieht, ent­bin­det er sich teil­wei­se von sei­ner Ein­ge­bun­den­heit ins Rea­li­täts­ge­fü­ge, aller­dings ohne den Ver­stand zu ver­lie­ren. Man könn­te fol­gern: auto­fik­tio­na­les Schrei­ben ist wie Astral­pro­jek­ti­on im Wachzustand.

 

Ich muss an Georg Chris­toph Lich­ten­berg den­ken, der geschrie­ben hat: „Die Erfin­dung der wich­tigs­ten Wahr­hei­ten hängt von einer fei­nen Abs­trak­ti­on ab, und unser gemei­nes Leben ist eine bestän­di­ge Bestre­bung, uns zu der­sel­ben unfä­hig zu machen; alle Fer­tig­kei­ten, Ange­wohn­hei­ten, Rou­ti­ne, bei einem mehr als bei dem andern, und die Beschäf­ti­gung der Phi­lo­so­phen ist es, die­se klei­nen blin­den Fer­tig­kei­ten, die wir durch Beob­ach­tun­gen von Kind­heit an uns erwor­ben haben, wie­der zu ver­ler­nen.“ Und viel­leicht ist genau das gru­se­lig: viel­leicht fühlt es sich gespens­tisch an, ein­mal ohne die blin­den Fer­tig­kei­ten aus­kom­men zu müs­sen, die man sich immer­zu aneig­net; eine umfas­sen­de­re Wahr­neh­mung von Wirk­lich­keit mag sich anfüh­len, als wäre man selbst außer­halb von Kausalitäten.

 
 

A Japa­ne­se Hor­ror Film ist dra­ma­tur­gisch teil­wei­se wie eine Anlei­tung gestal­tet – der Erzäh­ler dringt in immer tie­fe­re Schich­ten sei­ner See­len­land­schaf­ten vor; in einer Rezen­si­on wur­den die Geis­ter, denen Ches­ter Wat­son dabei begeg­net, als NPC’s bezeich­net, also jene Figu­ren in Com­pu­ter­spie­len, die nicht gesteu­ert wer­den kön­nen, mit denen man mit­un­ter aber inter­agie­ren kann und die einem durch Hin­wei­se und Tipps dabei hel­fen, Auf­ga­ben zu bestehen oder Level zu lösen. Aller­dings wird der Erzäh­ler von Veerie nur so weit gelei­tet, bis er selbst dazu in der Lage ist, von sei­ner Ein­ge­bun­den­heit abzu­las­sen und in Ent­rü­ckung weg­zu­drif­ten. Mar­cus Stein­weg schreibt: „Die Ergeb­nis­se des Den­kens ver­än­dern den Den­ken­den. Er wird ein ande­rer, erkennt sich selbst nicht wie­der, setzt sich der Kri­se des Selbst­ver­lusts aus. Den­ken heißt, sei­ne Gewiss­hei­ten zu prü­fen. Der Den­ken­de ver­lässt sein iden­ti­tä­res Gehäu­se, um mit einem Außen zu kom­mu­ni­zie­ren, das ihn längst beherrscht.“ Die Kräf­te, die unse­ren All­tag regie­ren, die NPC’s, das Außen. Auch das Ver­ler­nen kann zu Kri­sen füh­ren – wenn die Echos der eige­nen Schreie nach einer Wei­le aus einer unge­wohn­ten Fer­ne zurück­fin­den; mit so viel Ver­zö­ge­rung, dass man erschau­dert. Endet es über­haupt, das Unbe­kann­te? Ent­steht der Hor­ror, von dem Ches­ter Wat­son rappt, dadurch, dass er sich einer end­lo­sen Sphä­re über­lässt, die völ­lig unab­seh­bar (wenn auch nicht uner­kund­bar) ist?

 

Und die eige­ne Angst, dass man dabei auf­bre­chen könn­te und dann unter Umstän­den ein­fach zer­stäu­ben. Aber auch das Ver­ler­nen kann man üben, flüs­tert die­ses Album. Ich bin bereit dafür. Ich lie­ge im Bett, an deren Fußen­de eine Lava­lam­pe steht: ich schaue zu, wie das rote, flüs­si­ge, leuch­ten­de Wachs sei­ne For­men ver­än­dert, nie­ren­för­mig auf­steigt, in Kugeln sinkt, ent­zwei bricht, sich neu ver­bin­det, schwebt, rotiert, ver­harrt, fällt. Ich fin­de es hyp­no­tisch; es ist unmög­lich auf­zu­hal­ten. Mein Hirn fühlt sich an als wür­de es in sich selbst zer­fal­len. Natür­lich zer­fällt es nicht. Trotz­dem, es gibt so viel zu ver­ler­nen; wenn nicht mehr die­se unend­li­che Ener­gie ins Funk­tio­nie­ren fließt, wird Astral­pro­jek­ti­on über­haupt erst mög­lich. Ich schaue noch immer in die Lava­lam­pe. Da taucht wie­der die Fra­ge auf, ob nicht immer der ver­lo­ren gegan­ge­ne Gedan­ke der schöns­te sei …

Unge­fähr an die­sem Punkt spü­re ich, dass es Sinn macht, noch ein­mal A Japa­ne­se Hor­ror Film zu hören. Ich über­las­se mich – und das Album beginnt: „Life wro­te its­elf, we hel­ped it …“

Joshua Groß, 1989 gebo­ren in Grüns­berg, stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft, Öko­no­mie und Ethik der Text­kul­tu­ren in Erlan­gen. 2019 erhielt er den Anna-Seg­hers-Preis, 2021 wird er mit dem Lite­ra­tur­preis der A und A Kul­tur­stif­tung aus­ge­zeich­net. Zuletzt erschie­nen der Roman Fle­xen in Miami sowie der Essay- und Erzähl­band Ent­kom­men bei Matthes & Seitz Berlin.