Ausgänge: TEIL II

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Zwi­schen tie­fen­zeit­li­chem Ambi­en­te und Ter­ra­forming könn­te es künst­li­che Land­schaf­ten geben, die Aus­gän­ge aus den ent­zün­de­ten Apo­rien der Gegen­wart ermög­li­chen. Joshua Groß denkt dar­über nach, aus­ge­hend von A Japa­ne­se Hor­ror Film von Ches­ter Wat­son, Rei­se zum Mount Tamal­pais von Etel Adnan und Alti­pla­no von Male­na Szlam. 

von Joshua Groß
 

Reise zum Mount Tamalpais von Etel Adnan

 

Außer­halb von Kau­sa­li­tä­ten sein, ver­mut­lich ist es nur eine Sehn­sucht. Ich habe das Gefühl, dass die­se Sehn­sucht vor allem die Form betrifft. Wäh­rend ich mich im Gehäu­se mei­ner Kohä­renz­an­sprü­che ein­ge­schränkt füh­le, wün­sche ich mir, wie ein Lava­strom end­lo­se Abhän­ge run­ter­zu­flie­ßen, ohne gerin­nen zu müs­sen; ohne dass dabei etwas in mir gerinnt. Aber das Schrei­ben selbst bedeu­tet Gerin­nung. Emp­fin­dun­gen ver­fes­ti­gen sich dabei, lagern sich ab. Bedeu­tet mein Schrei­ben im bes­ten Fall eine Aus­la­ge­rung des Gerin­nens, so dass ich inner­lich flüs­sig blei­ben kann? Die Fra­gen der Form sind es, von denen ich mich der­zeit heim­ge­sucht füh­le. Die For­men ver­lan­gen Kau­sa­li­tät von mir. Die For­men drän­gen sich mir auf, dabei will ich mir ihrer kaum bewusst sein; ich will sie maxi­mal als die äußers­ten Befes­ti­gun­gen eines Gelän­des ver­ste­hen, dem ich mich frei hin­ge­ben will.

 
 

Auf David Crosby’s Album If I Could Only Remem­ber My Name, das 1971 erschie­nen ist, befin­det sich der Song Tamal­pais High (At About 3), benannt nach dem gleich­na­mi­gen Berg im kali­for­ni­schen Marin Coun­ty. Der Mount Tamal­pais ist 784 Meter hoch und erhebt sich direkt von der Küs­te des Pazi­fiks weg. Immer, wenn ich den Song von David Crosby höre, muss ich an einen Satz von Mark Fisher den­ken: „So hät­te es sein sol­len, bekifft zu sein – gewichts­los, zeit­los, Erleuch­tung, sich mit gelas­se­ner Geschwin­dig­keit über hell erleuch­te­te, neue Land­schaf­ten zu bewe­gen.“ 2012 habe ich eini­ge Mona­te in Mill Val­ley ver­bracht, einem Ort, der in die Aus­läu­fer des Mount Tamal­pais gebaut wur­de. Ich arbei­te­te damals als Au-Pair und spät­nach­mit­tags, wenn ich end­lich frei hat­te, erkun­de­te ich die Flan­ken des Bergs – ohne zu ahnen, wel­che Bedeu­tung er spä­ter für mich haben wür­de. Ich schau­te zu, wie Nebel über die Berg­käm­me floss; ich betrach­te­te Trut­hahn­gei­er, die in Mam­mut­bäu­men hock­ten; ich hul­dig­te den Pal­men; ich such­te ein Haus, in dem Gary Sny­der einst gelebt hat­te. Ich las Joan­ne Kyger. Ich trank Soft­drinks, die fast dick­flüs­sig waren, auf­grund ihres extre­men Zucker­ge­halts. Nie zog es mich zum Gip­fel des Mount Tamal­pais, komi­scher­wei­se. Ande­rer­seits fühlt sich viel­leicht des­halb mein Besuch in Kali­for­ni­en so unbe­en­det an, oder unter­bro­chen eher. Ich weiß, dass ich noch ein­mal dort­hin zurück­keh­ren muss. Es ist, als wür­de das abend­li­che Licht – es kam vom Pazi­fik her und ich nahm es gefil­tert durch die Kro­nen der Zypres­sen war – noch immer in mir wir­ken. Para­do­xer­wei­se ist es am ehes­ten Heim­weh, das ich ver­spü­re, wenn ich an die kali­for­ni­sche Pazi­fik­küs­te denke.

Das Buch Rei­se zum Mount Tamal­pais von Etel Adnan weicht den Kau­sa­li­tä­ten gewis­ser­ma­ßen wür­de­voll aus, oder es tran­szen­diert sie sogar. Eigent­lich habe ich kei­ne Ahnung, wo die­ses Buch beginnt oder wie es endet; ich ahne eher, dass der­ar­ti­ge Kate­go­rien dies­be­züg­lich kei­ne Erkennt­nis ver­spre­chen, oder eigent­lich nutz­los sind. 

„Ein­mal wur­de ich vor lau­fen­der Fern­seh­ka­me­ra gefragt: Wer ist die wich­tigs­te Per­son, die sie je getrof­fen haben?, und ich weiß noch, wie ich ant­wor­te­te: Ein Berg. So ent­deck­te ich Mount Tamal­pais im Mit­tel­punkt mei­nes Daseins.“

Als das Buch 1986 erst­mals ver­öf­fent­licht wur­de, leb­te Etel Adnan seit fast drei­ßig Jah­ren im Ener­gie­fel­des des Mount Tamal­pais; sie zeich­ne­te den Berg, mal­te den Berg, beschrieb den Berg, betrach­te­te ihn, eru­ier­te ihn, nahm ihn in sich auf: „In sol­chen Fäl­len wer­den geo­gra­fi­sche Orte zu spi­ri­tu­el­len Ent­wür­fen.“ Die ver­sam­mel­ten Tex­te sind glei­cher­ma­ßen Zwie­spra­che mit den ame­ri­ka­ni­schen Ureinwohner*innen, Traum­ta­ge­bü­cher, ästhe­ti­sche Theo­rie, Bio­gra­fie, Wahr­neh­mungs­übun­gen, Sci­ence-Fic­tion, Medi­ta­ti­on, Zeit­ge­schichts­schrei­bung, etc. Unda­tiert sind sie mon­tiert, teil­wei­se unter­bro­chen von schwarz-weiß Zeich­nun­gen, Absatz um Absatz zir­ku­liert Etel Adnan um den Berg; sie hebt an, asso­zi­iert sich wei­ter, bricht ab, wech­selt die Sicht­wei­se. Inso­fern stel­le ich mir vor, dass die ein­zel­nen Pas­sa­gen eher wie Jah­res­rin­ge eines Baums auf­ein­an­der fol­gen, Schicht für Schicht, um schließ­lich zu einem Buch zu werden.

Noch ein Nach­trag zu mei­nem Geschlur­che in Mill Val­ley: als ich bei dem Haus ankam, in dem Gary Sny­der wohl mal gewohnt hat­te, fand ich mich rat­los auf der schma­len Stra­ße wie­der, umsäumt von Sträu­chern, Kie­fern, Euka­lyp­tus­bäu­men, Eichen. Kei­ne Ahnung, was ich mir davon erwar­tet hat­te. Gar nichts wahr­schein­lich. Oder nichts, was ich benen­nen könn­te. Ich war ein­fach los­ge­lau­fen, gedrängt von Unru­he und Neu­gier. Das Haus kam mir ver­las­sen vor; es befand sich in der Mit­te eines Hangs, der nur wenig bebaut war. Ich streun­te umher, meh­re­re Minu­ten, bis ich fast pflicht­be­wusst ein paar Euka­lyp­tus­zap­fen auf­sam­mel­te und sie in der Tasche mei­nes Fleeces ver­wahr­te. Ich habe sie immer noch.

Im Nach­wort ihres Buches Der Herr der Fins­ter­nis schreibt Etel Adnan: „Aber unser Leben ist nicht in sich kon­sis­tent, wir wer­den von allen mög­li­chen Strö­mun­gen umwor­ben, sozia­len, poli­ti­schen, ästhe­ti­schen … und sel­ber suchen wir den gan­zen Pla­ne­ten ab. Wir wer­den mit Infor­ma­ti­ons­schnip­seln bom­bar­diert, die nichts mit­ein­an­der zu tun haben. Ein siche­res äuße­res, objek­ti­ves Zen­trum ist uns ver­lo­ren­ge­gan­gen. Wir selbst sind das ein­zi­ge Zen­trum, das uns geblie­ben ist. Des­halb gehe ich von die­sem inne­ren Zen­trum aus, da ich kei­nen ande­ren Kom­pass besit­ze.“ Unge­fähr das ist auch das Prin­zip, das Rei­se zum Mount Tamal­pais die Form ermög­licht. Zum einen Etel Adnan selbst, das inne­re Zen­trum, das seis­mo­gra­fisch fun­giert und unter ande­rem schreibt: „Nicht das Sehen ver­bin­det uns am stärks­ten mit dem beseel­ten Uni­ver­sum, son­dern die­se inne­ren Regun­gen, deren Auf­ga­be es ist, ers­te Anzei­chen atmo­sphä­ri­scher Wech­sel zu erfas­sen“; ande­rer­seits der Berg, des­sen Kraft­feld eine Aus­ein­an­der­set­zung ein­for­dert, der Etel Adnan fast zu trot­zen scheint und ent­ge­gen ihrer Über­zeu­gung ein äuße­res Zen­trum für sie dar­stellt: „In die­sem unend­li­chen Uni­ver­sum ist Mount Tamal­pais ein Wun­der­ding, das Wun­der der Mate­rie selbst: etwas, das wir bestim­men kön­nen, die Pyra­mi­de unse­rer eige­nen Exis­tenz.“ Im Aus­tausch ent­wi­ckelt sich all­mäh­lich eine Ruhe, eine tie­fe Ruhe, die äußers­te Kon­zen­tra­ti­on frei­setzt, wodurch das Den­ken ent­bun­den wird von sei­ner funk­tio­na­lis­ti­schen Ver­schrän­kung mit der Welt; Etel Adnan befin­det sich in einem Space­shut­tle, das gleich­zei­tig der Berg ist, den sie so ver­ehrt. „Die Stre­cke, die wir zurück­ge­legt hat­ten, war die neue Auf­ga­be: die Suche nach einer eksta­ti­schen Form von Wahrnehmung.“

 

Sich mit gelas­se­ner Geschwin­dig­keit über hell erleuch­te­te, neue Land­schaf­ten bewe­gen: Ist das die Sehn­sucht, oder ist das schon die Form? Ich selbst als Lava­strom bin eigent­lich dazu ver­pflich­tet, die Land­schaft als Form anzu­er­ken­nen, weil ich so flie­ße, wie es das abfal­len­de Ter­rain von mir ver­langt. Aber das passt mir nicht. Bes­ser ich schrei­be wie ein Lava­strom, wäh­rend ich mich selbst über die hell erleuch­te­ten, neu­en Land­schaf­ten bewe­ge, womög­lich sogar schwe­bend, in einem Space­shut­tle. Dadurch, dass alles ins Flie­ßen gerät, weiß ich immer weni­ger, wo ich selbst auf­hö­re und wo die Land­schaf­ten begin­nen. Ich schät­ze aller­dings, dass das Schrei­ben der Über­schnei­dungs­punkt ist. Ein Gerin­nungs­pro­zess, der sich inmit­ten einer unauf­lös­ba­ren Inter­de­pen­denz verwirklicht.

Viel­leicht habe ich des­halb die Euka­lyp­tus­zap­fen auf­ge­ho­ben, um ver­bun­den zu blei­ben mit dem Mount Tamal­pais. Ich mein­te ja, dass es sich unbe­en­det anfühlt. Und ich mein­te, dass ich nicht den Wunsch ver­spür­te, hoch auf den Gip­fel zu gehen. In Rei­se zum Mount Tamal­pais steht: „Bestei­ge die­sen Berg nicht, ehe du weißt, dass er dich braucht.“

 

Joshua Groß, 1989 gebo­ren in Grüns­berg, stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft, Öko­no­mie und Ethik der Text­kul­tu­ren in Erlan­gen. 2019 erhielt er den Anna-Seg­hers-Preis, 2021 wird er mit dem Lite­ra­tur­preis der A und A Kul­tur­stif­tung aus­ge­zeich­net. Zuletzt erschie­nen der Roman Fle­xen in Miami sowie der Essay- und Erzähl­band Ent­kom­men bei Matthes & Seitz Berlin.