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ein Essay von Felicitas Ammermann & Veronika Raila
Brecht, geboren in Augsburg, sorgte bereits im Jugendalter für Aufsehen. In der Schülerzeitung veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er den Patriotismus hinterfragte und sich dem Krieg kritisch gegenüberstellte. Er nahm den Ausspruch von Horaz „Dulce et decorum est pro patria mori.“ („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben“) auf und begegnete diesem offen mit Kritik, weswegen er beinahe der Schule verwiesen wurde. Dies änderte jedoch nichts an seiner Ansicht zu der unvermeidbaren Unmenschlichkeit, welche mit dem Krieg einherging – im Gegenteil: In seinen Werken griff Brecht die Themen Krieg und Frieden immer wieder auf. Schon bald nach dem Notabitur und seinem Studium der Germanistik und der Medizin wurde Brecht zum Dienst als Sanitätssoldat verpflichtet. Der Dienst inspirierte ihn wahrscheinlich zu einem seiner bekanntesten politikkritischen Werke: „Die Legende vom toten Soldaten“. Doch damit war Brechts Feldzug gegen den Krieg bei Weitem nicht zu Ende. Bald zog es ihn nach Berlin, wo er sich als Autor etablierte — gefeiert von den einen, gehasst von den anderen. Seine Flucht begann am Tag nach dem Reichstagsbrand: dem 28. Februar 1933. Sie führte ihn von Berlin nach Prag, dann über Wien nach Zürich, vor Paris machte er Halt im Tessin, dann blieb er fünf Jahre in Dänemark. Über Schweden kam er nach Finnland. 1941 reiste er über Moskau und Wladiwostok in die USA ein. Gleich nach dem Verhör vor dem „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ reiste er nach Zürich. Die Einreise in die amerikanische Besatzungszone wurde ihm untersagt, deshalb ging er 1948 in die sowjetische Besatzungszone nach Ostberlin. Er durfte sich nicht in der Schweiz aufhalten, aber er konnte die österreichische Staatsbürgerschaft erlangen. Nun hatte er zwei Staatsbürgerschaften, die der DDR und die österreichische.
Diese Odyssee ist kennzeichnend für einen Menschen, der zunächst als Vertriebener die Heimat verlassen musste, dann aber als Getriebener der eigenen Arbeit, die Ausdruck seines Suchens war, jederzeit bereit war, den Ort, nicht jedoch den eigenen Standpunkt zu verlassen. Er war auf der Suche nach Gerechtigkeit, auf der Suche nach dem
Recht eines jeden Menschen, als Mensch in seiner Situation (öffentlich) sichtbar zu sein. Deutlich wird das auch in seiner Kurzgeschichte Der Augsburger Kreidekreis (1940). Die Handlung ist schnell erzählt: Zwei Frauen streiten sich um die Mutterschaft eines Kindes. Die leibliche Mutter, die sehr vermögend war, hatte ihr Kind in den Kriegswirren zurückgelassen und ist geflohen, eine Magd nahm den Buben zu sich, und zog ihn auf, als ob er ihr eigenes Kind wäre. Als wieder Recht und Ordnung in Augsburg eingekehrt war, forderte die Frau das Kind zurück, die Magd hatte aber das Kind liebgewonnen, eine Beziehung zu ihm aufgebaut, und wollte es nicht hergeben. Der Anspruch auf das reiche Erbe war ihr egal, sie schlug es aus. Der Richter, als bodenständiger Mann charakterisiert, stellte beide auf die Probe.
“Diese Probe, die jetzt vorgenommen werden wird“, verkündete er, „habe er in einem alten Buch gefunden, und sie gilt als recht gut. Der einfache Grundgedanke der Probe mit dem Kreidekreis ist, daß die rechte Mutter an ihrer Liebe zum Kind erkannt wird. Also muß die Stärke dieser Liebe erprobt werden. Gerichtsdiener, stell das Kind in diesen Kreidekreis!“
Die leibliche Mutter zerrte das Kind aus dem Kreis, ohne Rücksichtnahme auf die körperliche Unversehrtheit des Buben, zu sich her. Die Magd lies das Kind sofort los, weil sie ihm nicht wehtun wollte. Das Kind wurde der Magd zugesprochen.
Brecht geht es hier um Beziehungen, die ursprünglichste Beziehung, die es seit Anbeginn gibt — nämlich die zwischen Mutter und Kind. Brecht formt den Grundgedanken, ja die Grundverbindung der Mutter-Kind-Beziehung zu einem Recht: Er fordert das Recht des Kindes, geliebt zu werden – und zwar unabhängig davon, ob dies mit dem geschriebenen Recht in Einklang steht. Er verlangt ein Recht, das über allem steht: das Menschenrecht.
Oberflächlich betrachtet, widerspricht er diesem humanitären Grundgedanken mit dem Gedicht Von der Kindsmörderin Marie Farrar. In der Kurzgeschichte vom Kreidekreis forderte er das Recht des Kindes auf authentische Mutterliebe. In diesem Gedicht hingegen bittet er um Milde und Nachsicht für die Mörderin. Im Gedicht tötet eine Mutter ihr Kind. Die Gesellschaft und das geltende Recht verurteilten diese Tat. Doch hier beleuchtet Brecht die zweite Seite, nämlich die Umstände, wie es zu dem Mord kam. Er erzählt über die „Kindsmörderin“ Marie:
„Marie Farrar, geboren im April
Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise
Bislang angeblich unbescholten, will
Ein Kind ermordet haben in der Weise:
Sie sagt, sie habe schon im zweiten Monat
Bei einer Frau in einem Kellerhaus
Versucht, es abzutreiben mit zwei Spritzen
Angeblich schmerzhaft, doch ging’s nicht heraus.
Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ (Strophe 1)
Was halten Sie von Marie Farrar? Die Information, dass sie ein Kind ermordet habe, sticht sofort ins Auge und ist letztendlich auch das, was im Zusammenhang mit diesem Namen in Erinnerung bleibt. Damit haben sich die meisten Leute bereits ein Urteil über Marie Farrar gebildet, ohne sich der Umstände bewusst zu werden oder die Begebenheiten zumindest nachzuprüfen. Brecht wusste um diesen „Zorn“ der Gesellschaft, der sich anhand des Kindsmordes ergab – im Gegensatz zu vielen anderen gab er sich damit jedoch nicht zufrieden, sondern ging näher auf die Gegebenheiten ein:
„Man holte sie noch einmal, als sie lag:
Schnee war gefallen und sie mußte kehren.
Das ging bis elf. Es war ein langer Tag.
Erst in der Nacht konnte sie in Ruhe gebären.
Und sie gebar, so sagt sie, einen Sohn.
Der Sohn war ebenso wie andere Söhne.
Doch sie war nicht so wie die anderen, obschon:
Es liegt kein Grund vor, daß ich sie verhöhne.
Auch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ (Strophe 5)
Die Geschichte geht weiter, unser Wissen über den Verlauf des Geschehens wird größer und wir werden uns der Umstände bewusst, unter denen Marie Farrar ihr Kind gebar. Sie ist nicht nur eine Kindesmörderin. Sie ist eine Frau, die den ganzen Tag, hochschwanger und wahrscheinlich unter großen Schmerzen arbeiten musste und sich erst danach zum Gebären zurückziehen konnte. Sie ist eine Frau, die von ihren Lebensumständen dazu gezwungen wurde, das Gebären hinter die Arbeit zu stellen. Was hat Bertolt Brecht also hier getan? Er hat die Geschichte weitererzählt, uns einen Einblick in die Zusammenhänge gegeben und uns dadurch gezwungen, uns mit dem Geschehen tatsächlich zu befassen. Er verlangt Empathie mit der Kindsmörderin, die intuitiv vom Gerechtigkeitssinn des Lesers abgelehnt wird. Dem Rezipienten wird der Komfort verweigert, seine Ansichten von Recht und Gerechtigkeit bestätigt zu bekommen, stattdessen muss er sich mit der sozialen Not einer Mörderin befassen, welche diese erst in die scheinbare Unmenschlichkeit trieb. Genau diese Unmenschlichkeit wird aber relativiert, indem Marie als fleißige, leidende Person gezeigt wird, die sich dem verallgemeinernden Stigma “Mörderin” zunehmend entzieht.
„Marie Farrar, geboren im April
Gestorben im Gefängnishaus zu Meißen
Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will
Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen.
Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten
Und nennt »gesegnet« euren schwangeren Schoß
Wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen
Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß.
Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ (Strophe 9)
In dieser Strophe wird das Mörderstigma durchbrochen und es kommt zu einem Wechsel der Perspektive: Marie wird als Mutter bezeichnet. Er bringt den Leser zum Nachdenken, fragt ihn indirekt: Was halten Sie nun von Marie Farrar? Er fordert ihn zum eigenständigen Denken auf und entfernt ihn somit von der damals allgemein anerkannten Auffassung, dass jede Kindsmörderin abscheulich ist, er bittet um Nachsicht. Er zeigt, dass Marie Hilfe und Schutz gebraucht hätte – und zwar vom Rezipienten. Brecht verweist den Rezipienten auf seine eigene soziale Verantwortung, mit dem Appel, die distanziert-wertende Haltung zu verlassen und selbst aktiv zu werden.
Und ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur bräucht Hilf von allen.
Neun Strophen, neunmal hat der diese Aufforderung an die Mitmenschen geschrieben. Neunmal, damit dies auch wirklich beachtet und gemerkt wird. Er bittet alle, ob des Mordes nicht in Zorn zu verfallen, stattdessen erinnert er sie daran, dass alle Menschen, alle Kreaturen Hilfe benötigen. Er bittet die Menschen, aufeinander zu achten und holt sie aus ihrer Passivität heraus. Sie sollen sich nicht nur mit Respekt, sondern auch mit Hilfsbereitschaft begegnen und ihre eigenen Werte als Mensch und Christ verkörpern.[1]
Dieses Recht eines jeden Menschen auf sein Leben, auf Achtung, Respekt und Liebe, ja das Recht, tatsächlich gesehen zu werden, zieht sich wie ein roter Faden durch Brechts Werke, auch – und zwar gerade dann – wenn sich allgemeine rechtliche und moralische Kategorien hinsichtlich des Individualschicksals dekonstruieren.
In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ zeigt sich Brecht
Echt. Hier steht ein Mensch, unverhüllt, nackt vor dem Gericht, bekennt seine Verfehlungen und bittet um ein mildes Urteil. Ein Urteil, das den Menschen in seiner Not, in seiner Fehlbarkeit anerkennt.
Das lyrische Ich klagt seine Zeit an, benennt die Untaten und bittet um Nachsicht, obwohl es sich allein keine Schuld aufgeladen hat. Vielmehr sieht es eine Gesamtschuld. Das lyrische Ich sieht in seiner Verschonung keinen Verdienst, sondern Glück („Zufällig bin ich verschont“). Doch es denkt immer an die Menschen, denen das Glück versagt wurde („Aber wie kann ich essen und trinken, wenn ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? Und doch esse und trinke ich.“) Es bezieht sich auf die Bibel, um eine Lösung zu finden.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem zu vergelten (Strophe 5)
Hier fordert er die Gewaltfreiheit ein, den Pazifismus und das Zurücknehmen der eigenen Position.
Aber das lyrische Ich gesteht vor sich und der Welt, dass es das nicht kann, es beichtet, dass es nur ein Mensch ist, der nachlässig mit der Zeit umgegangen ist, die auf Erden ihm gegeben war.
Das lyrische Ich und seine Generation wollten den Boden bereiten für Freundlichkeit, und konnten selbst nicht freundlich sein.
Er bittet, in der letzten Strophe:
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht. (Strophe 14)
Wann wird der Mensch dem Menschen ein Helfer sein? Wann wird es sein, dass er nicht mehr des anderen „Wolf“ ist? Führt uns diese Frage nicht in paradiesische Zeiten? Und steht nicht vor dem Paradies das Jüngste Gericht? Das lyrische Ich stellt sich dem Urteil der Nachwelt, bar jeder Ausrede, Fehler eingestehend, und auf Milde hoffend. So wie die Taten am Ende des Lebens gewogen werden, dort wo nur das Echte und Wahre zählt.
Brecht fordert die Menschenrechte ein, er fordert die Hilfsbereitschaft ein, und fordert schließlich die Ehrlichkeit, als Mensch zu seinem fehlbaren Verhalten zu stehen und um Vergebung zu bitten. Was kann aktueller sein als diese Forderungen? Solange oberflächliche Verurteilung und Mangel an Empathie zeitübergreifend sind, sind es auch Brechts Aufrufe.
Heute verbreiten sich die Nachrichten, Tränen tropfen auf das Gedicht vom toten Soldaten.
[1] Es wird des Öfteren die Frage gestellt, ob Brecht nicht ein zweifelnder Atheist oder vielleicht doch eher im tiefsten Herzen ein skeptischer Protestant war. Es gilt als erwiesen, dass Brecht mit der Religion bzw. der Kirche als solches nur politischen Machtanspruch verband. Dass er sich aber mit der Bibel und den Geschichten auseinandersetzte, gilt ebenfalls als wissenschaftlich erwiesen. Hier verband sich der ethischen Grundanspruch des Christentums mit dem humanitären Anspruch des Abendlandes. Vgl.: Bertolt Brecht und die Religion: Die Bibel als Geschichtenbuch (ekiba.de)
Veronika Raila, 1992 in Augsburg geboren musste schon immer alles aufschreiben, was sie zu sagen hatte. Nach einer verkürzten Gymnasialzeit fing sie an der Uni Augsburg an, Neuere deutsche Literaturwissenschaften und katholische Theologie zu studieren. Bald gab es auch erste Veröffentlichungen und Preise für ihr Schreiben (Medienecho & Preise). Nach der Bachelorarbeit widmete sie sich voll und ganz ihrem autobiographischen Film „Das Sandmädchen“, der Preise in der Kurzversion und einige in der Langversion (Sandmädchen – Ein Dokumentarfilm von Mark Michel und Veronika Raila) erhielt. Danach kehrte sie an die Uni zurück, um ihre Studien fortzusetzen. Literarisch sind ihre Arbeiten meist im phantastischen Realismus anzusiedeln. Kafka hat sie immer unglaublich inspiriert, daneben Botho Strauß und die Lektüre der mittelalterlichen Heldengeschichten. Sollte sie einmal nicht schreiben oder lesen, frönt sie dem Malen, dem Malen ihrer inneren Bilder.
Felicitas Ammermann, geboren 1998 in Ulm, studiert Franko-Romanistik und Germanistik an der Universität Augsburg. Im Zentrum ihrer Arbeiten steht die Wissenschaft der Deutschen und französischen Literatur. Neben literarischen Werken wie denen Franz Kafkas und F. Scott Fitzgerald‘s faszinieren sie besonders Schriften aus dem philosophischen und theologischen Bereich