Brian Clegg: Vor dem Urknall

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von Jen­ni­fer Scholz

Bri­an Clegg legt mit sei­nem Werk Vor dem Urknall ein wis­sen­schaft­lich fun­dier­tes Buch vor, das es schafft, auch den phy­si­ka­li­schen Lai­en in die fas­zi­nie­ren­de Welt die­ses Fachs zu ent­füh­ren. Der Ver­fas­ser nimmt den Leser — wie der Unter­ti­tel des Buches bereits ver­spricht – mit auf eine Rei­se hin­ter den Anfang der Zeit. Doch nicht nur das: Vor dem Urknall ver­schafft zusätz­lich einen Ein­blick in das Leben und Wir­ken der bekann­tes­ten und bedeu­tends­ten Physiker.

Mit leicht ver­ständ­li­cher Spra­che, die sich zahl­rei­cher amü­san­ter Ver­glei­che und anschau­li­cher Bei­spie­le bedient, bringt Clegg dem inter­es­sier­ten Leser die Welt der Phy­sik näher. Er beginnt – wie soll­te es anders sein – mit der all­seits bekann­ten Urknall-Theo­rie des bel­gi­schen Pries­ters Geor­ges Lemaît­re, die anfangs wohl des­we­gen nur wenig Zustim­mung fand, weil „die meis­ten Leu­te glaub­ten, Bel­gi­en habe nun wirk­lich nichts zu bie­ten außer Pom­mes Fri­tes und guter Scho­ko­la­de. Und sein Pries­ter­tum kam Lemaît­re in einer zuneh­mend athe­is­ti­schen oder agnos­ti­schen Wis­sen­schafts­ge­mein­de eben­so wenig zugu­te“ (S. 12). Auch bei der Erklä­rung zur Ste­ady-Sta­te-Theo­rie, die von Fred Hoyle als Alter­na­ti­ve zum Urknall ent­wi­ckelt wur­de, behält Clegg sei­ne fröh­lich, fri­sche Erzähl­wei­se bei. Es scheint an Iro­nie zu gren­zen, dass genau jener Wis­sen­schaft­ler, der die „Kon­kur­renz­theo­rie“ zu Lemaî­tres auf­stell­te, der Namens­ge­ber der Urknall­theo­rie sein soll­te. „Zuvor wur­de das, was wir heu­te den Urknall nen­nen, als dyna­mi­sches Uni­ver­sum oder dyna­mi­sches Ent­wick­lungs­mo­dell bezeich­net“ (S. 12).

Er paart durch­ge­hend Wis­sens­über­tra­gung mit Lese­spaß, was es dem Leser leicht macht, die von ihm behan­del­ten Inhal­te auf­zu­neh­men und zu ver­ste­hen. Auch wenn man bis dato noch kei­ne enge Ver­bin­dung zum Fach Phy­sik pflegte.

Dabei ver­nach­läs­sigt der Autor auch die Gegen­über­stel­lung von Reli­gi­on und Wis­sen­schaft nicht. Er geht in die­sem Kapi­tel unter ande­rem auf den Anfang der grie­chi­schen Mythen ein. Dort stand ein chao­ti­scher Zustand – ein „lee­rer Raum“.

„In die­ser Lee­re [befand sich] ein Vogel namens Nyx, der ein gol­de­nes Ei
leg­te, aus dem Eros, der Gott der
Lie­be her­vor­ging. Die zwei Hälf­ten der
Scha­le wur­den zu Him­mel und Erde –
Ura­nos und Gaia -, die wie­der­um die
nächs­te Gene­ra­ti­on von Göt­tern – die
Tita­nen – her­vor­brach­ten“
(S. 20).

Sol­che mytho­lo­gi­schen Exkur­se erleich­tern es dem Leser, dem Geschrie­be­nen kon­zen­triert zu fol­gen. Sie sind eine will­kom­me­ne Abwechs­lung zum phy­si­ka­li­schen Fak­ten­wis­sen, das – ohne jene Abste­cher in die Mytho­lo­gie – leicht ermü­dend wir­ken und somit den Lai­en über­for­dern könnte.

Eine wei­te­re wich­ti­ge Fra­ge, die Clegg zu beant­wor­ten ver­sucht, ist die nach dem Beginn der Zeit­mes­sung oder bes­ser gesagt – dem Beginn der Zeit. Er geht hier­für auf die Bekennt­nis­se des hei­li­gen Augus­ti­nus von Hip­po ein. Die­ser war näm­lich – wie Albert Ein­stein — der Mei­nung, dass Zeit untrenn­bar zum Raum gehö­re. „Und wenn die Zeit vor der Schöp­fung nicht exis­tier­te, mach­te es kei­nen Sinn, wenn Gott her­um­saß und auf irgend­ei­nen belie­bi­gen Augen­blick war­te­te, um mit der Schöp­fung anzu­fan­gen. Vor der Schöp­fung gab es ein­fach nur Gott, weder Zeit noch Raum“ (S. 202). Die­se Theo­rie soll­te uns auch in unse­rer heu­ti­gen Zeit zum Grü­beln brin­gen. Gibt es über­haupt eine Ver­gan­gen­heit? Oder ist die Ver­gan­gen­heit ledig­lich ein Kon­strukt aus unse­ren – meist feh­ler­haf­ten – Rück­bli­cken? Clegg schafft es, mit ein­fa­chen Bei­spie­len aus dem All­tag eine Lösung anzubieten:

„Vor kur­zem erhielt ich die E‑Mail eines Freun­des, der sag­te, er habe
mich mit mei­nem Hund spa­zie­ren gehen
sehen und ich hät­te dabei mit dem
Han­dy tele­fo­niert. Ich wuss­te, das
konn­te nicht stim­men, ers­tens, weil
ich an die­sem Nach­mit­tag nicht mit dem
Hund drau­ßen gewe­sen war, und
zwei­tens, weil ich nie das Tele­fon
mit­neh­me, wenn ich mit dem Hund
raus­ge­he“
(S. 203).

So ist „die Ver­gan­gen­heit […] nichts wei­ter als eine Ket­te von Erin­ne­run­gen“ (S. 203). Dabei ist es egal, ob die­se der Wahr­heit ent­spre­chen oder ledig­lich Teil unse­rer Fan­ta­sie sind.

Eben­so kom­pli­ziert ver­hält es sich mit der Zukunft. Clegg zeigt auf, dass die Zukunft ledig­lich „eine Ansamm­lung von Wahr­schein­lich­kei­ten“ (S. 204) ist. Zur Ver­deut­li­chung bringt er an, dass es, wenn eine Per­son in der Nacht stirbt, für die­se Per­son kein Mor­gen gäbe – also auch kei­ne Zukunft. Die­se Über­le­gun­gen, die zum Nach­den­ken anre­gen, wer­den durch anschau­li­che Bei­spie­le deut­lich gemacht, die den Leser zu wei­te­ren Denk­pro­zes­sen anregen.

Eben­so erfolg­reich schafft es Bri­an Clegg, die Erklä­run­gen wis­sen­schaft­li­cher Begriff­lich­kei­ten mit ein­fa­chen und humor­vol­len Ver­glei­chen an den Leser zu brin­gen. So erklärt er die vier­te Dimen­si­on, indem er den Leser dazu auf­for­dert, sich sei­ne Per­son in einem Comic aus­zu­ma­len. „Nun stel­len Sie sich vor, irgend­je­mand in der drei­di­men­sio­na­len Welt hebt eine der Figu­ren aus Ihrer Illus­tra­ti­on im Comic her­aus und setzt sie in einem ande­ren Bild wie­der ab“ (S. 221). Eben­so wür­de es sich mit etwas ver­hal­ten, was sich in unse­rem Uni­ver­sum in einer vier­ten Dimen­si­on bewe­gen würde.

Auch geht Clegg in sei­nem Buch dar­auf ein, wie schwer es für die Men­schen ist, sich mit dem Phä­no­men Zufall zu arran­gie­ren. Was, wenn die Ent­ste­hung des Uni­ver­sums rei­ner Zufall gewe­sen wäre? Für vie­le wür­de dies eine unbe­frie­di­gen­de Erklä­rung dar­stel­len, da der Mensch „ein fal­sches Ver­ständ­nis des Zufalls“ (S. 255) hat. Er bringt als Bei­spiel zwei Lot­to­zie­hun­gen an, bei der ein­mal die Zah­len 24, 39, 6, 41, 17, 29 gezo­gen wer­den und das nächs­te Mal die Zah­len 1, 2, 3, 4, 5, 6. Clegg nimmt an, dass bei der zwei­ten Zie­hung von Sabo­ta­ge aus­ge­gan­gen wer­den wür­de. Er erklärt dies so, dass „unse­re Gehir­ne […] blind gegen­über Wahr­schein­lich­kei­ten sind“ (S. 257). Jedoch macht er dem Leser unmiss­ver­ständ­lich klar, dass die Wahr­schein­lich­keit der zwei­ten Zie­hung eben­so hoch liegt, wie die der ers­ten Ziehung.

Clegg arbei­tet durch­ge­hend mit erfri­schen­den Erklä­run­gen, die mit einem Augen­zwin­kern ver­stan­den wer­den müs­sen. Er lässt kei­ne phy­si­ka­li­schen Grund­be­grif­fe unge­klärt, sodass der Leser das Buch am Ende mit Wis­sen über schwar­ze und wei­ße Löcher, Wurm­lö­cher, Ato­me, etc. zur Sei­te legt. Auch die Namens­ge­bung von Ster­nen wird erläutert.

Auf 352 Sei­ten gibt der Autor einen Crash­kurs in Sachen Phy­sik. Zwar ist es für den Lai­en nicht immer leicht, den Inhal­ten und Erklä­run­gen zu 100 Pro­zent zu fol­gen, jedoch ist es dem Ver­fas­ser gelun­gen, ein Werk zu schaf­fen, das einen umfas­sen­den Über­blick über frü­he­re und der­zeit gül­ti­ge Theo­rien über die Ent­ste­hung des Uni­ver­sums gibt.

Ob jeder Leser mit dem Ergeb­nis des Buches zufrie­den­ge­stellt wer­den kann, ist frag­lich. Dies liegt jedoch nicht an Bri­an Clegg. Das könn­te viel­mehr dar­an lie­gen, dass man sich durch vie­le, vie­le Sei­ten phy­si­ka­li­schen Grund­kur­ses und his­to­ri­schen Über­blicks über Phy­si­ker kämpft und doch kei­ne ein­deu­ti­ge Ant­wort auf die Fra­gen aller Fra­gen bekommt: Woher kommt unser Uni­ver­sum? Sie bleibt unbe­ant­wor­tet. Es wird wohl auch noch eini­ge Zeit dau­ern, bis sie ein­deu­tig geklärt wer­den kann. Viel­leicht wird dies auch nie­mals der Fall sein. Denn „im Ver­gleich zu den meis­ten Wis­sen­schaf­ten lei­det die Kos­mo­lo­gie am feh­len­den expe­ri­men­tel­len Ansatz. Es wird nie mög­lich sein, Expe­ri­men­te durch­zu­füh­ren, jeden­falls nicht mit dem Uni­ver­sum als Gan­zem unter kon­trol­lier­ten Bedin­gun­gen und mit ver­wert­ba­ren Ergeb­nis­sen“ (S. 99).

Doch was macht das schon, wenn man statt­des­sen — oder bes­ser gesagt: nur des­we­gen – ein Buch wie Vor dem Urknall vor­ge­legt bekommt, dass die vor­han­de­nen Theo­rien so ange­nehm und sprit­zig an den Leser bringt, dass es gegen­wär­tig zweit­ran­gig ist, woher das Uni­ver­sum kommt? Viel­leicht bekom­men wir irgend­wann in der Zukunft eine end­gül­ti­ge Ant­wort – wenn es sie denn gibt.

Bri­an Clegg: Vor dem Urknall. Eine Rei­se hin­ter den Anfang der Zeit
Rowohlt Taschen­buch Ver­lag 2013
352 Sei­ten