Christoph Ransmayr — Der fliegende Berg (1)

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von Jas­min Siebert 

„Ich starb 6840 Meter über dem Mee­res­spie­gel am vier­ten Mai im Jahr des Pferdes.”

Wenn Sie ein sol­cher Roman­an­fang nicht dazu bringt, das Buch sofort wie­der aus der Hand zu legen, dann ent­führt Chris­toph Rans­mayr Sie in sei­nem neus­ten Roman Der flie­gen­de Berg in eine fremd­ar­tig-fas­zi­nie­ren­de Hoch­ge­birgs­land­schaft in Ost­ti­bet. Zwei iri­sche Brü­der machen sich nach jah­re­lan­ger Vor­be­rei­tung auf den Weg, einen in der west­li­chen Welt bis­her unbe­kann­ten und namen­lo­sen Berg im Transhi­ma­la­ya zu suchen. Im Tross eines Noma­den­stam­mes, der nach geeig­ne­ten Wei­de­plät­zen für sei­ne Yaks sucht, kom­men die Brü­der durch die Hoch­land­ebe­nen Khams immer näher zu ihrem Ziel: dem Phur-Ri, dem flie­gen­den Berg.

 

Die im Fol­gen­den prä­sen­tier­te Rezen­si­on ent­stand im Rah­men der von Dr. Evi Zema­nek an der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg ange­bo­te­nen Übung “Rezen­sio­nen schrei­ben”. Zum Zweck einer kon­tras­ti­ven Beleuch­tung der bespro­che­nen Neu­erschei­nun­gen eben­so wie zur Demons­tra­ti­on ver­schie­de­ner kri­ti­scher Betrach­tungs­wei­sen sind je zwei von Stu­den­tIn­nen ver­fass­te Rezen­sio­nen ein­an­der gegenübergestellt.

Fliegende Buchstaben

Nye­ma, die als Ein­zi­ge ihres Stam­mes der eng­li­schen Spra­che mäch­tig ist, erzählt dem Ich-Erzäh­ler Pádriac — des­sen Name der Leser aber erst gegen Ende des Romans erfährt — in den tibe­ti­schen Sagen um das Hoch­ge­bir­ge. Die Men­schen glau­ben, dass die Ber­ge fort­flie­gen kön­nen und um sie dar­an zu hin­dern, wol­len sie die­se mit Gebets­fah­nen und ein­ge­mei­ßel­ten Man­tras auf der Erde fest­hal­ten. Sterb­lich­keit und Tod sind zen­tra­le Moti­ve im Roman und am Ende wird auch nur einer der Brü­der aus den Ber­gen zurückkehren.

Manch einer mag bei die­sen Wor­ten viel­leicht an die Tra­gö­die um Rein­hold Mess­ner und sei­nen Bru­der Gün­ther den­ken, der 1970 beim gemein­sa­men Abstieg vom Nan­ga Par­bat in Paki­stan ums Leben kam und wobei noch vie­le Jah­re spä­ter vor Gericht über Schuld­zu­wei­sun­gen gestrit­ten wur­de. Der Roman nimmt das Motiv der mit Rans­mayr befreun­de­ten Berg­stei­ger-Brü­der auf und ver­ar­bei­tet es auf kunst­vol­le Weise.

Die Rei­se des unglei­chen Bru­der­paars ist aber nur eine Ebe­ne der Erzäh­lung, die immer wie­der von Pádriacs Kind­heits­er­in­ne­run­gen durch­bro­chen wird. Es sind Sprü­che wie „Schiß­tra­la­la” aus Liams Mund, die Pad stets aufs Neue an „Cap­tain Dad­dy”, der als Mit­glied der Mari­ne Res­cue der iri­schen Armee sei­ne Söh­ne mit mili­tä­ri­schem Geha­be auf erzwun­gen Berg­tou­ren züch­tig­te, erinnern.

Das Mosa­ik der ver­gan­ge­nen Erleb­nis­se fügt sich letzt­lich zu einer Lebens­ge­schich­te zusam­men, die irgend­wann ver­schwin­det, davon­fliegt. Des­halb muss sie fest­ge­hal­ten wer­den, denn die Schrift sei eine Art Arz­nei gegen die Sterb­lich­keit, meint Nye­ma, die in ihrem Clan als Him­mels­göt­tin gilt — die Schrift­zei­chen blei­ben erhal­ten, selbst wenn der, der sie hin­ter­las­sen hat, schon längst tot ist.

Dass Buch­sta­ben nicht nur auf Gebets­fah­nen im Wind flie­gen kön­nen, beweist die­ser Roman. Es ist eine Novi­tät in der deut­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur, dass das Druck­bild eines kom­plet­ten Romans nicht zen­triert ist, son­dern sich im frei­en Flat­ter­satz bewegt. Gewöh­nungs­be­dürf­tig ist das schon, wenn nach jedem Kom­ma oder auch ein­fach will­kür­lich mit­ten im Satz ein Zei­len­um­bruch ist und so eine Zei­le sich über eine gan­ze Sei­te hin­weg zieht.

Doch nach den Anfangs­stra­pa­zen ist der Leser mit dem frei­en Satz ver­traut und fliegt den dahin­flie­hen­den Buch­sta­ben hin­ter­her. Die lan­gen Sät­ze, die mit vie­len Ein­schü­ben und Red­un­dan­zen die kar­ge Hoch­ge­birgs­land­schaft in ihrer Schön­heit beschrei­ben, sind durch die­sen flie­gen­den Satz ein­fa­cher les­bar und auch die teils poe­ti­sche, bild­rei­che Spra­che kommt so bes­ser zur Gel­tung. Trotz der ein­ge­streu­ten Fach­be­grif­fe aus Meteo­ro­lo­gie, Geo­gra­phie und Berg­sport wird auch der­je­ni­ge, dem die­ses Metier fremd ist, sich ger­ne von die­sem Roman aus sei­nem All­tag davon­tra­gen las­sen, in eine Yak­but­ter­milch-war­me Welt im kal­ten Schnee.

Frei­lich wird die Gren­ze des Kit­sches dabei oft nur haar­scharf umgan­gen und vor allem die Lie­bes­ge­schich­te, die sich zwi­schen Pad und Nye­ma ent­spannt, schwingt sich manch­mal in tran­szen­den­ta­le Höhen der Gefühls­mä­ßig­keit hin­auf, die man von einem männ­li­chen Autor so gar nicht erwar­ten wür­de. Aber viel­leicht liegt das an der dün­nen Luft, die sen­ti­men­tal wer­den lässt, und so kom­men sich auf dem Weg zum Gip­fel des Phur-Ri auch die ent­frem­de­ten Brü­der wie­der näher. Was sie ver­bin­det, sind nun nicht mehr die aus der gemein­sa­men, längst ver­gan­ge­nen Kind­heit gespeis­ten Erin­ne­run­gen, son­dern ein inten­si­ves Erle­ben im Hier und Jetzt:

„Es gab nur noch

die­ses undurch­dring­li­che, heu­len­de Weiß,

einen Nadel­sturm und ein­ge­schlos­sen darin,

ver­lo­ren dar­in unser Zelt

und gefan­gen darin,

Liam und ich.”