von Melanie Zipf
Claudia Rusch lässt kaum ein Thema, Klischee und Vorurteil unkommentiert stehen. Mal schreibt sie bewegend über den Tod des Großvaters in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit und die lange verschobene Auseinandersetzung mit diesem, ein anderes Mal bieten die Essgewohnheiten in der DDR den Aufhänger für ihre Geschichten und persönlichen Erfahrungen.
Selskochosjaistwennui praiswodstwennui kooperativ (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) ist eine der im alltäglichen Sprachgebrauch wenig nützlichen Vokabeln, die Claudia Rusch aus Ihrem Russischunterricht in der DDR mitgenommen hat. Unter dem Motto ‚Kommunikation unerwünscht’ stand aber nicht nur ihr Unterricht, der sie mit konversationsunfreundlichen Vokabeln und Themen versorgte. Zwar angehalten mit den sowjetischen Genossen eine Brieffreundschaft zu pflegen, unterband aber das kleine Bändchen Briefe an Freunde- Arbeitsmittel für den russischsprachigen Schüleraustausch schon jede ernsthafte Form von Austausch. Jegliche Information, die über vorgefertigte Sätze wie „Meine Mutter trug eine Pappnase” aus dem Kapitel „Feste und Bräuche” der staatlich verordneten Briefvorlage hinaus ging, erreichte kaum den Empfänger. Drohte nun der kontrollierte Briefwechsel gar in ein persönliches Treffen auszuarten, wusste man dies geschickt zu unterbinden.
Die kurzweilige Anekdote über die Absurditäten des deutsch-demokratischen Russischunterrichts, Brieffreundschaften und nicht vorhandenen Realkontakt mit den sowjetischen Mitstreitern ist lediglich eine von 15 kurzen Geschichten aus Claudia Ruschs Osterfahrungssammlung. Angelehnt an die 15 willkürlich eingeteilten Bezirke der ehemaligen DDR, sammelt Rusch in ihrem Erzählband „Aufbau Ost- Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau” Erinnerungen an ihre Jugend und verstrickt sie mit Erlebnissen nach der Wende.
So wie sich die russische Sprache in das Gedächtnis der Autorin gebrannt hat, heute partiell immer wieder hervorbricht, aber für richtige Konversation nie zu gebrauchen war, scheinen auch ihre autobiographischen Rückblicke zu funktionieren. Kleinigkeiten, wie eine Fliegenklatsche, die die 20 Jahre seit dem Mauerfall unbeschadet überstanden hat, bietet z.B. Anlass genug über tiefergehende Strukturen, Denkmuster und alte deutsch-demokratische Relikte zu sinnieren. Die fragmentarischen Erzählungen, die ebenso wahllos geordnet erscheinen wie die Gebietsaufteilung der DDR, wechseln thematisch zwischen Bürgel-Geschirr und Republikflucht, Stullen und Stasi, Ampelmännchen und Städteverfall.
Claudia Rusch lässt kaum ein Thema, Klischee und Vorurteil unkommentiert stehen. Mal schreibt sie bewegend über den Tod des Großvaters in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit und die lange verschobene Auseinandersetzung mit diesem, ein anderes Mal bieten die Essgewohnheiten in der DDR den Aufhänger für ihre Geschichten und persönlichen Erfahrungen.
Für ostalgische Anwandlungen hat sie keinen Platz, für die Kritik derselben aber umso mehr. Sie schreibt mit dem kritischen Blick einer Person, die ihr halbes Leben hinter der sicheren Mauer des Ostens verbracht hat, nun aber auch schon die gleiche Zeit im wiedervereinten Deutschland lebt. Alte Erfahrungen und Fragen mischen sich in „Aufbau Ost” mit neuen Eindrücken und zeichnen so ein Bild von Veränderung und gleichzeitigem Stillstand. Für den Stillstand stehen die demographischen Eigenheiten der ehemaligen DDR, alte Städte und alte Vorurteile, die immer noch bestehen, für die Veränderung, Aufarbeitung, Aufklärung und die Rückkehr des Ostampelmännchens.
Nach knapp 200 Seiten führt uns Ruschs Reisebericht zurück nach Berlin. An den Ort, wo sich die wiedervereinten Landeskinder, wie sonst nirgends, miteinander konfrontiert sehen. Am Ende steht kein Fazit, keine abgeschlossene Geschichte, sondern eine Zusammenschau von 20 Jahren mal mehr, mal weniger intensiver Begegnung zwischen Ost und West und einer ehemaligen DDR Bürgerin mit ihrer Vergangenheit.
Doch „egal wie eine solche Konfrontation aussieht oder endet — sie bringt einen immer weiter.”
Claudia Rusch: Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau. S.Fischer 2009.