Daniel Alarcón — Lost City Radio

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von Caro­lin Hensler

Lost City Radio — die­se drei Wor­te sind ein Appell. Sie ste­hen für die Auf­ar­bei­tung der Geschich­te eines trau­ma­ti­sier­ten Lan­des, für den Kampf gegen das Ver­drän­gen, das Ver­ges­sen und für den ver­zwei­fel­ten Ver­such einer Bevöl­ke­rung, mit ihrem Leid umzugehen.

Wor­an dach­te Dani­el Alar­cón, als er den Titel Lost City Radio für sei­nen Roman wähl­te? Ver­birgt sich eine Absicht hin­ter die­sen drei Wor­ten? Soll­te die Geschich­te eines ver­schol­le­nen Kof­fer­ra­di­os auf­ge­deckt oder gar die Ver­gan­gen­heit einer ver­lo­re­nen Stadt und ihres ein­zi­gen Radio­sen­ders ent­hüllt wer­den? Was bedeu­tet Lost? Bezieht Alar­cón sich damit auf eine Stadt, auf ein Rund­funk­ge­rät oder auf die Mensch­heit im Gan­zen? Was, wenn sei­ne Titel­wahl alle drei Mög­lich­kei­ten umschließt? Viel­leicht steckt aber auch eine ganz ande­re Bot­schaft dahin­ter, und die drei ver­meint­lich harm­lo­sen Wor­te ste­hen für etwas weit­aus Grö­ße­res, All­um­fas­sen­des. Für etwas, das gegen das Ver­ges­sen ankämpft, in einem Land, das sich selbst vor lan­ger Zeit ver­lo­ren hat …

In sei­nem Roman Lost City Radio ent­führt der in Peru gebo­re­ne Dani­el Alar­cón sei­ne Leser in ein von Bür­ger­krieg zer­rüt­te­tes Land und des­sen Haupt­stadt, die von der Gewalt der jah­re­lan­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen schwer gezeich­net ist. Im Fokus der Geschich­te steht die jun­ge Radio­mo­de­ra­to­rin Nor­ma. In ihrer Sen­dung Lost City Radio nimmt sie die Hil­fe­ge­su­che ver­zwei­fel­ter Bür­ger ent­ge­gen, die selbst noch zehn Jah­re nach Ende des Krie­ges nach ver­schol­le­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen suchen. Ihre Stim­me ver­leiht dem Land Hoff­nung, durch ihre uner­schüt­ter­li­che Prä­senz, ihren Opti­mis­mus, wird sie schnell zur Mut­ter der Nati­on sti­li­siert. Nor­mas müh­sam auf­recht erhal­te­ne Welt gerät jedoch ins Wan­ken, als ein Jun­ge aus dem Dschun­gel mit einer Lis­te vol­ler Namen von Ver­schwun­de­nen und Toten im Sen­der auf­taucht. Auf die­ser Lis­te befin­det sich auch der Name von Nor­mas seit Kriegs­en­de ver­schol­le­nem Ehe­mann Rey. Gemein­sam mit dem Jun­gen, Vik­tor, begibt sich Nor­ma in einer drei­tä­gi­gen Rei­se durch die Stadt auf die Suche nach der Ver­gan­gen­heit ihres Man­nes und letzt­end­lich ihrer eige­nen und sieht sich schließ­lich vor eine lebens­ge­fähr­li­che Ent­schei­dung gestellt.

Dani­el Alar­cón ent­wirft mit Lost City Radio das Por­trät eines Lan­des, das sich nach der Zer­rüt­tung durch einen lan­gen, uner­bitt­li­chen Krieg ohne kla­re Fron­ten wie­der­zu­fin­den ver­sucht. Anhand der Cha­rak­te­ri­sie­rung ver­schie­de­ner Figu­ren, deren in Frag­men­ten dar­ge­stell­tes Leben der Leser im Ver­lauf des Romans ver­folgt, gelingt es ihm, ein scho­nungs­los ehr­li­ches Bild der poli­ti­schen Gescheh­nis­se zu zeich­nen. Die Radio­mo­de­ra­to­rin Nor­ma wird ihrem Ehe­mann Rey hier­bei als den Ereig­nis­sen unter­wor­fe­ner Gegen­part gegen­über­ge­stellt, wäh­rend Rey selbst als akti­ver Unter­grund­kämp­fer mit Dop­pel­le­ben eben­je­ne mit­zu­ver­ant­wor­ten hat. Der Roman ist von der Suche einer jun­gen Frau nach der wah­ren Ver­gan­gen­heit ihrer gro­ßen Lie­be bestimmt, einem Mann, den sie zu ken­nen glaub­te, bevor sie durch Vik­tors Ein­bruch in ihr Leben mit der Rea­li­tät kon­fron­tiert wird. Wer war Rey? Das ist die gro­ße Fra­ge, die Alar­cón ins Zen­trum des Romans stellt. Wel­che Rol­le spiel­te er für den Krieg, wel­che für Nor­mas Leben? In frag­men­ta­ri­schen Rück­blen­den geht Alar­cón den Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen nach und deckt nach und nach die erschüt­tern­den Lebens­ge­schich­ten einer Rei­he von Figu­ren auf, allen vor­an die Nor­mas, ihres Ehe­manns Rey und des klei­nen Jun­gen aus dem Dschun­gel, Vik­tor, der auf geheim­nis­vol­le Wei­se mit den Gescheh­nis­sen ver­bun­den zu sein scheint.

Lost City Radio — die­se drei Wor­te sind ein Appell. Sie ste­hen für die Auf­ar­bei­tung der Geschich­te eines trau­ma­ti­sier­ten Lan­des, für den Kampf gegen das Ver­drän­gen, das Ver­ges­sen und für den ver­zwei­fel­ten Ver­such einer Bevöl­ke­rung, mit ihrem Leid umzu­ge­hen. Alar­cóns Spra­che ist nüch­tern, unbe­tei­ligt. Doch gera­de die­se Ste­ri­li­tät lässt die Dia­lo­ge, Schil­de­run­gen und nicht zuletzt die Figu­ren erschüt­ternd leben­dig wir­ken. Sein Stil ist ein­dring­lich, sein Roman die stil­le Ankla­ge gegen ein Regime.