Das Leben fing im Sommer an – Wenn Fußball zur Nebensache wird

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© Kie­pen­heu­er & Witsch

von Nina Gretschmann

„Die Lie­be ver­steht man erst, wenn sie mal da war“, hat­te mei­ne Mut­ter ein­mal zu mir gesagt. Ich glau­be, sie war jetzt da. Aber sicher war ich mir nicht.

 

Es ist der Som­mer 2006. Fragt man die Men­schen in Deutsch­land, was sie mit dem Som­mer 2006 ver­bin­den, wür­den ver­mut­lich eini­ge ant­wor­ten: die Fuß­ball-WM im eige­nen Land. Vier Wochen, in denen gefühlt 80 Mio. auf ein Som­mer­mär­chen hoff­ten und davon träum­ten, im eige­nen Land Welt­meis­ter zu wer­den. Mit Hoff­nun­gen und Träu­men ist das aller­dings so eine Sache. Sie ani­mie­ren uns, ermu­ti­gen und beflü­geln uns – auf der einen Sei­te. Gleich­zei­tig kön­nen sie uns in den Abgrund rei­ßen, wenn sie plat­zen. Das klingt sehr pathe­tisch und passt daher gut zu Chris­toph Kra­mers Debüt­ro­man Das Leben fing im Som­mer an.

An dem 1991 in Solin­gen gebo­re­nen Kra­mer kommt man in Deutsch­land nicht so leicht vor­bei. 2014 wur­de er mit der deut­schen Natio­nal­mann­schaft in Bra­si­li­en Welt­meis­ter, er ist als Fuß­ball­ex­per­te für das ZDF sowie Prime Video tätig, wes­we­gen er in der Fuß­ball­b­la­se dem Groß­teil bekannt sein soll­te. Auch abseits des Plat­zes dürf­ten ihn ein paar ken­nen, denn sei­ne sym­pa­thi­sche und für einen Fuß­bal­ler eher unkon­ven­tio­nel­le Art eilt dem wort­ge­wand­ten Mann mit den mar­kant ein­präg­sa­men blau­en Augen vor­aus. Ein Video, in wel­chem er letz­tes Jahr sei­nen Abschied von sei­nem lang­jäh­ri­gen Ver­ein Borus­sia Mön­chen­glad­bach und damit auch vom Pro­fi­fuß­ball bekannt gab, ver­brei­te­te sich weit­läu­fig, da Kra­mer in die­sem öffent­lich wein­te und als Mann Gefüh­le zeig­te – in der mas­ku­lin gepräg­ten Welt des Män­ner­fuß­balls eine Sel­ten­heit. Kra­mer stand als Fuß­bal­ler zu sei­nen Emo­tio­nen und tut es auch als Autor.

Wäh­rend er sich auf­grund einer im End­spiel zuge­zo­ge­nen Kopf­ver­let­zung nicht mehr an das WM-Fina­le in Bra­si­li­en erin­nern kann, ist ihm eine Zeit sei­nes Lebens beson­ders leb­haft in Erin­ne­rung geblie­ben: der Som­mer 2006 – nicht, wegen der Heim-WM, wie man ver­mu­ten könn­te, son­dern auf­grund sei­ner ers­ten Lie­be: Debbie.

Das Leben fing im Som­mer an erzählt aus­führ­lich von drei auf­ein­an­der­fol­gen­den Juni­ta­gen aus dem Leben des 15-jäh­ri­gen Ich-Erzäh­lers Chris­toph Kra­mer. Bay­er Lever­ku­sen hat­te ihn zwei Wochen zuvor aus­sor­tiert, für ihn wür­de es fuß­bal­le­risch erst­mal in Düs­sel­dorf wei­ter­ge­hen müs­sen, was ihn von sei­nem Traum, Pro­fi zu wer­den, ent­fernt. Die WM wird zwei Wochen spä­ter star­ten, die Vor­freu­de ist groß und den­noch ist in Kra­mers Roman, die bekannt­lich schöns­te Neben­sa­che der Welt, wirk­lich nur neben­säch­lich. Es geht viel­mehr um die ers­ten roman­ti­schen Gefüh­le, die man, in die­sem Fall Kra­mer, für eine ande­re Per­son hegt. Debbie heißt sei­ne Aus­er­wähl­te, das schöns­te Mäd­chen der Schu­le, die nach Regen an einem war­men Som­mer­tag duf­tet – an Super­la­ti­ve sowie pathe­ti­schen Ver­glei­chen und Aus­sa­gen man­gelt es nicht.

„Ein tri­um­phie­ren­des Gefühl über­nahm mei­nen Kör­per. Ich spür­te es. In die­sem Augen­blick am 02.06.06 um 23.23 Uhr hat­te ich, Chris­toph Kra­mer, end­lich mei­ne ers­te Freun­din gefun­den. Ich schau­te hoch Rich­tung Him­mel. Da wo eben noch Rauch­schwa­den gewe­sen waren: Ster­ne. Hier fing das Leben an. Hier um 23.23 Uhr. In die­ser Nacht, im wärms­ten Som­mer der Geschichte.“

Gro­ße Wor­te, die man ver­mut­lich nur fühlt, wenn man jung ist und alles zum ers­ten Mal emp­fin­det. Der Groß­teil des Romans liest sich sodann auch wie die heu­te befremd­lich erschei­nen­den eige­nen puber­tä­ren Tage­buch­ein­trä­ge – sofern man denn Tage­buch geführt hat. Kurz taucht man beim Lesen noch ein­mal ein, erin­nert sich, wie es war – damals in der Jugend, in die­ser Zeit, in der man von Unsi­cher­hei­ten geplagt war, alle ande­ren coo­ler, hüb­scher, belieb­ter oder selbst­be­wuss­ter waren. Der Ich-Erzäh­ler the­ma­ti­siert die eige­nen Unsi­cher­hei­ten ganz offen. Mehr­fach rückt die von Akne geplag­te Haut ins Zen­trum, vor allem am Rücken – Kra­mers Achil­les­fer­se, der Grund, wes­halb er im Frei­bad immer ein T‑Shirt trägt. Denn die Angst davor, zurück­ge­wie­sen zu wer­den, nie ein Mäd­chen zu küs­sen, nie eine Freun­din zu haben – die Angst, nicht die glei­chen Erfah­run­gen zu machen, wie ande­re im sel­ben Alter, ist groß.

Man kann sich in den 15-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten hin­ein­ver­set­zen, die Emp­fin­dun­gen so fei­er­lich und über­zo­gen sie auch sein mögen, sind durch­aus nach­voll­zieh­bar. Wer denkt nicht eben­falls noch ab und zu an den ers­ten Schwarm, an die klei­nen Aben­teu­er, die einem damals so groß und welt­be­we­gend vor­ka­men, mit den bes­ten Freund:innen, bei denen man sich sicher war, dass das Band der Freund:innenschaft untrenn­bar und für die Ewig­keit sein wür­de. Auch die pop­kul­tu­rel­len Ver­wei­se an die dama­li­ge Zeit schaf­fen Vertrautheit.

Trotz allem hält sich beim Lesen die gro­ße mit­rei­ßen­de Begeis­te­rung in Gren­zen, die über­schwap­pen­den Gefüh­le über­tra­gen sich nicht so recht. Zu ober­fläch­lich wird erzählt, zu wenig pas­siert in den knapp 250 Seiten.

Ein muti­ges Debüt ist Kra­mer den­noch gelun­gen. Statt einer Bio­gra­phie über sein Leben, über sei­ne fuß­bal­le­ri­sche Kar­rie­re, zu ver­öf­fent­li­chen, wie es vie­le (ehe­ma­li­ge) Pro­fis machen, geht der Welt­meis­ter erneut einen unkon­ven­tio­nel­len Weg und ent­schei­det sich für die Auto­fik­ti­on. Das bringt ihm Sym­pa­thie­punk­te ein – für 90 Minu­ten (wie man im Fuß­ball sagen wür­de) reicht es am Ende aller­dings nicht. Poten­ti­al ist auf jeden Fall da, denn „[h]ier schien alles mög­lich zu sein, hier schien alles zu war­ten, zwi­schen Gefahr und purem Glück.“

3 von 5 ver­wan­del­ten Elfmetern

Chris­toph Kra­mer: Das Leben fing im Som­mer an, 256 Sei­ten, Kie­pen­heu­er und Witsch Ver­lag, 23,00 €.