von Philipp Maier
„Wie heißt die Stätte, dahin mein Gott komme zu mir, wohin der Gott komme zu mir, der Himmel und Erde gemacht hat?“ (Augustinus, Bekenntnisse) – Ein Selbstversuch
Die neuen Medien. Jetzt sind sie da und so schnell kommen wir aus der Sache nicht mehr raus. Jürgen Habermas spricht in seinem jüngsten Text davon, dass Social Media und Co einer menschheitsgeschichtlichen Zäsur gleichkämen, wie es der Buchdruck einst war. Nur werden jetzt nicht alle zu potentiellen Leser:innen, sondern jede und jeder zu potentiellen Autor:innen. Habermas versteht es an dieser Stelle zu fragen, wie lange es denn dauerte bis wir alle lesen konnten. Dagegen will jetzt die Autoren:innenrolle gelernt sein und der Mann in seinen 90ern definiert diese als das Bewusstsein über das Defizit des eigenen Kenntnisstandes. Und tatsächlich, im Sog von Insta und Co dürfen wir endlich alle unser Selbst in fröhlicher Einheit und Totalität kuratieren, ein Defizit bedarf es da nicht und auch im heitern Scrollen von Alpenlandschaft mit Strahlegesicht zu Strandspaß mit Aperol zu lecker Pasta zu lustig lustig Bierposerei lässt sich der Mangel nicht ausmachen. Also alles tendenziell und irgendwie problematisch, weil wir ja unser Defizit artikulieren müssen oder zumindest davon wissen sollten. Auch Hartmut Rosa gibt sich medienkritisch und bemerkt: „Wir müssen uns in immer kürzeren Abständen über die Zahl unserer Freunde, unsere Wahrnehmbarkeit in der Welt und die Intaktheit unserer SMS- und E‑Mail-Kanäle vergewissern, und wir fühlen uns vergessen in einer indifferenten Welt, wenn der Strom der Resonanzsignale auch nur vorübergehend abebbt oder gar abreißt.“ Rosa befürchtet einen Resonanzverlust durch die glatten Oberflächen der Bildschirmzerstreuung. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass der Diskurs auf Twitter überwiegend durch „Reizreflexe“ konstituiert wird, die „selbst durch neutral formulierte politische Positionen aktiviert“ würden. Diese Reizreflexe sind bestimmt von Negativität, Diskreditierung und Distinktion. Deliberation – oder um das Wort „Resonanz“ zu bemühen – verpufft zugunsten einer permanenten Selbstbestätigung durch Likes und Drukos. Dieser repulsive Strom stiftet fahle Orientierung im Kosmos und bricht er ab, laufen wir Gefahr das unser Getragensein in der Welt erodiert. Während der Spaziergang durch Wald und Wiesen uns die Lebendigkeit des Kosmos in romantisierter Seligkeit spüren lassen kann, sind die Weltbeziehungen, die wir mit den Twitter-Takes mit ihrer radikalen Beliebigkeit aufnehmen, stumm und entfremdet.
Doch geben die neuen Medien nur Anlass zur Trauer über den Weltenlauf? Ist die Euphorie der Nullerjahre über die Möglichkeiten dieser potentiell egalitären und demokratischen Foren vollends verpufft? Bewirkt die Genese der Medien nur eine voranschreitende Auflösung des Realen, wie Paul Virilio sie diagnostiziert, in der wir Halt in der Überhöhung der eigenen Meinung finden und alles im Twitter-Takt mit Spott sanktionieren? Auf jeden Fall tritt das Individuum in nie dagewesener Intensität auf, es wird Autor:in.
Und somit widme ICH mich einem Selbstversuch. Aufnahme von Resonanzbeziehungen und das Defizit des eigenen Kenntnisstandes sind den oben genannten Autoren zufolge die Mittel, mit denen wir die Herausforderung der neuen Medien meistern können. Wie lässt sich so etwas realisieren? Das Defizit artikuliert sich am besten in der Form der Frage. Doch wie lassen sich Resonanzbeziehungen zu Instagram aufbauen? Die Methoden der Mystik scheinen mir am besten geeignet in Kontakt zu den kosmischen Schwingungen zu treten: wenn mit einer Wünschelroute oder einem Pendel die Wahrheit der Welt in Erscheinung treten kann, wieso dann nicht auch mit den Reels von Instagram? Reels sind Videos in der Länge von 10 bis 30 Sekunden, die allerlei Schabernack zur Schau stellen. Langweilt ein Video, gelangt man mit einem Fingerstreich zum Nächsten. Diese Langweile wird präzise von Algorithmen zur Kenntnis genommen und so die Inhalte der Reels stetig angepasst, damit alles super individuell und möglichst gefällig ist. Mein Selbstversuch folgt diesem Konzept: um dem Defizit meines Kenntnisstandes gewahr zu werden, formuliere ich eine Frage. Diese Frage soll mein Bewusstsein vollends einnehmen, ich werde in dieser Frage beseelt zur Ruhe kommen und dann Instagram öffnen und dort auf die Reels tippen. Das erste vom algorithmischen Zufall bestellte Video soll mir eine Antwort auf meine Frage sein: Das Orakel von Instagram. Da bei diesen mystischen Übungen viel kaputt gehen kann und die Gefahr eines psychotischen Schubs droht, lege ich eine Baldrian Tablette neben mein SMARTPHONE.
Ich atme tief ein und aus. Atemwende. In diesem Moment des Stillstandes falle ich in eine existenzielle Notlage und mir stellt sich die Frage: Gibt es einen Gott? Ich werde erfüllt von der Sehnsucht nach einer Antwort und öffne Instagram und es zeigt sich dieses Reel: zwei ergraute Damen stehen in der ersten Reihe eines Techno-Raves. Im Takt des wummernden Basses schwingen sie Beine, Kopf und Po. Um sie herum Menschen in ihren 20ern, vielleicht auf Mdma. Begeistert von so viel Lebenslust im hohen Alter ist mir klar: Es gibt einen Gott! Irgendwie befriedigt, kommt mir noch während des sich wiederholenden Videos die Frage: Warum gibt es dann Leid in der Welt? Ich streiche über meinen Bildschirm: Zu sehen ist die Aufnahme eines Interviews mit Freddie Mercury im Jahr 1985, in dem er deutsche Schimpfwörter in schlechter Aussprache aufzählt: Blöderhund, Leck mein Arsch. Nun bin ich irritiert. Mit welchem System soll ich den Orakelspruch auslegen: Spricht etwa Gott durch die Stimme von Freddie Mercury? Und ist er von so viel Fragerei genervt und reagiert abwehrend? Nun ja, die Theodizee ist sicherlich komplex und anscheinend hat Gott gerade keine Lust in 30 Sekunden zu antworten und ich soll erstmal seinen Arsch lecken. Ich gebe mich fürs Erste zufrieden und stelle die nächste Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Begleitet von einem Gitarrenriff ist ein supersüßer Hund zu sehen, dessen Zunge in einen kreisrunden Keks fährt. Etwas peinlich berührt bin ich nun doch über den Umstand, dass der Sinn des Lebens im Cunnilingus liegt, auf den das Video zweifellos anspielt. Ich bin dankbar, dass die Sache geklärt ist. Als nächstes scheint mir wissenswert, was denn eigentlich nach dem Tod kommt. Ich atme aus, atme ein, lasse meinen Geist von dieser Frage erfüllen und streiche über meinen Bildschirm. Zu sehen ist ein Bekleidungsgeschäft in dessen Hintergrund ein Poster mit dem Umriss des afrikanischen Kontinentes hängt. Im Vordergrund tanzt ein Mann elegant. Das Video ist mit der Musik von Burna Boy „It’s Plenty“ unterlegt und die Worte „I want to be celebrated / Don’t wanna waste my days / I want to spend them on enjoyment“ zu hören sind. In der Videobeschreibung ist noch vermerkt: „He was visiting form SA and just loved the idea of an Ankara/Denim Jacket. Pure enjoyment.“ Wow! Also nach dem Tod sind alle fantastisch gekleidet mit Denim Jackets, es läuft gute Musik und wir tanzen viel. Vielleicht ist aber das Orakel von Instagram auch raffinierter, verwehrt die eigentliche Antwort und macht stattdessen klar, dass wir im Leben tanzen und uns gut kleiden sollten, da es noch die Worte „Don’t wanna waste my days“ mitgibt. Das ist doch alles sehr sinnig. Nachdem die Grundparameter menschlichen Lebens geklärt sind, möchte ich mich zu gesellschaftstheoretischen Gefilden wagen. Die Internationale der Kapitalbesitzer mit ihren ungeheuern Raubzügen an den Menschen und durch die Landschaften dieser Erde ist sicherlich ein zu überkommendes Übel. Doch wie beenden wir den Kapitalismus? Ich streiche über den Bildschirm. Das Bild der Mona Lisa ist zu sehen, darüber die Frage „where is the monkey“. Es folgt ein Zoom auf den Bildausschnitt links neben dem Kopf der bekannten Dame. Als schlussendlich nur noch ein grüner Farbverlauf zu sehen, schneidet das Video auf das Bild eines Schimpansen, welches mir den Mittelfinger zeigt. Bei Fragen zum Thema Leid und Elend scheint das Orakel etwas gereizt zu reagieren. Verständlich! Ich nehme dennoch mit, dass sich mit widerspenstiger Kunst schon was gegen den Kapitalismus anstellen lässt.
Erstaunt, dass meine existenzielle Antwortbedürftigkeit in Instagram ihre Erfüllung findet, sich in dieser App eine Wahrheit der Welt vermittelt, schalte ich beglückt den Bildschirm meines Kommunikationsgeräts aus. Ich höre das Lärmen einer Baustelle, das Schreien eines Vogels, dann wieder das Heulen einer Kreissäge. Kein Zufall erhebt in diesem Draußen zur Rede. Ich schlucke die Baldrian Tablette ohne Wasser hinunter, greife nach meinem SMARTPHONE und bestelle mir ein Denim Jacket, don’t wanna waste my days.
Philipp Maier kocht gerne zwanghaft exakt nach Rezept. Doch konnte er kürzlich das Zauberwort „aus der Lamenge“ in Erfahrung bringen und so gestaltet sich für ihn das Zubereiten der Mahlzeiten in einer süßen Leichtigkeit.