Ein Gespräch mit der Schriftstellerin María Cecilia Barbetta
von Clemens Heydenreich
„Ich muss nicht lange suchen, all diese Bilder sind Teil meines Lebens, und ich brauche nur die Hand auszustrecken, und sie sind miteinander verbunden, zuallererst in meinem Herzen.“
Es war einmal eine schöne Jungfrau, die arbeitete als Schneiderin bei ihrer Tante und war sehr unglücklich, denn ihr Verlobter hatte sie verlassen und war in die weite Welt hinausgegangen. Eines Tages begegnete ihr eine andere Frau, die war ebenso jung und schön wie sie und war sehr glücklich: Denn auch sie hatte einen Verlobten, der aber wollte bei ihr bleiben und sie heiraten — und ihr fehlte nun nichts mehr zum immer währenden Glück außer einem Hochzeitskleid. Und das sollte die unglückliche Schneiderin ihr nähen.
Dass es eine Art Märchen-Plot ist, auf dem in María Cecilia Barbettas Debütroman „Änderungsschneiderei Los Milagros” die Handlung aufsetzt, ist wichtig, sagt aber noch fast nichts aus. Denn entscheidend ist — sozusagen — der narrative Überbau dieser Handlung.
Zum einen spielt der Roman nicht im Märchenwald, sondern in einer modernen Megacity: im Buenos Aires der späten Achtziger, in dem die 33 Romankapitel munter zwischen diversen Orten (und Zeitstufen) hin- und herhüpfen. Doch schafft die unübersichtliche Topografie der Stadt wie auch des Textes (anders als aus europäischen Großstadtromanen geläufig) nicht etwa ein Fluidum hektischer Unbehaustheit, sondern eher eins der Geborgenheit: In den Plüschsesseln eines Planetariums, im Karussell auf dem Rummelplatz oder vor der Pac-Man-Konsole im Spielkasino lässt es sich trefflich von Liebe und Ferne träumen. Für Irritationen sorgt eher — zum anderen — eine morbide Parallel-Sphäre, die in den Kellern der Metaphorik stets präsent bleibt: die der Insekten.
Die nämlich spendet zwar einerseits dem Volksglauben herzige Metaphern wie die vom Schmetterling als Seelenvogel oder im Bauch umherflatterndes Verliebtheitssymptom, steht aber bei Barbetta auch für eine sehr seelenlose Mechanik aus Begattungsdrang, Fressen und Gefressenwerden. Vor allem aber verknüpft sie die Identitätssuche Marianas, der Schneiderin, mit der Schreibweise des Textes: So sehr verwebt die Heldin ihre unerfüllten Sehnsüchte nach Veränderung mit den selben und offenbar erfüllten Sehnsüchten ihrer Doppelgängerin Analía, dass diese ihr ganz peu á peu von der Freundin zur Bedrohung wird — und schließlich in einem symbolischen Akt vernichtet werden muss, damit Mariana frei werden kann. Der Text also baut seiner Heldin zur Verpuppung einen Kokon aus Phantasien, ein Gespinst, in das er auch den Leser hineinzieht: Denn diesem selbst bleibt es überlassen, wie viel unterschwellige Magie er im urban-modernen Setting des Romans walten sehen will. Die Mittel, die er dazu an die Hand bekommt, sind verschiedenste Formen von Zeichenbezügen und Zeichensprache: Wortspiele rund um schillernde Metaphern — Puppe, Stich, Läufer — machen nicht nur Bildfelder wie die der Erotik, der Insektenwelt und des katholischen Volksglaubens füreinander durchlässig, sondern auch scheinbar unverbundene Kapitel. Über kleinen Illustrationen und variierenden Schrifttypen stockt der Lesefluss, und allfällige Farbsymbolik, kabbalistische Zahlenspiele und anagrammatische Namen lassen geheimnisvolle Querverbindungen zwischen Figuren und Textpassagen erahnen. Vor allem aber schließt jedes Kapitel mit einem ganzseitigen Bild ab, einem „Stoffmuster”, wie Barbetta es nennt: 33 Motive, überwiegend Zitate aus der Kunst- und Kulturgeschichte, fügen dem je zuletzt gelesenen Abschnitt neue Sinndimensionen hinzu, die der Text alleine nicht hergibt, oder verweisen gar auf Künftiges.
Das alles nun klingt einerseits wie ein Schulbuch-Beispiel zum Thema „Postmoderne”: Ein Roman, der Zeichen- und Medieninterferenzen nutzt, der von durchlässig gewordenen Identitäten erzählt und seine Sinnstiftung als ein Spiel betreibt, in dem der Leser gleichberechtigt mitspielen darf. Andererseits lässt die Atmosphäre des Textes, kippbildartig flirrend zwischen Realem und Irrealem, an den „Magischen Realismus” der klassischen Moderne Lateinamerikas denken. Richtig ist beides. Dass Barbetta das Grundgefühl und die sprachskeptischen Schreibweisen der Postmoderne mit romantischen Motiven aussöhnt und so die Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Stimmigkeit im Weltengebäude am Leben hält (ein Ansatz, der in der jungen deutschen Lyrik schon öfter begegnet ist, in der Prosa aber noch kaum) — das dürfte mit ein Grund gewesen sein, weshalb sie für „Änderungsschneiderei Los Milagros” auf der Frankfurter Buchmesse 2008 den „Aspekte”-Literaturpreis bekam. Und dass sie all das als Argentinierin in deutscher Sprache getan hat, mit dem unbelastet-kreativen Blick der Nicht-Muttersprachlerin also, das trug ihr im März 2009 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ein.
Bereits vorher — im Januar 2009, nach einer Lesung in der Erlanger Volkshochschule — konnte Schau ins Blau die Autorin zu einem Interview treffen. Barbetta bekennt sich darin im Schreiben wie im Leben (über die oben genannten literaturgeschichtlichen Strömungen hinaus) zu einer Tradition, die schon vor vielen Jahrzehnten Europa und Lateinamerika verband und ein Revival der Romantik im Zeichen der Moderne feierte: zum Surrealismus. Ein Gespräch über (Kipp-)Bilder und (Prä-)Texte von Jules Verne bis Julio Cortázar, über Schmetterlinge, Comic-Amazonen, mystische Momente und geprügelte Schweine.
Schau ins Blau: Wenn wir heute – Ende Januar 2009 – Ihren Namen in die „Wikipedia“ eingeben, dann findet sich noch kein Eintrag zu Ihnen, statt dessen aber zu einem italienischen Komponisten namens Barbetta. Spätes 16. Jahrhundert. Ist das ein Vorfahr von Ihnen?
Barbetta: (lacht) Das weiß ich nicht…
Schau ins Blau: Ich komme deswegen drauf, weil dieser Herr Barbetta ja noch die frühe Barockzeit erlebt haben könnte. Vielleicht würde er sich in Ihrem Text also ganz wohl fühlen – denn auch der ist ja eine barocke Komposition, ein Arrangement verschiedenster Dinge, Bilder, Worte, auch von Musik. Fühlen Sie sich selber dem barocken Lebensgefühl nahe?
Barbetta: Natürlich! Ich habe mal behauptet, die „Änderungsschneiderei“ sei eine Wunderkammer, und das hat natürlich mit dem Barock zu tun. Ich bin eine Sammlerin, ich liebe vollgestopfte Räume, und was ich an Wunderkammern mag: Die haben eine ganz spezielle, eine etwas andere Ordnung der Dinge. Dicht aneinander gibt es da disparate Dinge, und wenn man die genauer betrachtet, dann kann man eine Art Verwandtschaft zwischen ihnen finden, das finde ich reizvoll an der Idee der Wunderkammer. Es gibt einen schönen Text von Jorge Luis Borges, mit dem Michel Foucault sein Buch Die Ordnung der Dinge einleitet: Borges beschreibt eine chinesische Enzyklopädie, die auch eine Art Wunderkammer ist. Da geht es um eine etwas andere Ordnung der Tiere: Es gibt „Fabeltiere“, es gibt „gezähmte Tiere“, es gibt „Tiere, die von weitem wie Fliegen aussehen“ – eine schöne poetische Anordnung der Tierwelt. Und so etwas versuche ich auch im Leben überhaupt zu finden. Deswegen ist mein Roman eine Wunderkammer – eine Mischung aus Text und Bild, anscheinend eine Mischung aus disparaten Dingen, aber wenn man sich auf dieses Spiel einlässt, dann erkennt man eine… – ja, eine Ordnung.
Schau ins Blau: Da wundert es mich nicht, dass Sie in einer Textstelle diesen netten alten Hochzeits-Aberglauben aufgreifen, dass man auf der Feier „was Altes, was Neues, was Geborgtes und was Blaues“ tragen müsse – denn auch dabei gehen die Kategorien ja so wild durcheinander wie in dieser Enzyklopädie…
Barbetta: Ja – man sollte vielleicht Bücher nach diesem Prinzip schreiben! (Lacht)
Schau ins Blau: Ihr Roman heißt Änderungsschneiderei Los Milagros. „Milagros“ bedeutet „Wunder“. Und er heißt nicht: „Die Änderungsschneiderei…“, sondern ohne Artikel, so als würde der Titel als ein Schild über dem Eingang des Buches hängen und als wäre das Buch somit ein Raum dahinter. Tatsächlich habe ich beim Lesen öfter einen räumlichen, mehrdimensionalen Eindruck gehabt, weil man, durch die verschiedenen Bilder angeregt — deren Sinn sich oft erst später erschließt –, sehr ins Vor- und Zurückblättern gerät. Haben Sie das beabsichtigt, dass der Leser ein bisschen mäandern soll?
Barbetta: „Mäandern“ ist schön. Aber: „Beabsichtigt“ habe ich nichts. Ich habe beim Schreiben das Gefühl gehabt, dass ich nicht lange suchen musste. Die Bilder waren von Anfang an da, das Cover war von Anfang an da, ich denke auch häufig in Bildern, versuche auch beim Schreiben so viele Bilder zu evozieren wie möglich. Mir geht es um Sinnlichkeit und Plastizität, und vielleicht sprechen Sie deswegen von „Raum“. Was das Wunder angeht, da gibt es zweierlei: Einerseits heißt Milagros Wunder, aber auch die Besitzerin dieser Schneiderei heißt so. Milagros ist ein katholischer Name, mittlerweile ohne Konnotation – kein spanisch sprechender Mensch denkt an Wunder, wenn eine Frau sich vorstellt und sagt, ich heiße Milagros. Für mich ist diese Doppeldeutigkeit äußerst wichtig. Genauso wichtig wie dieses Schild, das ich in Berlin an einer Änderungsschneiderei gesehen habe. Da war zu lesen: „Änderung von Damen“, darunter „Kinder- und Herrenbekleidung“, und bei „Änderung von Damen“ fehlte der Bindestrich. Das ist dieses „Änderungsschneiderei-Los-Milagros“-Wunder, also diese Möglichkeit, den Text phantastisch zu lesen oder auch nicht. Denn diese Schneiderei in Berlin war insofern interessant, als es das Schild im anderen Schaufenster noch ein zweites Mal gab, allerdings war da der Bindestrich: „Änderung von Damen‑, Kinder- und Herrenbekleidung“. Und so hätten wir auch das „andere“ Milagros, also die realistische Lesart. Die Schneiderin namens Milagros scheint zwar manchmal für das Wunderbare zu stehen, aber eigentlich steht sie mit beiden Beinen auf der Erde, betreibt ihr eigenes Geschäft, hat drei Mitarbeiterinnen usw. Solche Kippbilder faszinieren mich.
Schau ins Blau: Dieses Kippbild funktioniert durch Sprache, und da sind wir beim Thema „Die Außensicht eines Zweitsprachlers auf eine Sprache“. Ihr Roman ist ja auf Deutsch verfasst, und seine Metaphorik trägt viel zu diesem räumlichen Leseeindruck bei. Denn viele Metaphern sind Polysemien. Die Puppe zum Beispiel: Die taucht auf als das Wort, dass die Straßen-Machos der Analía hinterher flöten, später dann als Schneiderpuppe zum Maßnehmen, aber natürlich auch als der Schmetterling, der sich im Gespinst verändert. Also Text und Gespinst als ein Ort, wo Veränderung stattfinden kann, das ist wichtig. Sind solche Polysemien im Deutschen besonders ausgeprägt – interessiert Sie das an dieser Sprache besonders?
Barbetta: Ja, das ist natürlich das, was ich liebe. Aber wenn ich einen Vergleich mit dem Spanischen anstellen sollte, wäre ich vermutlich nicht die Richtige. Ich glaube, Fremdsprachler haben in der Tat einen etwas anderen Blick auf die Sprache. Schreiben auf Deutsch hat für mich viel mit Spielen zu tun, mit einer kindlichen Entdeckerfreude, zumindest war ich sehr glücklich beim Schreiben an der Änderungsschneiderei, unter anderem, weil sich mir diese Polysemien peu à peu erschlossen haben. Ich habe zum Beispiel in einem Kapitel ein gewöhnliches Substantiv gebraucht wie „der Läufer“, und dann ist mir eingefallen: Moment mal, das kann ja auch die Schachfigur sein. Und noch mal später dachte ich: Wunderbar, jetzt kann ich diesen Läufer auch als länglichen Teppich einsetzen. Alfred Jarry, der für mich ein sehr wichtiger Autor ist, spricht nicht von „Polysemien“, er hat ein schöneres Wort dafür: Er spricht von Wörtern als „Ideen-Polyedern“. Da haben wir das Räumliche wieder, denn ein Polyeder ist ja eine geometrische Figur, die ich mir aus verschiedenen Perspektiven anschauen kann. Und so war es bei mir, als ich diesen Läufer im Kopf hatte. Beim Schreiben ist für mich die Lust an der Sprache der treibende Motor, die Lust, auch „Seitensprünge“ zu machen, dieses Hin und Her. Das macht die deutsche Sprache in meinen Augen aus, diese Potentialität der Wörter. Es ist ein bisschen, als würde man eine halluzinierende Wirklichkeit vor Augen haben, wenn man sich auf dieses Spiel einlässt, wenn man, wie Jules Verne sagt, „mit beiden Augen schaut“. Dieses andere Schauen versuche ich zu trainieren. Die Surrealisten haben das Auge aufgeschlitzt, um zu zeigen: Es gibt ein anderes Sehen. Und für Alfred Jarry, einen Vorläufer der Surrealisten, war nicht nur das Anders-Sehen wichtig, sondern sogar das Umdenken, das Anders-Denken, und so hat er konsequenterweise eine „Enthirnungsmaschine“ erfunden, damit man anders denkt. All das erscheint mir nicht nur in der Literatur wichtig, sondern überhaupt.
Schau ins Blau: Zur Rolle der Bilder: Die 33 Bilder, die jeweils ein Kapitel abschließen, nennen Sie „Stoffmuster“. Diese Bilder sind Zitate aus 2000 Jahren Kulturgeschichte. Die Wunderkammer versammelt also auch ganz verschiedene Zeiten und Kulturkreise.
Barbetta: Ja, Sie sprechen – das Fachwort wird Sie begeistern – von „Diachronien“. (lacht) Das Wort habe ich letztens bei Roger Willemsen gelesen und dachte: Ah, das passt auch zu meinem Buch. Roger Willemsen spricht in seinem Buch Der Knacks von Diachronien und sagt: Wir nehmen den Leib Christi in der Hostie auf, und dabei sind wir hauptberuflich Handyklingeltondesigner. Solche Diachronien gibt es auch in Europa, aber in Lateinamerika sind sie natürlich noch stärker zu spüren.
Schau ins Blau: Der Leib Christi ist ein gutes Stichwort, um zu Sprachmystik und Bildmystik zu kommen. In Ihrem Roman heißt es: „Das Wort – DAS WORT – benennt nicht nur, es vollzieht.“ Also es hat eine performative Wirkung, wie auch im katholischen Ritus bei der Transsubstantiation: Der Priester sagt’s, und die Verwandlung ist vollzogen. Können in der katholischen Tradition auch Bilder solch eine mystische Aufladung haben?
Barbetta: Na klar, Sie wissen ja selber, dass Bilder im Katholizismus unglaublich wichtig sind. Katholische Kirchen sind beladen mit Bildern, das ist eine besondere Ästhetik, die ich sehr mag und bei der ich zuhause bin. Und was ich auch ganz toll finde: Sie grenzt manchmal wohlgemerkt an den Kitsch. Die Filme von Almodóvar zum Beispiel greifen auch diese katholische Ästhetik auf und spielen ironisch mit ihren Klischees. Außerdem: Der Katholizismus geht in Lateinamerika einher mit dem Aberglauben – das zündet, würde ich sagen.
Schau ins Blau: Die Bilder zitieren, wie gesagt, weite Zeiträume an, begonnen bei der Göttin Diana/Artemis und endend mit einer Insekten-Skulptur aus dem Jahr 2000…
Barbetta: Es stimmt. Ich erzähle Ihnen dazu eine schöne Geschichte: Julio Cortázar ist in den 50er Jahren von Buenos Aires nach Paris gezogen, und er erzählt, wie er dort in Paris eine Bibliothek hatte. Die war aus Holz, und dieses Holz war schon alt und an der Seite nicht mehr so schön anzusehen, und Cortázar fing an, an diese Holzleiste Bilder anzupinnen. Disparate Dinge: Ein Kinoprogramm, ein Foto, eine Zeichnung. Und er erzählt, wie er eines Abends – er war am Lesen – den Kopf von seinem Buch hob, sich diese Holzleiste voller angepinnter Dinge anguckte und in diesem Moment eine durchgängige Linie entdeckte. Eine Linie, die plötzlich da war, die oben anfing und unten endete, und all diese disparaten Dinge miteinander verbunden hatte. Die schlängelte sich vorbei an der Trompete von Louis Armstrong, an einem Frauenrücken, an einem Wort und so weiter und so fort – das nennt Cortázar das „phantastische Moment“. Da sind wir wieder bei der ganz speziellen Ordnung eines Kunstwerks. Und dieses Gefühl hatte ich beim Schreiben an der Änderungsschneiderei: Ich muss nicht lange suchen, all diese Bilder sind Teil meines Lebens, und ich brauche nur die Hand auszustrecken, und sie sind miteinander verbunden, zuallererst in meinem Herzen. Ich habe natürlich versucht, dass es auch im Laufe des Romans klar wird, dass diese Bilder miteinander kommunizieren. Und dann gibt es noch etwas, was Cortázar gesagt hat, was ich wunderschön finde. Sie kennen ja sicherlich die Definition der Surrealisten für Schönheit. Eigentlich war es Lautréamont, der das gesagt hat, und die Surrealisten haben es übernommen: „Die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“. Das ist ihre Definition für Schönheit. Und Julio Cortázar hat sich eine wunderbare Definition für das phantastische Element in der Literatur ausgedacht. Er spricht von einer besonderen Art von Osmose. Einige Kritiker haben von meinem Roman behauptet, er sei ein „Patchwork-Roman“ oder eine „Text-Bild-Montage“, damit bin ich nicht einverstanden, weil es mir nicht um ein Nebeneinander oder Nacheinander geht, sondern darum, dass die Dinge ineinander übergehen. Deswegen Osmose. Und Cortázar erklärt, wie so was geht. Also jetzt sein Rezept – das ich befolgt habe! (Lacht und liest vor) „Man nehme ein Schwein, binde es an einen Pflock und prügle es, während man andererseits aus verschiedenen Zutaten einen Teig bereite und im Rühren nur innehalte, um weiter auf das Schwein einzuschlagen. Wenn es einem nach drei Tagen nicht gelungen ist, dass der Teig und das Schwein ein homogenes Ganzes bilden, kann man die Pastete getrost als missglückt betrachten. In diesem Fall wird man das Schwein losbinden und den Teig auf den Mist werfen.“ Sie können sich vorstellen: Ich liebe außergewöhnliche Pasteten!
Schau ins Blau: Darauf kann ich jetzt nur mit einem neuen Thema kontern… Das Setting Ihres Romans ist Buenos Aires in den 80er Jahren. Also eine moderne, urbane Welt, aber von 2009 aus betrachtet doch eine Art fast nostalgische Moderne, in der man fast ein Gefühl von stehen gebliebener Zeit hat: Da klingelt kein Handy, da hat das Bermudadreieck auch deswegen noch seine unheimliche Aura, weil es weder GPS noch Google Earth gibt. Und ein Geliebter, der sich zu einer Odyssee entschlossen hat, der ist noch so richtig weg vom Fenster, sobald er keine Postkarten mehr schreibt. Ist diese Art von Zeitlosigkeit auch etwas, was Sie bewogen hat, speziell die 80er Jahre zu wählen, oder hat das mehr mit autobiografischer Inspiration zu tun?
Barbetta: Ich fühle mich da natürlich zuhause. Und ich mag es, dass es keine Handys gibt und so weiter. Klar, es hat auch was Altmodisches. Wie auch eine Änderungsschneiderei etwas Altmodisches hat – wer geht heute noch in eine Änderungsschneiderei? Man geht schnell zu H&M und kauft dort Klamotten. Also, ich mag diese altmodische Welt, und ich hole sie mir zurück, indem ich darüber schreibe. Klar, Ende der 80er Jahre, 90er Jahre, das ist auch die Zeit meiner Jugend in Buenos Aires, und es lag auf der Hand, dass ich da ansetzen würde, wenn ich meinen ersten literarischen Text schreibe.
Schau ins Blau: Normalerweise interessiert es mich bei einem Roman überhaupt nicht, wie er entstanden ist, aber bei einem solchen multimedialen oder…
Barbetta: … jetzt müssen Sie sagen: Pastete! Pastete! … (lacht)
Schau ins Blau: … ja, wie Sie auf das Schwein einprügeln, stelle ich mir auch gerne vor, aber Ihr Text legt doch auch die klassische Textur-Metapher sehr nahe: Da werden Fäden gesponnen, die werden verwebt und dann die Teile zusammengeschneidert. Ich kann mir vorstellen, dass Sie für diese Arbeit — weil Ihr Arrangement von Motiven, Fäden, Geschichtsbestandteilen so kleinteilig ist – dass Sie da erstens eine ganze Weile für gebraucht haben und zweitens, dass es nicht linear von Anfang bis Ende durchging, sondern dass Sie immer wieder mal parallel… (Barbetta schüttelt den Kopf) … nein?
Barbetta: Nein. Nein, deswegen habe ich auch diese Geschichte von Cortázar und der Holzleiste erzählt. Klar, ich habe mich zwar nicht hingesetzt und mir gedacht: Ich schreibe jetzt einen Roman. Ich dachte: Ich schreibe eine Erzählung von 15 Minuten Lesezeit, denn ich hatte von einem Wettbewerb für junge, unentdeckte Talente gehört, ausgelobt von der Literaturwerkstatt in Berlin. Ich hab natürlich nicht gedacht: Du bist jung und unentdeckt, aber ich war in dieser Zeit arbeitslos und dachte, das wäre vielleicht eine Chance. Und so wollte ich zuerst eine Erzählung schreiben, die dann aber mit der Zeit länger wurde. Mit dem Wettbewerb hat es nie geklappt (das apropos „junge, unentdeckte Talente“), aber ich wurde im Laufe des Schreibens, wie gesagt, glücklich. Auch deshalb, weil ich das Gefühl hatte, es geht wie von alleine. Natürlich hab ich das Manuskript immer wieder redigiert und teilweise auch die Reihenfolge der Kapitel geändert, aber Kapitel 1 war immer Kapitel 1, Kapitel 2 war immer Kapitel 2. Der Anfang blieb zum größten Teil so, wie er war. Ich habe wenig geplant, ich wusste nur, es wird eine Art Doppelgängergeschichte werden, mir war klar, es wird Bilder geben, weil am Anfang ja ein Bild stand – eben dieses Schild in der Berliner Schneiderei. Auch das Cover war von Anfang an da: Diese Nähanleitung habe ich vor Jahren auf einem Flohmarkt in Berlin entdeckt und gekauft, weil ich mich in die Zeichnungen verliebt habe. Aber das Schreiben ging – vielleicht auch, weil es für mich „das erste Buch“ war – von alleine, ohne dass ich wusste, wo es mich hinführt. Ich hab mich einfach von der Lust am Spiel mit der Sprache treiben lassen.
Schau ins Blau: Und es stand auch gleich fest, dass es 33 Bilder gibt, und die haben Sie schon gehabt?
Barbetta: Nein, nein. „Schon gehabt“ im Sinne von: Es waren – mit zwei, drei Ausnahmen – Bilder, die in meinem Kopf waren, sich in meinem Arbeitszimmer befanden, in meinem Kosmos. Dass es 33 Kapitel werden würden, das habe ich nicht gewusst, ich fand es am Ende aber ganz schön und schlüssig, weil bereits im Kapitel 1 die Rede von der Zahl 33 ist. Mariana zählt ihre Schritte, geht genau mit Schritt 33 an der Kirche vorbei, und deswegen denkt sie an …
Schau ins Blau: — wir sind grad in der 33. Minute, übrigens… (zeigt aufs Display des Aufnahmegeräts)
Barbetta: …oh nein – das ist toll! Sehen Sie, alles ist gut! (Lacht) – Also, Mariana denkt an Christus, der mit 33 am Kreuz gestorben ist. Und 33, das finde ich wunderbar, denn das ist sozusagen das Alter fürs „Stirb und Werde“: „Und solang du das nicht hast, / dieses Stirb und Werde, / bist du nur ein trüber Gast / auf der dunklen Erde“. Da sind wir über Goethe auch wieder beim Schmetterling. Die 33 war also für mich ganz wichtig. Und Sie werden mir nicht glauben, aber nachdem das Buch fertig war, ist mir klar geworden, dass ich genau mit 33 Jahren angefangen hatte, es zu schreiben! Und diese kleinen Entdeckungen – die sind für die Welt da draußen nicht wichtig, aber für mich. Diese kleinen Momente, wo ich denke: Ach – alles ist gut, die Welt ist stimmig.
Schau ins Blau: Mir kam Ihr Text manchmal fast wie ein großes Gedicht vor. Was ihn ein bisschen lyrisch macht, das sind zum Beispiel diese Polysemien und so weiter, dass also einzelne Wörter mehrfach codiert sind, und dass das Ganze eben auch einen Kosmos ergibt, der in sich ruht. Benn sagt bekanntlich, Lyrik sei das „schlechthin Unübersetzbare“. Tun ihnen die Leute jetzt schon leid, die diesen Roman übersetzen müssen?
Barbetta: Also, ich war erleichtert, als der S. Fischer Verlag mich gefragt hat, ob ich nicht Lust hätte, meinen Text zu übersetzen, und ich dann sagen konnte: Um Gottes willen, das möchte ich nicht machen. Der Verlag hat das auch sofort verstanden, und jetzt übersetzt jemand anderes den Roman ins Spanische. Ich bin glücklich, dass nicht ich das übernehmen muss, weil so vieles, was ich geschrieben habe, mit der Lust an der Fremdsprache zu tun hat. Alle Sprachspiele kommen aus dem Deutschen her und funktionieren teilweise im Spanischen sicher nicht, da muss man sich wohl andere überlegen. Und manchmal habe ich auch Wörter aneinandergereiht, die für mich vom Klang her reizvoll waren. Ich arbeite sehr gerne mit Klang – ich habe immer, wenn ich zwei, drei Sätze geschrieben hatte, mir diese Sätze laut vorgelesen, die ganze Zeit. Ich hoffe, dass man auch das Spiel mit dem Klang ins Spanische übertragen kann. Wie, weiß ich nicht.
Schau ins Blau: Sie haben Ihre Doktorarbeit über „Phantastik und Neo-Phantastik“ verfasst. Ihr Beispiel für diese Trendwende im Erzählerischen, die sie in den 80er, 90er Jahren ansiedeln, war Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“. Und nun haben Sie sich ja selbst eingeschrieben in die phantastische Literatur. Wie verhält sich denn Ihr fiktionaler Text zu Ihren theoretischen Überlegungen?
Barbetta: Ich bin glücklich, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, Ihnen zu sagen: Diese Frage werde ich nicht beantworten! Ich muss darauf nicht antworten, weil ich die Seite gewechselt habe – und Sie sprechen heute nicht mit der Literaturwissenschaftlerin, sondern mit der Autorin. Zum Glück! Und auch das ist ganz im Sinne von „Änderung von Damen“…
Schau ins Blau: Aber ich habe Sie halt gerade „mit beiden Augen angeschaut“ — und eines von beiden sieht nun mal die Literaturwissenschaftlerin… (Gelächter beiderseits)
Barbetta: Gut, ich geb’ ihnen eine versöhnliche Antwort. Julio Cortázar schätze ich auch deshalb, weil er nicht vom Phantastischen als Kategorie redet, sondern vom Phantastischen als Gefühl. Als Beispiel dafür erzählt er, wie seine Katze – namens „Theodor W.“, haha! – einmal irgend etwas in der Luft fixiert, irgendeinen Punkt. Und Cortázar sagt: Ich weiß nicht, was diese Katze da sieht – ich sehe nichts. Wir sehen nichts, aber Theodor W., davon ist Cortázar überzeugt, „Theodor W. kann das Phantastische sehen“. Das ist eine wunderschöne Definition für das Phantastische. Immer wieder kommt Cortázar auch auf Alfred Jarry zu sprechen und auf die Pataphysik, auf die „Wissenschaft der imaginären Lösungen“, die nichts Anderes ist als eine Osmose zwischen Wissenschaft, Kunst und Literatur, und er sagt: Die Pataphysiker untersuchen nicht die Regeln, sondern die Ausnahmen. Und in dieser Welt fühle ich mich wohl und zuhause. Es geht darum, ein Gespür zu entwickeln für das Außergewöhnliche im Alltäglichen, also diesen Blick, der bei dem Schild „Änderung von Damen“ entdeckt: Oh, da fehlt der Bindestrich – wo kann uns das hinführen? So würde ich mich einordnen wollen – oder auch nicht einordnen.
Schau ins Blau: Was Ihr Text und was die Bilder mit Phantastik zu tun haben, haben wir besprochen. In welcher Beziehung zum Phantastischen sehen Sie die Zusammenschau aus beiden Elementen?
Barbetta: Die „Stoffmuster“, die für mich immer stimmig waren, habe ich zum Teil intuitiv gesetzt, im Nachhinein aber habe ich einen Diskurs entwickeln müssen, um auch über diese Ebene des Romans sprechen zu können. Stellen Sie sich diese Bilder wie Türen vor, und die Motti, die ich immer wieder über ein Kapitel setze, wie Fenster. Ich habe versucht, diese Türen und Fenster einen Spalt weit offen zu lassen. Da kommt nicht nur eine frische Brise rein…
Schau ins Blau: … die „guten Winde“ sozusagen, buenos aires …
Barbetta (lacht): … ja, genau – dank dieser Türen und Fenster kann aber auch das phantastische Element Zugang in den Text finden, wenn man sich die Quellen der Bilder genauer anschaut. Ich habe versucht, mit verschiedenen „Erzählsubstraten“ zu arbeiten, von denen ich glaube, dass in ihnen das phantastische Element zuhause ist. Das ist natürlich zum einen die Religion samt dem Aberglauben, also der Mythensynkretismus. Dann die Pseudo- oder Populärwissenschaften (Stichwort Bermudadreieck), auch da ist das Phantastische zuhause. Und dann natürlich die Comic-Welt mit Wonder Woman zum Beispiel. Denn auch im Mythos ist ja das phantastische Element zuhause, und für mich ist die Comic-Welt eine Weiterführung des Mythos. Wonder Woman heißt ja, wenn sie sich in der bürgerlichen Welt bewegt, mit Decknamen Diana Prince. Wenn wir uns aber die Vorgeschichte von Diana Prince angucken, sind wir im Mythos. Sie kennen ja die Diana im Mythos, die Jagdgöttin und Jungfrau, und Wonder Woman ist ja ursprünglich eine Amazone, eine Mythenfigur wie Diana, und lebt auf einer Insel namens „Paradiesinsel“ mit lauter Frauen. Und ich behaupte: Das ist die Weiterführung des Mythos, nur „in poppig“. Deswegen habe ich auch die Comic-Welt einbezogen. Im Nachhinein wurde mir klar, dass hier dem Sprichwort „Kleider machen Leute“ eine besondere Rolle zukommt. Man könnte es auf die Spitze treiben und behaupten: Kleider machen Comic-Helden. Diana Prince ist eine langweilige Sekretärin, wenn sie sich dann aber ein‑, zwei‑, dreimal um die eigene Achse dreht, hat sie plötzlich keinen langen Rock mehr an, sondern ein knappes Höschen – und ist Wonder Woman.
Aber es geht in der Änderungsschneiderei Los Milagros ja nicht nur um eine äußerliche, „oberflächliche“ Verwandlung, sondern auch um eine Verwandlung, die nach unten führt, ins Innere der Hauptfigur, ins Innere des Textes, ins Innere des Brautkleides, des Gewebes, wo auch das Geheimnis versteckt ist. Es gibt zwei Ebenen in meinem Roman, so sehe ich das zumindest: Die Oberfläche mit all den bunten Kleidern, und es gibt eine Tiefe. Und viele der Bilder führen in diese Tiefe. Im ersten „Stoffmuster“ beispielsweise sind schwarze Punkte auf einem Stadtplan zu sehen (die hatte ich am Anfang nicht als schwarze Punkte vorgesehen, sondern als Löcher im Blatt), und man weiß nicht: Sind das die Gullideckel, von denen im ersten Kapitel die Rede ist, oder sind es Löcher von den Motten oder von den Nacktschnecken …? All das wird im ersten Kapitel nahe gelegt. Dann gibt es noch Jules Vernes 20.000 Meilen unter den Meeren oder das Kaninchenloch von Alice in Wonderland. Auch da geht es ja „nach unten“. In Alice in Wonderland sind es sogar nur die Anfangssequenz und die letzte Sequenz, die sich oben abspielen. Der Rest spielt sich unten ab.
Schau ins Blau: Sie haben Alice in Wonderland wahrscheinlich zuerst auf Spanisch gelesen?
Barbetta: Nein, auf Deutsch, natürlich auf Deutsch!
María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires (Argentinien) geboren, wo sie eine deutsch-argentinische Schule besuchte und Deutsch als Fremdsprache studierte. 1996 kam sie mit einem DAAD-Stipendium nach Berlin. Nach ihrer literaturwissenschaftlichen Promotion entschloss sie sich, in Deutschland zu bleiben, und lehrte fünf Jahre lang Spanisch an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Seit 2005 ist sie freie Autorin. 2007 bekam sie das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste und nahm an der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin teil. Für ihren Debütroman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ erhielt sie 2008 den Aspekte-Literaturpreis und 2009 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. [Foto: © Sven Paustian / Agentur FOCUS]