Orientierungsloses Umherblicken. Was passiert? Ich stehe mitten auf der Bühne, die Eintrittskarte noch in der Hand, vergebens nach der Reihe eins suchend, wo angeblich mein Sitzplatz sein soll. Neben mir, ebenfalls auf dem braunen Holz der Bühne, befinden sich Zuschauergruppen, die von Technikern direkt auf die Bühne der Berliner Volksbühne geführt wurden. Die Scheinwerfer sind auf das Publikum gerichtet. Die Flucht in den Zuschauerraum ist nicht mehr möglich. Wir sind im Rampenlicht. Die Scheinwerfer blenden. Plötzlich stehen die Schauspieler neben uns, begrüßen uns, sprechen uns direkt an, stellen sich der Reihe nach mit ihren realen Namen vor, erklären den Ablauf des Theaterabends und versichern: “Sie können machen, was Sie wollen!” Nach diesem Motto ist auch die ganze Aufführung
Kaprow City (2006) von Christoph Schlingensief organisiert. Das Publikum bewegt sich frei durch eine begehbare Installation, die aus zwei sich gegenläufig drehenden kreisförmigen Scheiben besteht. Sie erweist sich als ein monströses, unüberschaubares Gebilde aus achtzehn größeren und zwölf kleineren Räumen. Der Zuschauer wird nach bestimmten Zeiteinheiten durch Gongschläge, sich auf der drehenden Bühne befindlichen Techniker und Schauspieler immer wieder aufgefordert weiterzugehen — ?Bitte gehen Sie jetzt weiter”. Das Erzählen einer fiktiven Geschichte wird zugunsten der Herstellung von direkt erfahrbarer Gegenwart aufgegeben. Letztere wird durch ein Handeln im Hier und Jetzt zwischen Zuschauern, Schauspielern und der begehbaren Objektwelt der Installation produziert. Verunsichert drängen wir uns durch enge Türen in immer neue Räume, die auf Prinzipien des insbesondere in den 1960er Jahren wirkenden Happeningkünstlers Allan Kaprow verweisen und assoziativ mit dem Verlauf des tragischen Unfalls von Lady Diana verbunden sind — verschiedene Stationen der letzten Stunden der Prinzessin werden behandelt. Wir blicken durch Fenster, die den Blick frei geben auf Akteure, die beinahe verschwinden zwischen Monitoren, von Wänden hängenden Zeitungsfetzen, alten Tonbandgeräten, halbdurchsichtigen Folien, Bildern, alten Schaufensterpuppen, bemalten Wänden, Käfigen mit Hühnern, Neonröhren und Holzkreuzen. Wir sind niemals unsichtbar´ und genießen nicht - in einem verdunkelten Zuschauerraum auf roten Samtstühlen sitzend - die vorgespielte Illusion der Bühnenhandlung, wie es im konventionellen dramatischen Theater der Fall ist. Vielmehr werden wir uns unserer Gegenwärtigkeit bewusst, erfahren uns permanent als Handelnde und als die Aufführung mitkonstituierendes Element. Wir sind
sichtbarer´ Bestandteil der Aufführung und bestimmen durch unsere Präsenz den Verlauf mit. Jeder versucht einen Blick auf die in dem Raum stattfindende Aktion zu bekommen. Man geht weiter, von Raum zu Raum, unterhält sich über das Gesehene und vergleicht es mit den Wahrnehmungen der anderen, da man nie das Ganze sehen kann. Während man der einen Aktion beiwohnt, verpasst man in den anderen Kompartimenten simultan ablaufende Geschehnisse. Ständig ist man mit der Frage konfrontiert: Muss ich weitergehen oder auf den Gongschlag warten? Immer wieder werden wir von hektischen Technikern mit Headsets darauf hingewiesen: ?Bitte, gehen Sie jetzt weiter!”
Das Publikum im Rampenlicht
Die Inszenierung
Kaprow City erzeugt eine besondere Gegenwärtigkeit und
Liveness, was exemplarisch für die postdramatische Theaterpraxis ist. Schlingensief richtet sich gegen die dramatische Ausrichtung des Theaters, ausschließlich fiktive Welten auf der Bühne zu erzeugen, die die Zuschauer passiv im verdunkelten Zuschauerraum sitzend wahrnehmen. In
Kaprow City wird nicht eine andere Zeit erzeugt, sondern es geht um die momentane, gemeinsam mit dem Zuschauer erlebte und geteilte Zeit, die auch mit Hans-Thies Lehmann als ?Momentanismus” (1999b: 14) bezeichnet werden kann. Natürlich entsteht nicht nur im postdramatischen Theater Gegenwärtigkeit; auch im dramatischen Theater existiert ein abgeschwächtes Konzept von Gegenwärtigkeit, das darin begründet liegt, dass in der Live-Situation der Aufführung ein wechselseitiger Austausch zwischen Schauspielern und Zuschauern stattfindet. Die Reaktionen des Publikums beeinflussen das Geschehen auf der Bühne, und umgekehrt evozieren Schauspieler Reaktionen im Publikum. Die Gegenwart der Schauspieler wird im konventionellen dramatischen Theater nicht auf sich selbst bezogen, sondern für eine andere Zeit ausgegeben. Die Schauspieler referieren durch ihre Handlungen auf fiktive Charaktere, die einem absentischen Zeitkosmos zuzuordnen sind. Im dramatischen Theater herrscht somit eine
allgemeine Gegenwärtigkeit, die sich durch die kopräsentische Anwesenheit von Zuschauer und Schauspieler charakterisieren lässt. Diese allgemeine Gegenwärtigkeit des dramatischen Theaters wird bei
Kaprow City durch zahlreiche inszenatorische Mittel in eine besondere, für das postdramatische Theater typische
Liveness transformiert. Eine neue Wahrnehmungshaltung des Zuschauers entsteht, der das Geschehen als Aktion im gegenwärtigen Moment stattfindend wahrnimmt. Das Publikum steht ebenfalls im Rampenlicht, wird direkt angesprochen und ist sich seiner gestalterischen Mitverantwortung am Theaterabend bewusst. Die im dramatischen Theater konstitutive vierte Wand wird durchbrochen, sodass einerseits der Schauspieler in seiner eigenen Phänomenalität wahrgenommen und andererseits sich auch der Zuschauer seiner die Aufführung mitbestimmenden Rolle bewusst wird. Anhand von
Kaprow City können verschiedene Konzepte der Arbeit mit der Gegenwart des Theaters erarbeitet werden, da diese dem postdramatischen Theater zuzuordnende Inszenierung vielschichtig mit dem Hier und Jetzt, der Real-Zeit gegenüber der fiktiven Zeit, dem gegenwärtigen Moment zwischen Akteur und Zuschauer arbeitet. Schon der Titel
Kaprow City verweist auf ein sich um 1960 herausbildendes Genre, das auf eine besondere Art und Weise mit der Herstellung von Gegenwart in Verbindung zu setzen ist, das Happening. Der amerikanische Künstler Allan Kaprow (1927–2006), der stark von John Cage und Jackson Pollock beeinflusst ist, prägte den Begriff des Happenings, das sich um die 1960er Jahren im Zuge der Verschmelzung der Gattungsgrenzen zwischen Bildender Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Theater herausgebildet hat. Christoph Schlingensief bezieht sich mit seiner ?begehbaren Installation” auf das von Allan Kaprow zur Eröffnung der New Yorker Reuben Gallery im Jahr 1959 organisierte Happening
18 Happenings in 6 Parts, das als eines der berühmtesten Aktionen in die Kunstgeschichte einging. Kaprow schafft ein
Environment, das aus drei kleineren Räumen besteht, die mit halbdurchsichtigen Plastikfolien voneinander getrennt sind. Diese Folien sind mit Verweisen auf Kaprows frühere Werke in Form von Zeichnungen und Collagen bemalt. Zudem sind in den Räumen Plastikfrüchte aufgereiht und Tafelbilder angeordnet, auf denen einige Wörter gemalt sind.
18 Happenings in 6 Parts ist in sechs zeitlich festgelegte Teile gegliedert, wobei jeder Teil aus drei simultan stattfindenden Aktionen besteht. Ein Glockenschlag signalisiert jeweils den Anfang und das Ende eines Teilstückes. Die Zuschauer setzen sich auf verschieden nummerierte Stühle, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Das Publikum wird nach jeder Aktion aufgefordert, in den jeweils nächsten der drei Räume zu gehen, um verschiedene choreographierte Handlungen der Akteure zu verfolgen — insgesamt achtzehn einzelne Aktionen, die sowohl simultan als auch aufeinander folgend durchgeführt werden, sodass man nie alle achtzehn Aktionen des Happenings sehen kann. Ein ernst blickendes Mädchen drückt Orangen aus, lässt den Saft in zwölf Gläser tropfen und trinkt jeweils ein Glas in einer Zeiteinheit. Von einem anderen Raum dringen Gelächter und der Rhythmus eines Tamburins herüber. Der Gongschlag führt die Zuschauer in den nächsten Raum, in dem schon ein dem Publikum den Rücken zuwendender Mann damit beschäftigt ist, eine Leinwand zu bemalen. Ab und zu blicken die Zuschauer unsicher auf die zu Beginn des Happenings ausgeteilten Instruktionen: ?You will become a part of the happenings; you will simultaneously experience them (…) some guests will also act” (Goldberg 2001: 128f.). Auch bei Schlingensiefs
Kaprow City erklingt ein Gongschlag, der das Publikum dazu auffordert, in den nächsten Raum zu gehen, um dort einer performativen Handlung beizuwohnen. Doch nicht immer ist in dieser gewaltigen Reizüberflutung und Geräuschkulisse, die durch die laufenden Monitore, Musik und in Mikrophone gebrüllte Kommentierungen und Aufforderungen erzeugt wird, der Gongschlag zu vernehmen, sodass man immer wieder aufgefordert wird, weiterzugehen. Auch bei Schlingensief gibt es einen Akteur, der Orangen auspresst, den Saft aber nicht sorgfältig in Gläser tropfen lässt, sondern ihn sofort mit dem Mund aus der Orange saugt. Die Zuschauer, die auf einer schmalen Holzbank sitzen und den handelnden Akteur sowie die mit Textflächen beschmierten Wände betrachten, werden mitunter von Bildern und Objekten vergangener Inszenierungen von Schlingensief und von permanent wiederkehrenden Geräuschen aus Nachbarräumen abgelenkt. Hektische Blicke durch Fenster in Nachbarräume zeugen von einer die Aufführung ständig begleitenden Angst, etwas verpassen zu können. Zu Beginn der Aufführung wird lautstark versichert: ?Kein Zuschauer sieht alles!”
Postdramatische Gemeinschaft
Sowohl bei Kaprow als auch bei Schlingensief wird der Zuschauer nicht ausgeblendet und durch die vierte Wand vom Bühnengeschehen getrennt, sondern als aktiv Handelnder verstanden, der auf der gleichen zeitlichen Ebene angesiedelt ist wie die Akteure. Immer wieder kommt es zu Blickkontakten zwischen den Zuschauern und den Akteuren oder sogar zu direkter Ansprache des Publikums. Der Zuschauer wird in den Prozess der Aufführung einbezogen. Es findet ein kollektives Handeln im Modus des Realen statt. Die Handlungen der Schauspieler verweisen auf die gegenwärtige Zeit — auf die ?Jetzigkeit” — und heben so die für die Aufführungszeit hergestellte Gemeinschaft zwischen Zuschauern und Akteuren hervor. Gerade der Aspekt der Gemeinschaft zwischen Schauspielern und Zuschauern scheint eine zentrale Kategorie der Inszenierung zu sein, um Gegenwart zu produzieren: Die Köpfe der Zuschauer werden nicht von der aktuellen Zeit ‘entleert´, um eine Dominanz der fiktiven Zeit herzustellen — wie es im dramatischen Theater intendiert wird -, sondern das Publikum ist sich in der postdramatischen ästhetischen Praxis zunehmend der Gegenwärtigkeit der Schauspieler bewusst, was sich mit den Begriffen des ?now” von Jean-François Lyotard (1986: 11), des ?absoluten Präsens” von Karl Heinz Bohrer (1997: 41) oder der von Walter Benjamin geprägten Bezeichnung des ?Hier und Jetzt” (1934/35) umschreiben lässt. Es können verschiedene Gemeinschaftskonzepte differenziert werden, die sowohl die Handlungen der Schauspieler als auch die Rolle des Zuschauers in der Aufführung berücksichtigen. Es gilt, ein schwaches, starkes und radikales Gemeinschaftskonzept anhand der Inszenierung von Christopf Schlingensief zu erarbeiten, deren Ausdifferenzierung zudem ermöglicht, eine Trennung zwischen dramatischem und postdramatischem Theater zu vollziehen und die Vielheit theatraler Ansätze des Gegenwartstheaters zu gruppieren. Bisher hat sich gezeigt, dass im dramatischen Theater eine allgemeine Gegenwärtigkeit vorherrscht, die dem schwachen Gemeinschaftskonzept zugeordnet wird. Der Zuschauer befindet sich im verdunkelten Zuschauerraum und verfolgt den auf der Bühne erzeugten fiktiven Kosmos und vermag durch Reaktionen wie Gelächter, Applaus, nervöses Rutschen auf dem Sitz, gelangweilte Stille, etc. das Bühnengeschehen zu beeinflussen. Diese wechselseitige Bezogenheit ist durch die Gleichzeitigkeit von Rezeption und Produktion bedingt. Die Trennung vom Zuschauerraum besteht, indem die vierte Wand meist geschlossen bleibt und die innerszenische Kommunikation zwischen den fiktiven Figuren dominiert. Bei
Kaprow City entsteht jedoch eine veränderte Kommunikationssituation. Es kommt zu einer direkten Ansprache des Publikums durch die Schauspieler, was zu einem ?Einbruch des Realen” (Lehmann 1999a: 172) und zu einer Intensivierung der dem Theater inhärenten Gegenwärtigkeit führt. Die tradierte hierarchische Anordnung von Schauspieler und Zuschauer wird zugunsten einer ebenbürtigen Face-to-Face-Kommunikation nivelliert, sodass ein gemeinsamer Aktions- und Wahrnehmungsraum geschaffen wird. In
Kaprow City sprechen Techniker mit Headsets die Zuschauer an, ein Filmteam verfolgt Schauspieler und Publikum und projiziert das Geschehen auf eine vor der drehbaren Installation angebrachten Leinwand. Das Publikum wird durch die Schauspieler begrüßt und die Akteure des Abends mit realen Namen vorgestellt. Im Verlauf der Aufführung deuten die Schauspieler zwar partiell Figuren wie Lady Diana, Prinz Charles oder die Queen an, gehen darin aber nicht auf; sie bleiben immer als Handelnde im Hier und Jetzt der Bühnensituation. Durch permanente Anweisungen der Schauspieler über Lautsprecher oder durch direkte Aufforderungen der Techniker ist sich der Zuschauer immer seiner Anwesenheit bewusst und versinkt nicht passiv in eine präsentierte Bühnenhandlung. Die Dekonstruktion der fiktiven Matrix, bei der dem Zuschauer verstärkt die Gegenwärtigkeit des Theaters bewusst wird, soll dem starken Gemeinschaftskonzept zugeordnet werden. Dieses starke Vergemeinschaftungskonzept kann als dominantes Verfahren einer postdramatischen Inszenierungsstrategie angesehen werden. Auch das radikale Gemeinschaftskonzept ist bei
Kaprow City zu finden. Die Zuschauer werden hierbei nicht nur direkt angesprochen und auf die Ebene des Realen verwiesen. Beim radikalen Konzept der Gemeinschaft wird der Zuschauer regelrecht befohlen, partizipativ am Bühnengeschehen mitzuwirken. Gegen Ende der Aufführung werden wir aufgefordert, in den Mittelpunkt des Drehgebildes zu gehen. Alufolien werden ausgeteilt und wir sollen uns damit gegenseitig einwickeln, sodass ein Netz zwischen den Schauspielern und Zuschauern entsteht. Die Alufolien werden von Person zu Person weitergereicht. Dazwischen agieren die Schauspieler, lassen sich ebenfalls einwickeln oder sogar von uns über unseren Köpfen tragen. Wir wohnen nicht nur einer Aktion bei, die ohne eine fiktive Matrix auskommt, wir handeln sogar gleichberechtigt neben den Schauspielern. Die Trennung zwischen Schauspieler und Zuschauer ist aufgehoben, zugunsten einer Interaktion zwischen gleichgestellten Teilnehmern — frei nach dem Motto: “Machen Sie mal was! Was ist egal”.
Bilder
Literatur
- Benjamin, Walter (1934/35):
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Engel, Lorenz (Hg.):
Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999. - Bohrer, Karl Heinz (1997):
Das absolute Präsens. Frankfurt/M. - Fischer-Lichte, Erika (2004):
Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. - Goldberg, RoseLee (2001):
Performance Art.
From Futurism to the Present. London. - Lehmann, Hans-Thies (1999a):
Postdramatisches Theater. Frankfurt/M. - Lehmann, Hans-Thies (1999b):
Die Gegenwart des Theaters. In: Fischer-Lichte, Erika, et al. (Hg.):
Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin. - Lyotard, Jean-François (1986):
Der Augenblick, Newman. In: Lyotard, Jean-Francois:
Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin.