picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Şeyda Kurts essayistisches Programm einer utopischen Zwischenmenschlichkeit: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist.
von Steven Gabber
Das Zeitalter, in dem sich Mann und Frau in naiver Zweisamkeit ihre Liebe gestehen können, ist vorbei. Zumindest für die Journalistin Şeyda Kurt. Liebe – das ist für sie zunächst einmal Arbeit, schreibt sie in ihrem programmatischen Essay Radikale Zärtlichkeit. (2021). Auf monogame, heterosexuelle Zweierbeziehungen, so wie sie unsere Gesellschaft zur alternativlosen, idealen „Norm“ (v)erklärt, reagiert Kurt mit scharfsinniger Skepsis. Zu groß die Potenziale für Machtmissbrauch zwischen den Geschlechtern, zu politisch das Konzept der Liebe. Deshalb durchbricht Kurt die mit viel Romantik parfümierte Schale des Begriffes und bringt darunter einen faulen, ideologisch verdorbenen Kern hervor. Analytisch geht sie der historischen Dimension der Liebe nach und arbeitet dabei die patriarchale, rassistische und kapitalistische Seite des Konstrukts heraus. Im Namen der Liebe beuten Männer ihre Frauen nicht nur aus, wenn sie sie in die Rolle der Hausfrau drängen und damit wirtschaftlich entmündigen. Auch global gesehen erfahren ganze (Sub-)Kulturen Diskriminierung, wenn sie von der monogam-heterosexuellen Norm abweichen.
Natürlich geht es der Autorin nicht darum, monogame Beziehungen zwischen Frau und Mann prinzipiell zu verteufeln. Doch bringt sie berechtigte Einwände gegen die Exklusivität, mit der unsere Gesellschaft ihre „Liebesnorm“ vor alternativen Konzepten verteidigt. Abweichende Beziehungsmuster, etwa polyamore oder homosexuelle Zwischenmenschlichkeit, begreift Kurt als regelrechte Zielscheiben für (nicht selten politische oder institutionalisierte) Diskriminierung.
Nur wie kann ein valider Gegenentwurf aussehen, geschweige denn sich gegen die harte Hand einer patriarchalen Normgesellschaft durchsetzen? Zwar besitzt Kurts Programm einen revolutionären Charakter, doch begreift sie ihre eigenen Ausführungen realistischerweise als einen utopischen Entwurf. Deswegen verliert ihre Argumentationsstruktur jedoch keineswegs an Schlagkraft. Insbesondere mit Blick auf geschlechtliche Identitäten und Sexualitäten, die die Normgesellschaft ausgrenzt, kreiert sie ein Paradigma der Offenheit und Inklusion. Radikale Zärtlichkeit, wie Şeyda Kurt sie definiert, soll ebenjene verfestigten Grenzen, die die Liebe mit sich bringt, aufhebeln. Sie fordert eine gewaltfreie Zwischenmenschlichkeit, in der Partner*innen völlig unabhängig von Geschlecht, Rolle und Gesellschaft ihre Beziehung nach eigenen Maßstäben gestalten können.
Kurts Text ist dabei alles andere als ein kühler Essay, der sein Programm nur analytisch zu Papier bringt. Seinen soliden Status als literarisches Kunstwerk beweist der Text, blickt man etwa auf die Montagetechnik, mit der die Autorin ihre Inhalte vermittelt. In ihre Argumentation webt sie neben philosophischen und soziokulturellen Ausblicken auch autobiographische Episoden ein, die die persönliche Natur ihres Anliegens markieren. Als Tochter einer Gastarbeiterfamilie kurdischer Herkunft beweist Kurt eine enorme Sensibilität für ihre Themenfelder, die um soziale Ausgrenzung kreisen. Als Kontrast dazu wirken andere, postmodern anmutende Textfragmente, wie etwa ihr fiktives Interview mit Karl Marx befreiend komisch und verhindern, dass der Text im Ernst seiner Sache polemisch oder gar dogmatisch wird. Dass man sich über die Tatsache, dass sich der imaginierte Marx in Jugendsprache artikuliert – eine zugegebenermaßen etwas forcierte ästhetische Entscheidung – streiten kann, fällt nicht groß ins Gewicht.
Betrachtet man Şeyda Kurts Radikale Zärtlichkeit in seiner Gänze, steht man vor einem sorgfältig recherchierten, sprachlich gut zugänglichen Text, der das traditionelle Konzept der Liebe gnadenlos in seine Einzelteile zerlegt. Ohne Rücksicht auf Verluste stellt Kurt unbewusste Beziehungsschemata ihrer Leser*innen provokativ auf die Probe und bringt dabei mit Sicherheit die ein oder andere Festung der vorherrschenden Machtstrukturen ins Wanken. Was davon übrigbleibt, sind die maroden Bausteine einer patriarchalen, rassistischen, kapitalistischen Gesellschaft. Absolut ungeeignetes Material für Kurts gewaltfreies Gegenprogramm einer radikalen Zärtlichkeit, die trotz ihrer utopischen Züge einen validen Zielpunkt der Zwischenmenschlichkeit markiert.
Şeyda Kurt, Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. 224 Seiten, HarperCollins, 18,00€.