© Lena Boretzki
von Gabriel Gavran
Du schaust nervös auf die Uhr. Noch sieben Minuten, bis der Bus die Haltestelle vor deiner Haustüre erreicht. Heute musst du pünktlich sein. Man sieht dich selten so aufgeregt. Du achtest sehr auf deine Uhr. Keine Sekunde geht unbemerkt vorbei. Dennoch bist du wieder unter Zeitdruck geraten. Du hast dich bereits angezogen und deine Haare sind sorgfältig gestylt. Den Großteil deines Feierabends hast du damit verbracht, deine Haare zu föhnen, zu kämmen und in Form zu bringen. Nun glänzen sie tadellos und sehen Gucci aus, wenn du sie skeptisch im Spiegel betrachtest. Auch bei der Klamottenwahl bist du Hustler vorgegangen. Ja so penibel bist du nie zuvor in deinem Leben gewesen. Du suchst dein schwarzes Roberto Collina — Hemd hervor. Pedantisch hast du es gebügelt. Bei der Auswahl der Hosen, die dazu passen sollen, bist du heute verzweifelt gewesen.
Letzen Endes hast du dich für deine graue Massimo Dutti Chino-Hose entschieden, die du vor kurzem gekauft hast. Weil du alles peinlich genau aussuchst, hast du die Zeit aus den Augen verloren. Hastig putzt du nun dir die Zähne, während du versuchst, dich dabei im Spiegel beobachten. Vor ihr willst du flawless erscheinen, das hast du dir geschworen. Schon die ganze Woche lang fieberst du auf diesen Tag hin. Du hast dich mit einem Haufen Gedanken durchlöchert, bist unendlich viele Themen durchgegangen, über die man reden kann, wenn ihr zusammen im Lex Deux am Tisch sitzt. Für dieses Date soll alles perfekt sein. Die Kosten sind dir heute egal. Deine äußerliche Erscheinung versuchst du zu perfektionieren und es macht dir Spaß. Auch jede deiner Gesichtszüge und die Reichweite deiner Intonation willst du beherrschen, damit sie dich genauso geil findet, wie du sie geil findest. Du lächelst, weil dir wieder einfällt, dass ihr nur zu zweit sein werdet.
Du spuckst in das Waschbecken aus, schaust auf deine schwarze Edelstahl Fossil-Uhr am Handgelenk. Vor Jahren hast du sie geschenkt bekommen und trägst sie generell nie. Vor allem auf der Arbeit nicht, weil sie in deinem roten Vodafone-Shirt fake aussieht. Das 3‑Zeiger-Werk sagt dir, dass du noch 5 Minuten hast. Du greifst in den Badschrank, nimmst ein überteuertes Calvin Klein Parfüm heraus und trägst es vorsichtig an deinen Hals auf. Ein kurzer Schweißcheck, du riechst an deinen Achseln und alles passt. Bevor du das Bad verlässt, wirfst du einen letzten Blick in den Spiegel. Dein Grinsen ist breit und dein Style on Point.
Deine Melvin & Hamilton Schuhe stehen bereits vor dem Schuhschrank. Heute Morgen um 7 hast du sie aus der Reinigung abgeholt. Das schwarze Leder war frischpoliert und du hast für die Schuhe extra neue Tommy Hilfiger Socken im Röther gekauft. Langsam schlüpfst du in sie hinein. Sie sollen nicht ihren Glanz dabei verlieren. Auf der Uhr liest du ab, dass dir noch 3 Minuten bleiben. Der Bus hält um 18:37 Uhr. Diese verbliebenen 180 Sekunden kommen dir heute sehr gelegen. Es ist zu wenig Zeit, um an der Bushaltestelle dein Date in unnötigen Selbstgesprächen zu überdenken. All der Glamour und Rizz wären umsonst, wenn du unsicher aufkreuzen würdest. Du denkst, dass du fett Glück hast, dass alles läuft.
Nachdem du tief ein- und ausatmest, öffnest du deine Wohnungstür und gehst hinaus. Du weigerst dich, nochmal in den Spiegel zu schauen. Alles an dir findest du geil. Selbst dein out-of-season schwarzer Bugatti-Gürtel pusht dein Ego. In diesen 3 Minuten musst du nur noch die Treppen heruntersteigen, die Haustüre öffnen und auf die andere Straßenseite wechseln. Deine Hosentaschen tastest du ab, spürst dein Handy, deinen Geldbeutel und die Schlüssel am Körper. Du ziehst die Wohnungstür fest zu. Du kommst dir so Money vor, so gehoben Mittelschicht in deinem Mehrfamilientreppenhaus.
Du läufst die Treppen vom dritten Stock herunter. Deine Anspannung kannst du fast nicht aushalten, das Grinsen ist breit. Seit Tagen denkst du im Handyladen, während du paar Rentner scamst, nur an diesen Abend. Du stellst dir vor, wie du sie sehen wirst und sie lächelt. Dein Kopf hat nur Platz für sie, weshalb du die wütenden Schreie im Treppenhaus zunächst nicht hörst. Die Welt um dich herum lässt du verschwinden. Alles läuft automatisch ab – die Bewegungen deiner Hände, das Heruntersteigen der Treppen – nichts nimmst du bewusst wahr. Naja, außer dein Date im Lex Deux um halb 8 und dessen tausende, hypothetische Ausgänge. Bevor du die Etage des ersten Stocks siehst, reißt dich das Brüllen einer Männerstimme in die Realität zurück.
Eine Wohnungstür steht speerangelweit offen. Du bemerkst, dass du dich mit deiner linken Hand am Treppengeländer festhältst. Irgendetwas in dir will, dass du dich festkrallst. Du stehst, als wärst du in Gefahr. Vor dir ein Typ mit weißem, printlosen oversized T‑Shirt. Sein Gesicht sieht aus, als würde die Wut es deformieren. Er hatte seine Hand erhoben. Sie ragte irgendwie gewalttätig hervor, deine Auffassung nicht meine, und am Handgelenk trägt er eine klassische Gold Green Uhr. Solche Uhren gefallen dir. Aufgeplustert steht der Mann vor einer keuchenden Frau. Ihre Nase blutet und sie weinte, aber sie sagt auch, dass der Typ vor dir ein feiger Hurensohn und ein dummer Schwanzlutscher sei. Sie trägt einen feinen, beigen Rollkragenpullover und eine helle Levi-Jeanshose. Sie sieht gut aus. Jedenfalls hast du diesen Eindruck.
Du bemerkst auch die Jeans des Mannes. Ihre groteske Ähnlichkeit zu deiner eigenen Garderobe. Er trägt eine Gabbiano Slim-Jeans, sowie du es auch tust. Er hatte sie auch an, als er sich bei dir vor zwei Wochen das iPhone 14 Pro Max gönnte. Dafür hast du kein Cash. Dabei hat er so getan, als würde er dich nicht kennen. Als deine Augen im nächsten Moment wieder das fremde, verzerrte Gesicht registrieren, wird dein Blick vom Mann erwidert. Plötzlich schaut er wie ein erschrecktes Kind. Der Mann hat seine eigene Fahrschule und in der Tiefgarage steht sein GTI neben deinem Decathlon-City Bike, das du im Angebot gekauft hast. Seine Hand lässt er augenblicklich fallen und der vor kurzem noch so krasse tough Guy wendet seine Augen von dir ab. Seine dominante Haltung ist weg. Dir ist trotzdem unwohl.
Du hast schiss. Während du weiterhin den Mann ansiehst, fällt dir ein, dass du atmen musst. Du schnappst nach Luft. Der Typ fasst sich beschämt an den Arm, tappt nervös mit dem Fuß. Du siehst, dass er keine Schuhe anhat, nur weiße Socken ohne Loch. Er sagte auf einmal halblaut „Hey“, macht Anstalten dir kurz zuzuwinken. Gegrüßt hatte er dich zuvor nie. Es sieht erbärmlich aus, wie er weiterhin versucht, deinen Blicken auszuweichen. Er versteckt sich vor dir. In wenigen Sekunden ist aus dem Typen ein scheuer Junge geworden, der verlegen seine Finger in den Arm bohrt. Du hast immer noch schiss.
Die Frau rafft sich vom Boden auf, das Blut an der Nase. Der Rollkragenpullover ist versaut. Von ihrem Kinn tropft Blut herunter, was dich anekelt. Sie schaut dich nun an und fragt, was du Pisser sie so anglotzt und ob du ein scheiß Autogramm von ihr willst. Wenn sie mit der Nachbarsoma vom zweiten Stock labberte, klang sie snobby und smart. Du hattest dann ein Gefühl, in diesem Haus fehl am Platz zu sein. Du kamst dir in ihrer Anwesenheit immer low-budget vor. Keiner von euch antwortet. Was sie sagt, trifft auf taube Ohren. Auf deine tauben Ohren.
Du siehst die beiden an, hältst dich immer noch am Geländer fest, so als ob du von dieser RTL ‑Mitten-im-Leben Präsentation eingesaugt werden könntest. Zu keinem Zeitpunkt hast du etwas getan. Du willst absolut kein Teil davon sein und kommst dir auf einmal ekelhaft vor, weil du dem Mann im Style ähnelst. Die Frau verschwindet in die Wohnung und der Mann schaut ihr nach.
Keiner spricht ein Wort. Auch du nicht.
Man hört aus der Wohnung das Fluchen der Frau und der Mann tappt wieder mit seinem Fuß vor der Wohnungstür. Du weißt genau, was hier passiert ist. Wortlos gehst du langsam an dem Mann vorbei, krallst dich am Handlauf fest. Du meidest den Augenkontakt mit ihm. Aus der Wohnungstür heraus tönt leise ein Radio. Irgendein neuer Kesha Song. Dann verschwindest du von diesem Stockwerk. Es fühlt sich an, als würde eine Ewigkeit vergehen. Die Treppen zum Erdgeschoss läufst du dagegen rasch herunter. Deine Hand löst sich auf einmal auch vom Handlauf. Dich umzudrehen, wagst du nicht. Du wagst überhaupt nichts. Hinter dir hörst du kein Wort, nur das Schließen einer Wohnungstür. Du reißt die Haustüre auf, gehst zur Straße hinaus und drückst instinktiv die Tür hinter dir zu. Du weißt doch, dass die Tür von allein zufällt.
Lost stehst du auf dem Gehweg und hast keinen Plan, wohin mit dir. Von diesem Moment an laufen die nächsten 106 Sekunden automatisch ab. Du nimmst keine Personen in deiner unmittelbaren Nähe wahr. Ohne dich umzuschauen, überquerst du die Straße zur Bushaltestelle hin. Du denkst an nichts. Kein Gesprächsthema oder sonstiger Bullshit wollen sich formen.
Als die Bustüren sich vor dir öffnen, schreckst du auf. Erst als eine Oma mit Kopftuch aus dem Bus aussteigt, wird dir klar, was du eigentlich vorhast. Du steigst ein, während der Busfahrer dich nicht ansieht. Tagelang hast du dich darauf vorbereitet. Aber das weißt du ja.
Die wenigen Fahrgäste würdigst du mit keinem Blick. Als wären sie nicht existent. Dabei weißt du, dass sie da sind. Was Wirklichkeit oder Fantasie ist, dass verstehst du genau. Du sitzt allein an einem abgenutzten Sitzplatz, dessen buntes Polster in ein ekelhaftes Grau schwindet. Die Einkerbungen und Kritzeleien vor deinem Sitz betrachtest du nicht, du starrst nur aus dem Fenster. Du starrst den trashigen Döner, die abgefuckte Spelunke und die grauen Gebäude an, als sähst du sie zum ersten Mal
Nach einigen Haltestellen fällt dir auf einmal dein eigenes Gesicht im Spiegelbild auf. Du hattest eigentlich nur Augen für dich selbst. Der Eifer, mit dem du dich gepflegt hast, ist weg. Du streichst dir durch die gestylten Haare. Eine Locke bricht heraus und deine Hand spielt mit ihr. Du lässt sie stehen.
Gabriel Gavran, 1994 in Zagreb geboren und in Aalen aufgewachsen studiert in Augsburg den Masterstudiengang Germanistik. Gavran war Teil der bayerischen Akademie des Schreiben 2023 und wurde von der Autorin Paula Fürstenberg und Lektor/Verleger Tillmann Severin mentoriert. Werke von Hesse, Brautigan, Mishima und Bukowski rezipierte er während seines Studiums intensiv und weist diese Autoren als großen Einfluss für sein eigenes Schaffen auf.
Der Blaudruck “Spiegelung 4” stammt von der Künstlerin Lena Boretzki. (Instagram)
Lena Boretzki studiert aktuell nach einem FSJ an einer Kinder- und Jugendkunstschule Kunst und Mathematik auf Lehramt an der Universität Augsburg. Ihr künstlerischen Schwerpunkt liegt vor allem auf der analogen/digitalen Fotografie sowie der abstrakten Ölmalerei. Dabei beschäftigt sie sich u.a. mit der Überwindung des Abbildhaften und setzt ihre Ideen gerne technikübergreifend um, wie das bei der Cyanotypie auch der Fall ist. So nutzt sie dieses fotografische Druckverfahren, um z.B. Eindrücke einer eigenen Installation aus Metall und Spiegeln stark zu verfremden oder collagenartig mit Zeichnung und Schrift zu arbeiten.