von Vivien Claire Bergjann
Ich stehe hier am Ufer und bin allein in deiner Stadt. 1,8 Millionen Menschen leben in dieser Stadt, aber für mich gehört sie nur dir. Hätte ich deine Stadt früher betreten, würdest du neben mir stehen.
Da drüben ist das Gebäude so und so, da habe ich schon mal das und das gemacht. Einmal haben der und der und ich dort drüben richtig lange auf ein Taxi gewartet. Da mussten wir ganz dringend da und da hin, aber haben stattdessen so und so lang auf dieses blöde Taxi gewartet.
Während du das gesagt hättest, hätte ich dich angeschaut und einen Fussel von deiner Mütze gezupft. Du hättest gelächelt und meine Hand genommen.
Jetzt gehen wir noch da und da hin. Dafür müssen wir erst an diesem und jenem Park vorbei. Es ist eigentlich eine schöne Strecke, da kommen wir gleich hier und dort vorbei.
Wir wären durch diese dunkelleuchtende Stadt gelaufen und deine Hand wäre mein Anker gewesen. Vielleicht wäre auch meine Hand dein Anker gewesen.
Vielleicht hätten wir beide gedacht, dass der andere uns Halt gibt, während wir eigentlich beide im freien Fall miteinander sind. Aber ich halte deine Hand jetzt nicht. Alles, was du zu mir sagst, ist nur meine Vorstellung von dem, was hätte sein können; wäre ich etwas mutiger gewesen.
Ist dir kalt? Wir könnten kurz in ein Café gehen. Das ist da und da, ganz in der Nähe von hier. Gestern sind wir dran vorbeigelaufen, als wir bei so und so waren.
Mir fehlen so viele Worte in meiner Vorstellung. Es ist deine Stadt. Es sind deine Straßen, deine Häuser, deine Parks und deine 1,8 Millionen Menschen, die hier leben. Ich kenne ihre Bezeichnungen und Namen nicht. Ich kenne keinen der 7500 Straßennamen, weil ich nicht weiß wie du sie nennst. Ich kannte dich und du hast mich deiner Stadt nie vorgestellt. Dabei ist deine Stadt so schön. Du hast mich zu ihr hingezogen, aber leider viel zu spät.
Ach, schau mal! Da vorne ist die und die. Hallo! Die und die, das ist Vivien. Sie besucht mich momentan und bleibt für ein paar Tage in meiner Stadt. Du hast schon viel von ihr gehört, ich weiß. Ich rede viel von ihr. Wir müssen leider weiter, aber wir sehen uns bestimmt ganz bald. Tschüss, die und die!
Während du mich vorgestellt hättest, hättest du meine Hand nur losgelassen, um deinen Arm um mich zu legen. Aber du stellst mich niemandem mehr vor. Ich weiß nicht ob du noch über mich sprichst und du weißt nicht, dass ich in deiner Stadt bin. Ich habe die Grenze zu dir und deiner Stadt erst überschritten, als du sie mir nicht mehr zeigen wolltest.
Da sind wir auch schon: Café so und so. Das gehört der Mutter von irgendjemand, aber das habe ich dir ja schon mal erzählt, oder? Als wir telefoniert haben.
Ich habe auf meinem Telefon Tausende von deinen Worten; geschrieben und gesprochen. Keines dieser Worte hilft mir jetzt in deiner Stadt. Sie bleibt mir fremd, weil du es mittlerweile auch bist. Du hast dich in den Kern dieser Stadt zurückgezogen und ich stehe im äußersten Ring und habe Angst mich anzunähern.
Möchtest du etwas trinken? Dieser und jener Tee ist hier sehr lecker. Ich trinke den oft dann und dann, wenn ich einen langen Tag hatte.
Du hättest das Teelicht auf dem Tisch mit deinem Feuerzeug angezündet und ich hätte dich ermahnt, weil ich gedacht habe, dass du mit dem Rauchen aufgehört hast. Du hast immer zu viel geraucht. Machst du das jetzt auch noch?
Das wollte ich auch. Aber du weißt wie viel Stress ich gerade bei der Arbeit habe. Der und der macht mich fertig. Immer wenn ich das und das mache ist er unzufrieden, dabei ist ja genau das mein Job. Wenn der Job vorbei ist, höre ich auf. Versprochen.
Ich weiß nicht wo du jetzt arbeitest, deswegen fehlen mir auch diese Worte in meiner Vorstellung. Ich sitze allein am Tisch und das Teelicht ist aus.
Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich wollte dir meine Stadt schon so lange zeigen. Ich habe dir doch immer erzählt, wie schön der Hafen bei Nacht ist und jetzt hast du es selbst gesehen.
Der Hafen ist wirklich schön. Die Flutlichter erleuchten das Wasser in einer Farbe, welche mich an deine Augen erinnert. Ich konnte es nicht überprüfen, als ich vorhin am Wasser stand. Du warst ja nicht bei mir, um mir einen Blick in deine Augen zu erlauben. Dein Blick hat sich abgewendet und ich bereue es, nie deine Augen mit dem Wasser im Flutlicht verglichen zu haben. Die Chance dazu hatte ich.
Schmeckt dir der und der Tee? Wenn nicht, wirf einfach noch so und so viel Zuckerwürfel rein, dann ist er richtig gut!
Noch nie waren diese Lücken in deiner Stadt und meiner Vorstellung so schmerzhaft für mich. Ich habe die Worte nicht und ich vermisse sie; mir fehlen die Worte.
So. Es wird spät. Lass uns am besten nachhause gehen. Das ist von hier aus nur so und so weit. Da sind wir schnell da. Hier, ich gebe dir meine Jacke, dann ist dir nicht so kalt.
Wärst du da, hättest du mir die Tür aufgehalten. Ich mache sie selbst auf und trete vor die Tür von diesem Café, dessen Namen ich nicht kenne, weil du mir nie erzählen konntest, was es dir bedeutet.
Ich hatte Angst vor deiner Erzählung und deinen Worten. Angst vor deiner Stadt und auch ein bisschen davor, was du für mich hättest sein können.
Ohne Orientierung laufe ich den gleichen Weg zurück, den ich hergekommen bin. Meine Vorstellung von dir muss hier abreißen, schließlich habe ich nie erfahren wo du wohnst in deiner Stadt. Du konntest es mir nie erzählen, weil ich dich nicht gelassen habe.
Du hast lange auf mich gewartet in deiner Stadt, aber aus keinem der 720 Züge, die täglich in deiner Stadt Halt machen, bin ich ausgestiegen. Du wolltest nicht mehr warten und als ich endlich ausgestiegen bin, hast du nicht mehr am Gleis gewartet.
Es ist so schön, dass du hier bist, Vivien.
Vivien Claire Bergjann wurde 2001 in Aalen geboren und absolvierte nach ihrem Abitur ein FSJ Kultur am Theater der Stadt Aalen. Hier inszenierte sie ein eigenes Kinder- und Jugendtheaterstück, welches aufgrund der COVID-19 Pandemie zu einer digitalen Inszenierung umgewandelt wurde. Das Stück „Sag doch was!“ hinterfragt Meinungs- und Gesellschaftsbilder und ermutigt Kinder und Jugendliche zu sich selbst und ihren Ansichten zu stehen.
Nach Abschluss ihres FSJ Kultur begann Vivien ein Studium der Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Nebenher geht sie weiterhin ihrer Leidenschaft zum Schreiben nach und so entspringen manchmal Lyrik, Theaterstücke, Kurzgeschichten oder Texte, welche sich nicht so richtig in eine bestimmte Textgattung eingliedern lassen, ihrer Feder. Sie schwankt zwischen harter Realität und verträumten Visionen, welche zum Nachdenken anregen sollen.