Welterfahrung und Selbsterkenntnis im Heinrich von Ofterdingen.
von Denise Kelm
Unsere moderne Kulturwelt kennt viele Arten von Künstler – wir sind vertraut mit schillernden Diven wie Madonna und Lady Gaga, politisch engagierten Kreativen wie Juli Zeh und Ai Weiwei, aber auch mit melancholischen und grüblerischen Persönlichkeiten wie Lana Del Rey und Sarah Kane. Das Künstlerideal der Romantik hingegen, wie Novalis es in seinem stilprägenden Romanfragment zeichnet, ist kaum auf Show und einen Kult um seine Persönlichkeit ausgelegt. Hier liegt der Schatz des Künstlers im verborgensten Inneren – in der Fusion des Erkennens und des Empfindens – oder ist nicht auch das nur eine intellektuelle Weise, um das eigene Ego zu kreisen?
Heinrich von Ofterdingen (1800) erzählt uns von der Reise Heinrichs von Eisenach nach Augsburg. Angeregt wird die Reise durch den intensiven Traum von einer blauen Blume – dem zentralen Motiv der deutschen Romantik, die in dem Schlafenden die Sehnsucht nach Liebe weckt und ihm das Gesicht seiner zukünftigen Frau Mathilde prophezeit. Wie in einer Vision, wie im Rausch wird dem jungen Dichter seine Sehnsucht in diesem mystischen Traum offenbart.
In Begleitung einer geselligen Gruppe durchreist er ein Deutschland in mittelalterlicher Szenerie. Schritt für Schritt erfährt er das Land – und Meile für Meile erfährt er Selbsterkenntnis – durchs Wandern, durch Begegnungen und durch die Reflexion seiner Identität. Endlich erkennt er im Kern seiner nachdenklichen Natur seine Bestimmung zum Dichter und entfaltet sein ganz eigenes Künstlerideal.
Der Dichter als Mystiker
Der Protagonist, der wandernde und grübelnde Heinrich wird, noch bevor ihm selbst seine Eignung zum Dichtertum recht einleuchtet, von den mit ihm reisenden Kaufleuten in seinem Potenzial erkannt:
„Es dünkt uns, ihr habt Anlage zum Dichter. Ihr sprecht so geläufig von den Erscheinungen eures Gemüths, und es fehlt Euch nicht an gewählten Ausdrücken und passenden Vergleichungen. Auch neigt Ihr Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter“.
Erkennbar wird diese Veranlagung zum Dichter demnach in erster Linie an der Sprachgewandtheit und Kreativität, welche sich durch passende Vergleiche äußert, die der junge Heinrich spontan aufstellt. Zudem zeichnet er sich dadurch aus, dass er von seinem Innenleben mit Selbstverständlichkeit als von etwas spricht, das er gut kennt. Hier wird bereits eine intensive Selbstreflexion deutlich: Der Dichter ist jemand, der seine Empfindungen auszudrücken vermag, der sich demnach selbst erforschen und kennenlernen muss. Hinzu kommt noch das Wunderbare, was auf eine gewisse Transzendenzfähigkeit hindeutet – Heinrich richtet den Blick über die Grenzen der materiellen Welt hinaus. Neben der Sensibilität gegenüber der eigenen Innerlichkeit benötigt der Dichter folglich einen Sinn für das Übernatürliche – oder auch das Besondere und Außergewöhnliche, wie eben die mystische Blaue Blume.
Der Dichter als Telepath
Es ist alles innerlich, und wie jene Künstler die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, so erfüllt der Dichter das inwendige Heiligthum des Gemüths mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedanken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und giebt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen.
Der Genuss der Dichtkunst wird von der sinnlichen Wahrnehmung abgegrenzt, da sie keine ästhetischen Gegenstände schafft, an denen sich Augen und Ohren erfreuen. Stattdessen stammt die Dichtung nicht nur aus dem tiefsten Inneren, sondern zielt beim Leser auch auf den Geist, von Novalis blumig als Heiligthum des Gemüths beschrieben. Damit meint er die Fantasie und die Vorstellungskraft, die durch die Worte des Dichters aktiviert wird. Sie ist der Ort im Kopf des Lesers, wo beim Verfolgen der Dichtung eine unbekannte herrliche Welt sich bildet. Wir alle kennen dieses angenehme Phänomen: Völlig absorbiert von der spannenden Geschichte entsteht eine ganze Welt in unserem Kopf, in der die Charaktere der Erzählung sich so selbstverständlich tummeln, als hätten wir sie gerade an der Straßenecke getroffen.
Der Dichter ist demnach jemand, der geistigen Reichtum schöpft, der jedoch auch gefällig (also angenehm) sein soll. Das bedeutet, dass eine Geschichte beispielsweise einheitlich und eingängig im Stil sein sollte, sodass nichts das Versinken in ihrer Welt verhindert. Der Dichter nimmt dabei eine telepathische Rolle ein: Er schöpft aus dem eigenen Geist und bereichert durch das Medium des Wortes den Geist seiner Zuhörer, er teilt demnach seinen inneren Reichtum, indem er ihn mitteilt. Indem er selbst das Wunderbare in seinem Geist empfindet und die Eloquenz besitzt, es in Worte zu kleiden, macht er es seinen Zuhörern zugänglich und nachempfindbar. Beschrieben wird dies von den Kaufleuten als eine Art Magie, welche der Dichter beherrscht:
Eine magische Gewalt üben die Sprüche des Dichters aus; auch die gewöhnlichen Worte kommen in reizenden Klängen vor, und berauschen die festgebannten Zuhörer.
Die Worte des Dichters besitzen Bannkraft: Sie fesseln wie Magie, binden die Zuhörer fest an den Ort des Erzählens und geben sie nicht frei – bis das Ende der Geschichte erzählt ist.
Der Dichter: ein Original
Später im Romanfragment entwickelt sich das Porträt des idealtypischen Dichters noch weiter, indem es ganz vom Rest der Menschheit abgesondert wird. Der Dichter erscheint als eigener, einzigartiger Menschenschlag:
Anders ist es mit jenen ruhigen, unbekannten Menschen, deren Welt ihr Gemüth, deren Thätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer inneren Kräfte ist. Keine Unruhe treibt sie nach außen. […] Große und vielfache Begebenheiten würden sie stören. Ein einfaches Leben ist ihr Loos […]. Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn schon genug von nahen unbedeutenden Erscheinungen beschäftigt, die ihm jene große Welt verjüngt darstellen, und sie werden keinen Schritt thun, ohne die überraschendsten Entdeckungen in sich selbst über das Wesen und die Bedeutung derselben zu machen.
Der Dichter ist hier eine introvertierte Persönlichkeit, was mit seiner hohen Sensibilität einhergeht. Anregung sucht er weniger in der äußeren Welt als vielmehr in seinem Geist. Dies geht so weit, dass er große äußere Unruhe scheut, da sie gleich einer Reizüberflutung sein zartes Wesen überfordern würde. Man könnte sagen, der Dichter ist wie eine Harfe mit feinschwingenden Saiten: zupft man sanft daran, dann klingt sie sinnlich. Zerrt die Realität hingegen mit rauen Fingern kräftig an den feinen Fäden, dann wird die sanfte Harmonie des Klangs in rauem Knirschen zerstört.
Stattdessen reichen kleine, scheinbar unbedeutende Ereignisse aus, um dem Verstand Nahrung zu bieten. Indem der Dichter Heinrich über scheinbar alltägliche Ereignisse grübelt, kann aus diesen trotz ihrer Bedeutungslosigkeit für die Weltgeschichte Erkenntnis destilliert werden. Der Dichter macht überraschendste Entdeckungen. Der Verstand des Dichters ist demnach analytisch, da er sich mit dem Erlebten auseinandersetzt und zu Schlussfolgerungen kommt, die nicht offensichtlich, sondern nur durch intensives Nachdenken erkenntlich sind.
Fühlen und Verstehen
Im siebten Kapitel trifft unser Protagonist Heinrich auf ein zweites Dichteroriginal namens Klingsohr. Dieser erzählt ihm, wie er seinem Verstand die interessantesten Gedanken abringen kann:
Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich, und der Dichter wird wenig Wunder thun können, wenn er selbst über Wunder erstaunt. […] Der junge Dichter kann nicht kühl, nicht besonnen genug seyn. Zur wahren, melodischen Gesprächigkeit gehört ein weiter, aufmerksamer und ruhiger Sinn. Es wird ein verworrenes Geschwätz, wenn ein reißender Sturm in der Brust tobt, und die Aufmerksamkeit in eine zitternde Gedankenlosigkeit auflöst.
Klingsohrs Überlegungen entwickeln das Dichterbild des Romans weiter: Aller Ergriffenheit durch Träume und Visionen zum Trotz darf der Dichter nicht schwärmerisch in seinem eigenen wundersamen Erleben versinken! Ganz im Gegenteil: Trotz seiner Nähe zum Transzendenten darf er den frischen Verstand nicht verlieren. Er braucht die Fähigkeit, objektiv mit seinem Erleben umzugehen.
Was hier geschildert wird, kommt einer Vereinigung von Denken und Fühlen in der dichterischen Tätigkeit gleich. Der Dichter soll sich nicht leidenschaftlich seinen Emotionen hingeben und im Überschwang der Intensität hochtrabende Worte suchen. Solche selbstverliebte Übertreibung würde nur zum Geschwätz ausarten. Stattdessen soll der Dichter das eigene Fühlen aus etwas Distanz betrachten. Distanz aber entsteht durch analytisches, verstandesgemäßes Nachdenken über das Erlebte und Empfundene. Zwar ist das Innere und somit auch das Emotionale essenziell für das dichterische Schaffen, aber der Verstand darf nicht die Zügel aus der Hand geben. Der Verstand muss in seiner Rationalität das Empfinden beaufsichtigen wie ein kleines Kind, das zum Toben neigt. Nur so kann das Empfundene angemessen in Dichtung überführt werden.
Entsprechend ist es die Aufgabe des dichtenden Verstandes, Gegensätze zu versöhnen und daraus etwas Schönes, eben Wunderbares zu erschaffen. Das bedeutet nun: nicht nur etwas Erhabenes und Erstaunliches, sondern etwas zugleich Verstehbares und Nachfühlbares.
Die fragile Unnachgiebigkeit des Dichters
„Der Dichter ist reiner Stahl, ebenso empfindlich, wie ein zerbrechlicher Glasfaden, und ebenso hart, wie ein ungeschmeidiger Kiesel“.
Der Dichter soll feine Antennen haben, die sich nach innen richten und die Nuancen seines Erlebens detektieren. Aber dabei soll er sich diesen nicht hingeben, sondern gleichzeitig widerstandsfähig und unnachgiebig in seiner Selbstdisziplin sein. Denn das Empfundene muss geordnet werden, um sorgsam in schöne und gemessene Kunst überführt zu werden. Dabei ist der Dichter auch kein Jäger, der das Außergewöhnliche sucht, sondern er ist offen und empfänglich für Eindrücke und gewinnt seine Inspiration daraus, dass sie ihm dank seiner Aufgeschlossenheit Erkenntnisse zufallen:
Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüth, Gewand[t]heit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeit alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Thätigkeit zu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst.
Hier wird deutlich: Die Außenwelt ist bedeutsam, da sie dem Denken und darauffolgenden Dichten den Anstoß gibt, sie bietet das Rohmaterial, mit dem sich der Verstand dann formend auseinandersetzt. Der Dichter gibt aber nicht einfach die äußere Welt in seiner Kunst wieder, sondern er filtert die Eindrücke, gibt seine eigenen Gedanken und Betrachtungen hinzu und formt somit Kunst aus seinem äußeren und inneren Erleben. Es ist ganz wie beim Töpfern: Der Ton ist schon da, aber es sind die Hände des Kunsthandwerkers, die daraus eine schöne Vase formen. Für den Dichter ist die ganze Welt eine unerschöpfliche Tongrube, aus der er sich bedient und Kraft seines Verstandes die erstaunlichsten Sprachbilder schafft.
Vom Träumer zum Denker
Hier wird deutlich, wie sich das Künstlerideal Heinrichs weiterentwickelt: Zuerst sieht er sich als Träumer und Medium, das die spirituelle Botschaft der Blauen Blume empfängt. Dann macht er sich auf eine Wanderung, die gleichsam eine Reise zu seinem Selbst ist. Durch Gespräche entdeckt er seine Veranlagung zum Dichter, da es ihm gelingt, seine Zuhörer mit Worten zu fesseln und ihnen schöne Gedanken zu vermitteln. Dabei trifft er auf den Dichter Klingsohr, der ihm die Bedeutung des kühleren Nachdenkens beibringt: Nicht der Überschwang macht den guten Dichter, sondern das sprachlich gezügelte und sorgsam reflektierte Empfinden, das in Erkenntnis mündet. Der Ausgangspunkt der Dichtung ist die Welt und das Leben an sich, ihr Ursprung aber ist der offene Geist des Künstlers, der emotional und nachdenklich zugleich ist.
In Novalis‘ romantischem Künstlerideal wird der Künstler zum Spiegel und zum Medium: Er nimmt die Eindrücke des Lebens um sich herum auf, vermittelt sie durch seine Kunst an seine Mitmenschen und verwendet zur Reflexion des Lebens sein eigenes Erleben als eine Fusion von Erkennen und Empfinden, sodass Verstandestätigkeit und gefühltes Erleben gleichermaßen in das Werk des Künstlers eingehen. Keine Show, keine demonstrierte laute Persönlichkeit steht hier im Mittelpunkt, sondern die besonnenen Fantasien des empfindsamen Menschen, dessen Individualität von leiser und nachdenklicher Art ist.
Denise Kelm, geboren in Lahnstein und aufgewachsen bei Leipzig und Augsburg, studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Ethik der Textkulturen. Neben Kurzgeschichten und kreativen Texten schreibt sie auch Essays über Kunst und Literatur, wobei sie sich besonders für die Texte der deutschen Romantik und amerikanische Gegenwartsliteratur interessiert. Derzeit arbeitet sie als Volontärin bei B&L Medien in München und plant ihre Dissertation zum Thema “Das Spannungsfeld von Kunst und Politik in der Autobiografie der Gegenwart”. Besonders gerne ist sie auch sportlich in der Natur unterwegs.