Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler und Autor Adolf Muschg
von Agnes Bidmon
Was passiert, wenn die Wahrnehmung von Raum und Zeit sich auflöst, wenn Perspektiven sich verschieben und Vergangenheit und Zukunft ununterscheidbar werden, wenn also dem Menschen das Koordinatensystem seiner Existenz abhanden kommt? Wenn sich zwischen vermeintlicher Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden lässt, und sich all das mitten in einer Schweizer Kleinstadt zuträgt? Darüber und über das, was dahinter – oder eben davor, darüber oder darunter – steckt, sprach Schau ins Blau mit dem Literaturwissenschaftler und Autor Adolf Muschg.
SCHAU INS BLAU: Sie sind ja sowohl als Literaturwissenschaftler als auch als Autor tätig. Wie hat Sie diese Dualität geprägt und auf welche Art und Weise wirkt sich diese Form der Annäherung an die Gegenstände sowohl von der analytischen als auch von der intuitiven Seite in Ihren Texten aus?
ADOLF MUSCHG: Die Wurzel liegt ganz bestimmt in dem, was ich in meinem Elternhaus erlebt habe. Ich hatte einen Vater, der Lehrer war und – gemäß dem klassischen Klischee – in seinen Feierabendstunden geschrieben hat. Das waren Bauerngeschichten, für meinen heutigen Geschmack etwas zu schwarz-weiß, gut und böse, da er bekennender Christ war, aber die Kombination Lehren und Schreiben wurde mir dadurch früh eingeprägt. Ich selbst habe es dann bis zum Hochschullehrer gebracht, aber ich hatte nie das Gefühl, dass die beiden Tätigkeiten sich in die Quere kommen. Und heute, wo ich auf einige Jahrzehnte beider Tätigkeiten zurückblicken kann, würde ich sagen, in beiden Eigenschaften erzählt man Geschichten. Andere Kulturen machen den Unterschied auch gar nicht in der Schärfe, die in der deutschen Tradition liegt und wo ein Professorenroman das schlimmste war, was man einem Werk nachsagen konnte. Im Französischen ist es selbstverständlich, dass Roland Barthes oder Lacan an der Universität lehren und auch gute Schriftsteller sind. Der tiefere Grund oder die Begründung und Rechtfertigung dafür hat damit zu tun, dass man beim Schreiben sozusagen der Fiktion entbunden ist, man könne eine Methode konstruieren, mit der sich das, was einen beschäftigt, wirklich einfangen lässt. Es sind vielmehr heuristische Versuche, sich in Zeichenform einer Realität zu bemächtigen, die sowieso größer ist als wir. Das wirklich spannende am Schreiben ist, dass man beim Schreiben entdeckt, wie wenig man weiß. Das ist eine ganz unsokratische Erfahrung.
SCHAU INS BLAU: Damit sind bereits einige Schlagworte gefallen, die dem Leser auch in Ihrem aktuellen Buch Sax (2010) begegnen, wie etwa die Rolle und Funktion von Religion, das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion sowie die Frage nach der generellen Annäherungsmöglichkeit des Menschen an eine unfassbare Realität. In Ihrem Roman werden also nicht nur unheimlich viele Diskurse aufgegriffen, sondern zudem ein nahezu überzeitlicher Bogen geschlagen, indem der Beginn des Romans in der weiten Vergangenheit und das Ende in der Zukunft liegt. Somit drängt sich die Frage auf, ob ‚Sax’ ein narratives Gegenmodell zu dem von Lyotard propagierten Satz entwirft, dass mit der Postmoderne das „Ende der großen Erzählungen“ einhergehe?
ADOLF MUSCHG: Für jeden von uns fängt in der Biographie die Welt noch einmal an. Wir haben die Chance, sowohl die Odyssee als auch die Ilias und das Kamasutra und vieles mehr noch einmal zu durchleben. Insofern ist auch das Bekannte für jeden individuell wieder neu und anders. Man kann also genauso gut sagen, dass es möglich ist, dass überhaupt noch nie etwas beschrieben worden ist, wie es etwa im Malte Laurids Brigge heißt. Wir befinden uns somit zugleich in einem Zustand einer vollkommenen Leere und einer vollkommenen Redundanz. Ich möchte mich gar nicht theoretisch darüber äußern, ob es noch möglich ist, dieses oder jenes zu tun oder ob es nicht mehr möglich ist. In diesem Diskurs lauert etwas enorm Dogmatisches, das ich nicht gern habe und das auch meinem eigenen Bedürfnis des Lesevergnügens widerspricht. Erlaubt ist, was gelingt, sagt Frisch einmal.
Sax ist tatsächlich eine Art Enzyklopädie der Diskurse, es sind keine ganz neuen Diskurse, man kann sie religionsgeschichtlich, kulturgeschichtlich usw. verorten. Aber in ihrem Zusammenspiel, wie sie in uns als Personen im Lauf eines Lebens zusammenkommen und Widersprüche sowie Interferenzen erzeugen, bilden sie für mich eine Art Diskurs-Bilderteppich, bei dem ich manches nicht habe vernähen und zusammenflicken können.
SCHAU INS BLAU: Bei der Lektüre Ihres Buches beschleicht den Leser das Gefühl, dass einem die roten Fäden der Diskurse zunehmend entgleiten, dass die Wahrnehmungsmöglichkeit von Zeit und Realität immer flüchtiger wird und schließlich gänzlich auseinanderfällt. Bezeichnenderweise inszenieren Sie diese zunehmende Auflösung ja im Medium der Literatur, einem Medium, das nicht nur voraussetzt, dass sich der Leser Zeit nimmt und in den Text hineinversenkt, vielmehr thematisieren Sie in Ihrem Text auch immer wieder die Literatur selbst als ein Medium, das sozusagen Schneisen durch die lineare Zeit- und Realitätswahrnehmung schlägt, wie etwa die ‚Manessische Liederhandschrift’ oder der ‚Führer der Unschlüssigen’.
ADOLF MUSCHG: Ich suche ein Wort, in dem ich diese Brücke schlagen kann, und das Wort, das mir dazu einfällt, ist ‚Schein’. In der ästhetischen Debatte spielt der Schein eine ganz wesentliche Rolle, wenn auch eine nicht unangefochtene, denn er bringt ja aus dem frommen Mittelalter auch die Nachrede des Uneigentlichen und Unwahren mit. Wenn wir aber zum Beispiel an die klassische Ästhetik denken, hat Schiller den Schein gewissermaßen als die dem Dichter aufgegebene Form des Realitätsumgangs gerechtfertigt. Goethe hat in Die Natürliche Tochter ein versöhnliches Modell von Schein und Realität vorgeschlagen und bei Nietzsche gibt es dann die frivole, steile Diskussion des Scheins, indem er schreibt, dass der Schein im Grunde das Glänzendste ist, was der Zivilisation gelingt. Und wenn ich jetzt noch einmal eine andere semantische Dimension beschreite, dann denke ich etwa an den Hinduismus, wo es ganz selbstverständlich ist, dass das, was uns als Realität begegnet, illusionär ist. Das ist die Grundlage der Existenz, das ist ‚Maya’. Und solange wir uns in diesem Gestrüpp des Scheins bewegen, leiden wir und fallen gewissermaßen auf unsere eigenen Illusionen herein. Und darum wäre die Befreiung von diesem Leiden das höchste der Ziele, man arbeitet sozusagen die eigene Täuschbarkeit über mehrere Leben ab, bis man das Karma los wird und ins so genannte ‚Nichts’ eingeht. Dafür haben wir natürlich gar keine Kategorien – mehr, muss man sagen, denn die mittelalterliche Mystik hatte sie noch. So lange ich schreibe habe ich also scheinbar noch viele Wiedergeburten vor mir und ich versuche mir dieses Karma ganz offensichtlich auch ein wenig zu vermehren, um nicht so bald beim ‚Mukti’ zu landen. Wenn man also kein Kantianer und kein Metaphysiker ist, stößt man eigentlich überall – nicht nur in der Dichtung – auf den Scheincharakter der Realität, ohne dass man sie damit abwertet oder sie dadurch unverbindlich werden muss.
SCHAU INS BLAU: Eine der zahlreichen gegenläufigen Bewegungen in Ihrem Text ist ja das permanente Fortschreiten der Zeit bei einer gleichzeitig gefühlten Zeitlosigkeit, einem Stillstand, und somit letztlich die Umsetzung des nietzscheanischen Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Schließlich gibt es ja nicht nur unendlich viele Wiedergänger in diesem Buch, auch die kollektive Geschichte und die Ideologien wiederholen sich eigentlich in allem oder sind im gesamten Verlauf des Textes als Gespenster anwesend, vom Kommunismus über den Totalitarismus bis hin zur überbordenden und nicht mehr beherrschbaren Medialität. Welches Geschichtsverständnis liegt Ihrem Roman also zugrunde?
ADOLF MUSCHG: Wenn man es abstrakt sagt, steht im Zentrum des Romans eine bestimmte Befragung von Raum und Zeit. Der Roman spielt mit einer Reihe von Raummodellen und dasselbe gilt für die Zeit. Das berühmte String-Universum, wenn ich mir darunter überhaupt etwas vorstellen kann, bedeutet ja, dass ich von der keineswegs zwanghaft offenbar nur in eine Richtung ablaufenden Zeit irgendwo einen Querschlag sozusagen in eine historisch ganz andere Zeit schlagen kann, ohne dass das als Science- oder History-Fiction erscheint, da uns diese Trennwand einfach undurchdringlicher erscheint als sie möglicherweise ist. Und es gab ja im Laufe der Geistesgeschichte schon immer ernsthafte Überlegungen, die sich mit solch metaphysischen Dingen beschäftigt haben, wenn man zum Beispiel an die romantische Medizin denkt. Das ist dann natürlich alles abgeräumt worden von der so genannten modernen Wissenschaft, der positiven Medizin, wobei es auch da ein Weiterspuken gibt bei Freud und bei Jung, da ist in der Walpurgisnacht der Spuk eigentlich wieder voll ausgebrochen. Die Zeit läuft also nicht einfach nach einem Muster ab, sondern sie ist ein unglaublich eigentümliches Medium. Die Zeit ist ein Medium – wiederum ein spiritistischer Begriff übrigens –, das wahrscheinlich für ganz andere und weitere Dinge leitend ist, als wir uns vorstellen können. Damit zu spielen, dass man dann auch sozusagen in seine Vorzeit durchbricht, was die reine Chronographie oder die Dimensionen der Evolutionsgeschichte angeht, ist spannend. Ich kann es an einem anderen Beispiel illustrieren: Die Astronomie spielt im Text ja eine Rolle, und dass die Astronomie, je mehr wir ins Monströse und Große geraten, dass das unendlich Große immer mehr dem unendlich Kleinen zu gleichen beginnt und dass wir in beiden Richtungen an kein Ende kommen, weder durch das Teleskop noch durch das Mikroskop, das ist für mich eine ganz fundamentale Infragestellung eigentlich aller unserer Prämissen. Es ist, als hätten wir unsere kulturelle Vermessung irgendwo an ganz falschen Daten aufgemacht, und daraus speist sich der Verdacht, dass nicht die Geister in der falschen Welt leben, sondern wir.
SCHAU INS BLAU: Dieser Verdacht nimmt ja auch in Ihrem Text eine ganz zentrale Stelle ein, wenn man an den philosophischen Exkurs denkt, den der nick-name „Caspar“ alias Diebold ins Netz gestellt hat und der diese Überlegungen noch einmal aufgreift.
ADOLF MUSCHG: Ja, genau, ebenso wie die Frage der Perspektive. Wenn man beispielsweise das Umschlagbild des Buches betrachtet, brauchen Sie ja nur diese berühmte glänzende Silberröhre, d.h. diese spiegelnde Folie darauf zu setzen, dann sehen Sie diese verzerrte Mannsfigur kompakt. Das ging mit der Erfindung der Form, der Verbindlich-Erklärung der Perspektive einher, denn die mittelalterlichen Maler haben das ja nicht etwa nicht gekonnt, sondern es hat sie nicht interessiert, sie hatten andere Gewichte im Bild. Als dann die Perspektive erfunden wurde, war auch das Spiel mit der Perspektive in der Welt. Wenn Tintoretto z.B. eine Kuppel ausmalte und mit Illusion arbeitete, dann musste er sich solche Techniken aneignen, es ist schlichtes Handwerk. Und das macht einen natürlich – ob intendiert oder nicht – darauf aufmerksam, wie perspektivisch unsere Weltbilder sind. Alle, nicht nur diejenigen des Malers oder desjenigen, der bewusst damit spielt. Nehmen wir das Beispiel der Sternwarte aus dem Buch: diese Sternwarte ist ja von innen viel geräumiger als sie von außen sein kann. Hier spiegelt sich eine zugleich naive Erfahrung, die jeder von uns kennt: die Stube, in der wir alle aufgewachsen sind, war von innen gesehen eine Welt und von außen betrachtet wird es dann ein immer kleineres Haus im Lauf des Lebens. Insofern ist das eine ganz existentielle Erfahrung. Diese Relativität der Perspektive in die Relation einer Geschichte zu übertragen ist eine sehr abstrakte Formel für das, was ich da versucht habe. Wie erzählt man in einem raumzeitlichen Nicht-Kontinuum so eine Geschichte?
SCHAU INS BLAU: Ein ganz anderes sehr zentrales Thema des Buches ist der Konnex von Geschlechterbeziehung, Macht, Sexualität und Gewalt, die man übereinander ausübt und die dann auch zu einer Unmöglichkeit von gelingenden Liebesbeziehungen führt. Inwiefern war das ein reizvolles Thema gerade für Sie als einem Autor, der ausnehmend viele Liebesgeschichten geschrieben hat?
ADOLF MUSCHG: Ich glaube ja, allen Lebenden macht zu schaffen und den Toten hat es auch zu schaffen gemacht, dass es „den“ Menschen nicht gibt. Er ist geschlechtlich definiert und wie stark die Geschlechter wiederum biologisch definiert sind, das ist eine zwar fundamentale, aber zugleich auch niemals zu entscheidende Frage – wie viel daran ist kulturell, eben perspektivisch? Wenn ich also in eine Mädchenperspektive geboren werde etwa um 1810, kommt es enorm auf die soziale Schicht an, was für Aussichten ich habe und wie ich meine Aussichten auch selbst beschränke, um nicht in Konflikte zu geraten. Das ist heute ein bisschen anders, wo das Spektrum des möglichen Lebensangebotes größer aussieht, aber im Grunde dann auch die Angst, es wahrzunehmen, entsprechend größer geworden ist. Manchmal leben wir tatsächlich die ‚Fiktion Mensch’ und sie ist tragfähig, als gäbe es die Geschlechterdifferenz nicht, ein anderes Mal quält uns die Differenz, ein anderes Mal spielen wir mit ihr usw. Also es ist ein gutes Motiv, um an ihm zu zeigen, wie – Gott sie Dank oder auch leider – unglaublich wenig definiert unsere Zivilisation ist und wie sie eigentlich für jede Generation oder auch Person sie eigentlich einer Neudefinition bedarf und dass diese Definitionen sich, wenn das Leben die Chance hat, sich auch innerlich zu entwickeln, enorm verändern werden. Man weiß so wenig, dass man eigentlich alles immer wieder neu in Frageform erzählen möchte und sich bei Autoren und auch sich selber die nötige Gewissenhaftigkeit und den Mangel an Frivolität wünscht, die zu diesem Thema gehören – aber andererseits ist es oft auch nur die Frivolität, die einen rettet.
SCHAU INS BLAU: Auch die Verbindung und Verknüpfung von Sexualität und Religion spielt ja in diesen Themenkomplex mit hinein. Zum einen gibt es eine Sakralisierung von Sexualität, wenn Jacques in der geborgten Kutte seines Freundes Hubert mit den philippinischen Frauen jeden Dienstag ritualisiert seine sexuellen Phantasien auslebt und am Ende auch in dieser Kutte stirbt – oder eben auch nicht stirbt, wer weiß das schon genau. Zum anderen durchzieht das Motiv der Trinität zahlreiche Beziehungskonstellationen im Roman. Welche Rolle spielen in diesem sehr metaphysischen Buch also diese Tabubrüche einerseits und die religiösen Anspielungen und Zitate andererseits?
ADOLF MUSCHG: Die Trinität ist ja eine sehr interessante Antwort auf Ihre Frage. Im Gegensatz etwa zu den rein monotheistischen Religionen wie dem Judentum etwa oder dem Islam hat man diese Dreieinigkeit erfunden. Es wurde also eine Prozesshaftigkeit in Gott verlegt, die die Konstellation Vater, Sohn und Heiliger Geist zum Spielmaterial macht, beweglich macht und in Bewegung zeigt. Das heißt offensichtlich, dass man in der reinen Gottesphantasie unvereinbare Dinge vereinbaren muss, und auch die Sexualität kann man aus dem göttlichen Zentrum nicht völlig ausklammern, sie kommt dann sozusagen unter allen möglichen Larven wieder herein. Man hat den Heiligen Geist ja oft weiblich dargestellt und seine Stellvertretung übernimmt die Mutter Gottes. Bei den Katholiken wird sie so fast wieder zur ‚magna mater’, da ist der Marienkult wichtiger als der Jesuskult.
Der Tabubruch ist somit also schon in der Notwendigkeit der Sache angelegt. Ich muss mir Gott offenbar trinitarisch, also dreieinig, vorstellen, wogegen sich ja einige Konzilväter und andere energisch gewehrt haben. Für mich ist es ein Versuch, die theologisch sehr unbequeme Wahrheit darzustellen, dass die wichtigsten Dinge polar und also stets dem Anderen entgegengesetzt sind. Dass, um es extrem zu sagen, Gott und der Teufel, oder, um es neutraler zu formulieren, schwarz und weiß zusammengedacht werden müssen wie Leben und Tod, ist ein für alle monistischen Religionen ketzerischer Gedanke. Diese Dynamik in Gott selbst zu verlegen, eine mühsam gebändigte und domestizierte Dynamik, kommt für mich in dem Begriff der Trinität zum Ausdruck. Im Grunde ist es ja monströs, was da passiert: Gott wird Mensch, darf dann aber nicht wirklich sündhaft sein, und schließlich opfert Gott seinen Sohn und tut das für unsere Sünden. Kierkegaard hat daher auch immer das Skandalöse des Christentums stärker hervorgehoben als das Andächtige. Jedes Element dieses Prozesses ist natürlich Nachfragen unterworfen und die Orthodoxie versucht, genau diese Fragen immer zu unterbinden und die Literatur kann nicht anders, glaube ich, als sie zu stellen. Man will in der Religion nicht allzu viel Bewegung, jedenfalls die Institution will sie nicht, und vor allem nicht im Zentrum. Und in Sax geraten gewissermaßen all diese Konstrukte ins Rutschen.
SCHAU INS BLAU: Das kulminiert in der Szene, in der Hubert Achermann gegen Ende auf Adriana trifft, die ja wiederum in einem trinitarischen Konstrukt mit Gregor und Diebold situiert ist. Zudem spielen hierbei dann auch noch einmal die Literatur und die Imaginationskraft selbst eine ganz entscheidende Rolle, indem es heißt, dass das eigene Leben den Text schreibt und der Text das eigene Leben. Somit übernimmt dieses Zusammenspiel von Literatur, Religiosität und Sexualität eine unheimlich identitätsbildende und zugleich auch identitätszerstörende Funktion, denn diese Szene ist auf eine sehr surreale, entrückte Weise ja eine sehr grausame Szene.
ADOLF MUSCHG: Manchmal hilft es wirklich nur, sich in die finsteren Ecken seiner Seele zu begeben und die schlimmste der vorstellbaren Möglichkeiten auszudrücken. Die Szene, die Sie gerade beschreiben, ist so eine Szene, bei der ich das Gefühl habe, ich bin auch an die für mich selbst erträgliche Grenze gegangen und ich glaube, das gehört zum Testfall Schreiben. Ob es dann klug ist, das so stehen zu lassen, ist eine andere Frage. Ich habe gelernt, dass man in diesem Fall natürlich mit sehr viel weniger sehr viel mehr hätte bringen können. Ich hätte mich nur auf eine so genannte Geschichte konzentrieren müssen. Aber das war jetzt einfach einmal der wahnsinnige Versuch der Umsetzung der Theorie des jungen Lukács, dass der Roman eigentlich die Pflicht hat, die ganze Welt zu zeigen. Und die ganze Welt zeigen heißt zeigen, dass sie nicht ganz ist.
SCHAU INS BLAU: Lieber Herr Muschg, wir danken Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch.
Adolf Muschg wurde 1934 als Sohn von Adolf Muschg senior (1872–1946) und seiner zweiten Frau in Zollikon, Kanton Zürich/Schweiz geboren. Er studierte Germanistik, Anglistik sowie Philosophie in Zürich und Cambridge und promovierte über Ernst Barlach. Von 1959 bis 1962 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Zürich, dann folgten verschiedene Stellen als Hochschullehrer, unter anderem in Deutschland, Japan und den USA. Von 1970 bis 1999 war er Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Adolf Muschg ist seit 1976 Präsident der Akademie der Künste Berlin, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Für seine Texte erhielt Muschg zahlreiche Preise und Auszeichnungen wie den Großen Literaturpreis der Stadt Zürich (1984), die Erich Fried Ehrung für sein Lebenswerk (1994), den Büchner Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1994), den Grimmelshausen Preis (2001) und noch viele mehr. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Essays, Erzählbände und Romane, darunter u.a. Gegenzauber (1981), Leib und Leben (1982), Empörung durch Landschaften (1988), Gehen kann ich allein und andere Liebesgeschichten (2005), Eikan, du bis spät (2005), Kinderhochzeit (2009) und Sax (2010). Adolf Muschg lebt in Männedorf bei Zürich.